Peter Fischer: Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Biedinger, 27.06.2024

Peter Fischer: Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften.
transcript
(Bielefeld) 2023.
222 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5928-0.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Einsichten. Themen der Soziologie - 9.
Thema
Peter Fischer setzt sich in seinem Werk aus der Reihe „Einsichten in die Soziologie“ (utb.) mit einer Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften auseinander. Ausgangspunkt der Monografie ist die strukturierte Darstellung des multiparadigmatischen Zustandes in den Sozialwissenschaften. In dem Beitrag geht der Autor größtenteils historisch rekonstruierend vor und beschreibt dabei vergleichend die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Aussagen und Zusammenhänge. Er schafft es dabei diese zum Teil sehr gegensätzlichen Positionen neutral vorzustellen ohne einen spezifischen Ansatz zu favorisieren.
Inhaltlich liegt ein Schwerpunkt zunächst auf dem Positivismus, Marxismus und Historismus, bevor dann Besonderheiten in Europa und USA fokussieren werden. Daran schließt sich der Werturteils- und Positivismusstreit an. Zum Abschluss werden die aktuellsten und größten Ansätze in den Sozialwissenschaften in ihren Kernaussagen vorgestellt. Im Blick bleibt dabei stets eine Strukturierung bezogen auf mikro- bzw. makrosoziologische Einordnungen, ebenso wie die Unterscheidung zwischen erklären, verstehen und beschreiben.
Autor
Dr. Peter Fischer ist Privatdozent an der Technischen Universität Dresden. Er promovierte 2007 mit einer Arbeit zu Mediokrität und Gesellschaft und habilitierte 2022 mit einer Arbeit zu Kosmos und Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologiegeschichte, historischen Soziologie, Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie.
Aufbau und Inhalt
Das Einführungsbuch „Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften“ von Peter Fischer gliedert sich in neun Kapitel:
- Warum Wissenschaftstheorie?
- Die zwei Kulturen
- Historische Ursprünge der Sozialwