Chul-Woo Lee: Harmonisches Leben
Rezensiert von Marvin Bucka, 28.10.2024

Chul-Woo Lee: Harmonisches Leben. Überlegung zur Verhältnisbestimmung von Glück und Moral im Anschluss an Immanuel Kant.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2023.
324 Seiten.
ISBN 978-3-428-18702-7.
D: 99,90 EUR,
A: 102,70 EUR.
Reihe: Begriff und Konkretion - 10.
Thema
Mit seiner Studie über das Verhältnis von Glück und Moral behandelt Chul-Woo Lee eine der zentralen philosophischen Fragen, die bereits bei Platon verhandelt wird: Führt ein moralisches Leben zur Glückseligkeit oder schließen sich Glück und Moral aus? Mit Immanuel Kant arbeitet Lee ein dissonant-harmonisches Verhältnis von Glück und Moral heraus. Das heißt, ein moralisches Leben führt nicht automatisch zur Glückseligkeit. Daher ist das Verhältnis einerseits dissonant. Andererseits ist es doch harmonisch, weil für Kant ein moralisches Leben die notwendige Bedingung für Glückseligkeit darstellt. Glück und Moral verweisen also aufeinander und können sich letztlich entsprechen. Denn im Rahmen des höchsten Guts, wie Kant es verhandelt, werden Glück und Moral harmonisch aufgehoben.
Autor
Chul-Woo Lee lehrt Philosophie an der Keimyung-Universität in Daegu, Südkorea. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik, politische Philosophie und Religionsphilosophie. „Harmonisches Leben“ ist seine Dissertationsschrift, die er an der Eberhard Karls Universität in Tübingen unter der Betreuung von Otfried Höffe verfasst hat.
Aufbau
Lee gliedert seine Untersuchung in zwei Teile. Im ersten Teil untersucht er Kants dissonante Beschreibung des Verhältnisses von Glück und Moral. Schließlich wird Kant meist als Denker verstanden, der Neigungen aus dem Geltungsbereich der Moral ausschließt und zum moralischen Rigorismus neigt. Dies entkräftet Lee, um sich im zweiten Teil der harmonischen Verhältnisbestimmung von Glück und Moral in Kants Ethik zu widmen. Dabei untersucht er das Verhältnis von Glück und Moral in der Begründungs-, Motivations- und Sinnfrage der Ethik, um schließlich das höchste Gut als Einheit von Glück und Moral vorzustellen.
Inhalt
In Kapitel 1 „Kant über Glück und Moral: Glück kontra Moral?“ führt Lee ganz philosophisch in das Thema ein: Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Glück sprechen? Zufriedenheit oder Erfüllung? Ein momentanes Glück oder ein Glück, das dauert? Und schließlich: Gibt es unmoralisches Glück oder macht nur ein moralisches Leben glückselig?
Dazu stellt Lee vier Modelle zum Verhältnis von Glück und Moral vor (38 ff.):
- Unvereinbarkeitsthese: Moral führt nicht zum Glück – bis dahin, dass sie sogar Unglück bringen kann, weil sie den eigenen Interessen widerstrebt (Amoralismus).
- Dissonanzthese: Moral führt weder zu Glück noch Unglück – aber immerhin kann Moral ein geeignetes Mittel zum Glück sein beziehungsweise kann moralisches Handeln selbst Glücksgefühle bereiten.
- Harmoniethese: Moral führt meistens zum Glück – sie wird als notwendige Bedingung des Glücks begriffen, ist aber nicht schon mit diesem identisch. Zur Glückseligkeit braucht es vielmehr zusätzliche Faktoren.
- Koinzidenzthese: Moral führt unbedingt zum Glück – eine moralische Lebensführung stellt schon in sich ein glückliches Leben dar (Eudaimonismus-Lehre).
Anschließend antwortet er mit Kant auf diese Fragen: Erstens vertrete Kant ein „philosophisch-inklusives Konzept“ der Glückseligkeit. Das heißt, die Tugend selbst reiche nicht zum Glück. Dazu brauche es auch äußere Güter und Glücksgefühle. Daher könne man Kants Ethik als Dissonanzthese beschreiben. Entsprechend werde er in der Sekundärliteratur als Denker beschrieben, der mit der antiken Eudaimonie-Lehre bricht, weil er die Moral allein auf dem Moralgesetz begründe und dieses vom Glück unabhängig bestimme. Allerdings werde Glück bei Kant im Kontext der Untersuchungen zum höchsten Gut doch ethisch relevant. So scheint Kant also durch die Harmoniethese beschreibbar zu sein.
Daher lasse sich mit Kant ein dissonantes Harmoniemodell entwickeln: „Die Moral führt nicht immer und nicht unbedingt, jedoch letztlich zum umfassenden empirischen Glück als höchstes Gut, das, als Folge der moralischen Handlung, durch die Moralität vermittelt wird“ (53). So gesteht Lee zwar zu, dass Kant gewissermaßen mit dem Eudaimonismus bricht, da er seine Moral autonom, das heißt im guten Willen begründe. Nicht Glückseligkeit, sondern allein der gute Wille solle also die Moral begründen. Allerdings bedeute das nicht, wie häufig angenommen, dass das Glück darum moralisch irrelevant werde. Das zeigt Lee, indem er Kants Kritik am Eudaimonismus kontextualisiert: Denn Kant wolle vor allem die Einheit von Glück und Moral aufbrechen. Es bestehe kein Entsprechungsverhältnis zwischen beiden und das gute Leben könne nicht schon im Vorhinein mit dem moralischen Leben gleichgesetzt werden: „Für Kant bezeichnet das moralisch gute Leben also ein würdiges, ein ‚oberstes‘ gutes Leben, aber noch nicht ein glückliches, ‚vollendetes‘ gutes Leben“ (76).
In Kapitel 2 „Kants Verhältnisbestimmung von Glück und Moral in seinem autonomen Moralsystem“ will Lee dann zeigen, „dass es ein umfassendes Moralsystem bei Kant gibt, in dem Glück und Moral miteinander verbunden sind“ (85). Dafür arbeitet er sich chronologisch durch Kants Schriften, beginnend mit den „Vorlesungsschriften über Moralphilosophie“ bis hin zu den drei Kritiken. Dabei zeigt er, dass man drei ethische Ebenen unterscheiden und differenzieren müsse, auf welcher Ebene die Frage nach der Glückseligkeit gestellt werde:
- Begründungsfrage: „Was ist das moralisch Gute?“ (122) – Hier vertrete Kant die These, dass das moralisch Gute allgemeingültig sein solle und daher nur im guten Willen begründet werden könne.
- Motivationsfrage: „Was bewegt mich, gemäß dem moralisch Guten zu handeln?“ (123) – Hier führe Kant das moralische Gefühl als Achtung für das Gesetz an, das allein zum moralischen Handeln motivieren könne.
- Sinnfrage: „Was bringt das Tun des moralischen Guten aus dem moralischen Motiv des Handelnden mit sich?“ (124) – Hier gehe es nicht um die konkrete Motivation zum moralischen Handeln sondern um einen „Lebensorientierungspunkt des menschlichen Daseins im Ganzen“ (124). Die Sinnfrage beschreibe also die übergeordnete Ausrichtung meines Lebens, den Zweck meines Tuns. Und erst hier werde bei Kant die Frage nach dem höchsten Gut gestellt.
Mit den drei Fragen untersucht Lee dann jeweils den Zusammenhang von Glück und Moral.
In der Begründungsfrage der Moralität untersuche Kant, was das moralisch Gute sei und begründe es im guten Willen. Die Glückseligkeit werde damit von der Begründung der Moral ausgeschlossen. Allerdings stehe der gute Wille der Glückseligkeit darum nicht kategorial entgegen, sondern er sei selbst der „moralische Maßstab der Glücks- und der Tugendgüter“ (133). Der gute Wille entscheide bei Kant also über die „Glückswürdigkeit“. Glückseligkeit sei damit auch in Begründungsfragen auf Moral verwiesen, denn der gute Wille sei die notwendige Bedingung für das höchste Gut, in dem die Glückseligkeit verortet ist. Dies zeige sich auch darin, dass Glückseligkeit bei Kant den Status einer indirekten Pflicht erhalte. Insofern etwa ein Mangel an Glücksgütern moralisches Handeln erschwere, sei man indirekt verpflichtet, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen. Nur wenn es mir innerhalb gewisser Grenzen gut gehe, könne ich moralisch handeln. Daher sei Glückseligkeit in Fragen der Begründung indirekt relevant; allerdings mit der Einschränkung, dass Glücksgüter nur innerhalb moralischer Grenzen befördert werden dürften. Lee kommt zu dem Schluss, „dass durch die Glücksgüter die Tätigkeit des guten Willens konkretisiert werden kann“, dass aber „der gute Wille die notwendige Bedingung für die Beförderung der eigenen Glückseligkeit ist“ (169). Glückseligkeit werde also im engeren Sinn aus der ethischen Begründungsfrage ausgeschlossen, spiele aber indirekt weiterhin eine wichtige ethische Rolle.
In der Motivationsfrage der Moralität untersuche Kant, was die Triebfeder moralischen Handelns sei und führe diese auf die Achtung für das moralische Gesetz zurück. Allerdings habe diese Achtung, wie Lee betont, eine Doppelfunktion: „Einerseits hat sie als moralische Triebfeder die Stellung und Funktion als Motivationsquelle und andererseits die der Quelle der Glückswürdigkeit im höchsten Gut“ (176). Diese doppelte Funktion gestalte sich wie folgt.
- Achtung als Motivationsquelle: Achtung für das moralische Gesetz sei keine bloß empirische Neigung, sondern „ein rationales, apriorisch begründetes Gefühl als Wirkung des moralischen Gesetzes“ (183). Achtung sei also gewissermaßen mehr als ein Gefühl, denn sie gehe mit dem „Bewusstsein der Willensbestimmung durch das moralische Gesetz einher“ (191). Weil ich um das moralische Gesetz weiß, weiß ich also was von mir verlangt wird. Doch dieses Bewusstsein allein motiviere mich nicht zum Handeln. Sondern dafür brauche es ein konkretes Gefühl, also eben die Achtung für das moralische Gesetz, die zwar aus dem Bewusstsein desselben resultiere, aber selbst kultiviert und gefördert werden müsse.
- Achtung als Quelle der Glückswürdigkeit: Die Achtung für das moralische Gesetz sei die notwendige Bedingung für Glückseligkeit. Wer das moralische Gesetz nicht achte, könne also nicht glückselig sein. Aber, und das sei eine der philosophischen Erkenntnisse Kants, die Achtung für das moralische Gesetz führe nicht schon von selbst zur Glückseligkeit. Sie bedinge nur die „Glückswürdigkeit“, das heißt, die Achtung für das moralische Gesetz stelle nur die Möglichkeit her, glückselig zu sein.
In der Sinnfrage der Moralität untersuche Kant schließlich, was der übergeordnete Zweck moralischen Handelns sei und stelle das höchste Gut heraus. Das höchste Gut umfasse nun sowohl Glück als auch Moral: „Das höchste Gut als vollendetes Gut ist somit kategorial ein umfassendes, philosophisch-inklusives Glückskonzept, in dem unter dem prinzipiell-normativen Vorrang der Moralität gegenüber der Glückseligkeit beide miteinander in Harmonie stehen“ (238). Mit dem höchsten Gut zeige sich also, dass Kant im Gegensatz zur antiken Eudaimonie-Lehre Tugend und Glückseligkeit begrifflich voneinander unterscheide, beide aber im höchsten Gut harmonisch wieder aufhebe. Lee interpretiert das so, dass nach dem höchsten Gut zu leben eine „philosophische Lebenskunst“ beschreibe, die bei Kant aber mit einem „praktischen Glauben“ zusammenhänge (257).
Daher untersucht erabschließend das höchste Gut in Bezug auf Kants Postulatenlehre, also in Bezug auf das Postulat der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Beide Postulate ließen sich für Kant nicht theoretisch beweisen, seien aber eine notwendige praktische Grundlage ethischen Handelns. Und sie seien dann jeweils ethisch relevant:
- Denn das Postulat der Existenz Gottes verbürge für eine Verbindung von Glück und Moral. Es liege nicht in der eigenen Hand, ob das moralische Leben glückselig macht. Erst der praktische Glauben an Gott gewährleiste, „dass die Glückseligkeit als Folge der autonomen Moral nicht auf einer pragmatischen oder fatalistischen Absicht, sondern allein auf dem guten Willen basiert“ (287).
- Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele verbürge dafür, dass man tugendhaft handeln kann. Denn als zeitlich begrenztes Wesen könne man den Anforderungen der Tugend nicht gerecht werden. Die Unsterblichkeit der Seele sei „die notwendige Bedingung für die vollständige Erfüllung des moralischen Gesetzes“ (283).
So zeigt Lee, dass sich die Ethik Kants vom höchsten Gut aus betrachtet „nicht in der Theorie des moralischen Guten [erschöpft], sondern sie kann auch als eine Glückswürdigkeitslehre bezeichnet werden […]. Hierbei wird nämlich durch die Existenz Gottes die Glückseligkeit als Folge der Moralität garantiert, sodass diese nicht allein glückswürdig, sondern vermittels Gottes auch glücklich macht. In diesem Sinne kann jene Glückseligkeitslehre genauer die Lehre von der glückswürdigen Glückseligkeit genannt werden“ (287). Erst mit den Postulaten erfülle sich diese Lehre vom höchsten Gut als umfassende Lehre über die ethische und darum glückselige Lebensführung.
Lee beschließt seine Analyse mit einem Ausblick. Mit Kant lasse sich zeigen, dass der Sinn menschlicher Lebensführung im moralischen Handeln bestehe und dass man praktisch annehmen könne, dass die moralische Lebensführung zur tiefen Glückseligkeit führen werde. Ob sich das höchste Gut als Einheit von Glück und Moral letztlich einstelle, liege aber nicht in der eigenen Hand. Daher beschreibt Lee das Verhältnis von Glück und Moral als ‚dissonant harmonisch‘, da „die autonom-moralische Handlung nicht immer und nicht unbedingt zum glücklichen Leben führt“ (307). Als „nächste philosophische Aufgabe“ formuliert Lee, das kantische Modell gegen aktuelle hedonistische Konzeptionen des guten Lebens zu verteidigen und es dadurch weiter zu konkretisieren.
Diskussion
Mit seiner Dissertationsschrift über das Verhältnis von Glück und Moral bei Immanuel Kant bietet Chul-Woo Lee eine detaillierte philosophische Auseinandersetzung über eine so spannende wie vielfältige Fragestellung. Lässt sich moralisches Handeln über Glückseligkeit begründen? Kann das Streben nach Glück moralisch motivieren? Und was bringt moralisches Handeln überhaupt? Anhand dieser drei Fragen, der Begründungs-, Motivations- und Sinnfrage der Moral erhellt Lee mit Kant das ganze Spektrum des ethischen Denkens. Das Anliegen, diese Fragen auf ihr Verhältnis zur Glückseligkeit hin zu untersuchen, führt diese dezidiert philosophische Analyse immer wieder über akademische Grenzen hinaus. Insbesondere wenn Lee die Sinnfrage der Moral mit Debatten zur Lebensführung verbindet, wird seine Analyse in die Lebenswelt der Leser:innen integrierbar und so auch für nicht-akademische Philosoph:innen relevant. Immerhin untersucht Lee die Frage, was es bringt, an sich den Anspruch zu stellen, ein moralisches Leben zu führen. Bringt das nicht nur Nachteile, weil ich im Umgang mit Anderen ständig zurücktrete, ihnen den Vorrang lasse, mehr auf sie achte als auf mich? Ist moralisches Leben nicht bloß entbehrungsreich und selbstverneinend? Lee zeigt mit Kant, dass moralisches Leben reichhaltig sein kann, weil man auf eine tiefe Glückseligkeit hoffen darf. Es kann erfüllend sein, moralisch zu leben.
Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um eine akademische philosophische Arbeit. Die Argumentation wird nicht empirisch und anhand konkreter Lebenssituationen geführt. Den lebensweltlichen Bezug muss man sich beim Lesen immer wieder selbst herstellen. Denn Lee bleibt seinem hermeneutischen Anspruch treu, das Verhältnis von Glück und Moral bei Kant zu untersuchen. Diese philosophische Arbeit leistet er auf höchstem Niveau. Indem er die Analysen Kants immer wieder kontextualisiert, kann er auch kanonische Interpretationen entkräften. Das Bild des streng moralistischen Denkers, der jede Neigung und Glückseligkeit aus der Ethik ausschließt, wird so als falsch herausgestellt. Lee zeigt, dass Kant die Glückseligkeit zwar von der Begründung der Moral trenne und mit der antiken Eudaimonie-Lehre breche. Aber das heiße nicht, dass Glückseligkeit dadurch moralisch irrelevant würde, sondern es diene Kant lediglich dazu, sowohl den Amoralismus zu kritisieren als auch die Idee, dass ein moralisches Leben per se glückselig ist (76). Auch bezüglich der Abstraktion von Neigungen kann Lee zeigen, dass es Kant nicht um moralische Akteur:innen gehe, die von allem abstrahierten, was ihnen wichtig ist. Es gehe nicht darum, kalt moralischen Gesetzen zu folgen. Sondern die Abstraktion von Neigungen sei eine „methodische Abstraktion“ (103), die helfe, die Moral allgemeingültig im guten Willen zu begründen.
Vor allem besticht die Arbeit dabei dadurch, dass die Gesamtheit des kantischen Werks zur Geltung kommt. Lee sieht keinen klaren Bruch zwischen den vorkritischen und kritischen Schriften, sondern fügt auch Kants frühe ethische Vorlesungen sinnvoll in die Argumentation ein. Dadurch entsteht das komplexe Bild eines so akribischen wie innovativen Denkers, der die Moral zwar auf einen neuen Boden stellt, sie nämlich im moralischen Gesetz begründet, für den darum aber Fragen nach dem guten Leben und der Glückseligkeit nicht unbeachtet bleiben. Man lernt mit Lee einen Kant kennen, der sich mit Gefühlen, Glückseligkeit und religiösen Hoffnungen befasst. Und durch die Untersuchungen zu den Vorlesungen Kants lernt man auch einen Denker kennen, der auf der Suche ist, der sich kritisch mit antiken und zeitgenössischen Positionen auseinandersetzt, um so eine eigenständige Philosophie, wie man sie dann aus den kritischen Schriften kennt, überhaupt erst herauszubilden.
Damit reiht sich Lees Buch neben jene Werke ein, die im Jahr des 300. Geburtstags Kants ein komplexes Bild des Philosophen entwerfen. Kant wird als facettenreicher Denker gezeigt, der wichtige Impulse zur theoretischen und praktischen Philosophie geliefert hat und bei dem Moral mit Fragen nach der Natur des Menschen, der Religion und der Lebensführung verbunden ist (vgl. Eytan Celiks Dissertation zum „Verhältnis von Natur und Moral“ bei Kant: https://www.socialnet.de/rezensionen/​32191.php oder Marcus Willascheks Werk über Kants „Revolution des Denkens“: https://www.socialnet.de/rezensionen/​31601.php). Zu all diesen Fragen liefert auch Lee interessante und wichtige Analysen. Diese Analysen sind genau, seine Erkenntnisse akademisch und lebensweltlich relevant. Allerdings handelt es sich eben um eine philosophische Dissertation, die daher einiges Vorwissen über Kant voraussetzt. Eine Einführung in Kant oder in die Frage nach Glück und Moral bietet Lee nicht an. Wer sich noch gar nicht oder nur wenig mit Kant befasst hat, sollte daher vielleicht zunächst zu Einführungswerken greifen, ehe die Analyse Lees gut verständlich sein kann.
Für den Abschluss seiner Untersuchung wählt Lee die Postulatenlehre Kants. Er weist darauf hin, dass sich das höchste Gut erst mit den Postulaten der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele erfülle. Damit wird die Kluft zwischen Glück und Moral also nicht geschlossen. Es bleibt ein Zweifel, den bei Kant nur die praktischen Postulate, dass Gott existiert und die Seele nach dem Tod weiterlebt, aufheben können. Der Beitrag Kants, wie Lee herausstellt, besteht darin, diese Kluft erst aufzumachen. Er verwirft ein Entsprechungsverhältnis von Glück und Moral, sodass es nicht in Menschenhand liegt, das höchste Gut zu erreichen. Man kann sein Leben nach dem höchsten Gut, der Einheit von Glück und Moral, ausrichten. Aber ob sich dieses höchste Gut erfüllt, bleibt offen. Daher ist es durchaus von der Perspektive abhängig, ob man dieses Verhältnis von Glück und Moral als dissonantes Harmoniemodell begreift, sodass es zwar eine Kluft gibt, aber man begründete Hoffnung darauf haben kann, dass sich diese Kluft letztlich schließen wird. Vielleicht ist es eher die Tragik des menschlichen Lebens, die man mit Kant aufzeigen kann: dass man zwar versuchen mag, moralisch zu leben und an sich den Anspruch zu stellen, dem moralischen Gesetz zu genügen, dass aber nur eine letztlich religiöse Hoffnung darauf bleibt, dass dieses Leben auch erfüllen und glückselig machen wird. Wenn also „die autonom-moralische Handlung nicht immer und nicht unbedingt zum glücklichen Leben führt“ (307), dann kann man das pessimistisch als Tragik lesen oder optimistisch als Aussicht auf ein „harmonisches Leben“. Lee bietet einige Gründe für die optimistische Lesart. Ob man das Verhältnis von Glück und Moral mit Kant letztlich mit einem Schwerpunkt auf den bestimmt dissonanten Ausgangspunkt oder den nur möglicherweise harmonischen Endpunkt versteht, bleibt letztlich jedem:jeder Leser:in am Ende der Lektüre selbst überlassen.
Fazit
Mit „Harmonisches Leben“ bietet Chul-Woo Lee eine differenzierte und spannende akademische Auseinandersetzung über die Verhältnisbestimmung von Glück und Moral bei Immanuel Kant. Dabei zeigt er, dass Glückseligkeit zwar in Begründungsfragen der Moral keine Rolle spielt, weil Kant die Moral allgemeingültig im guten Willen begründet, dass sie aber in der Sinnfrage der Moral und im höchsten Gut als allgemeine Lebensführung ethisch wieder relevant wird. „Harmonisches Leben“ ist insgesamt philosophisch voraussetzungsreich und als streng hermeneutische Abhandlung verfasst; es eignet sich daher vor allem für akademische Philosoph:innen – aber auch all jene, die sich bloß für Kant interessieren, werden hier ein komplexes Bild dieses Denkers finden, der nicht nur streng über das moralische Gesetz, sondern auch voll Hoffnung über die tiefe Glückseligkeit eines moralischen Lebens nachgedacht hat.
Rezension von
Marvin Bucka
M.A. "Philosophie" an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, B.Sc. "Psychologie" an der Goethe-Universität Frankfurt
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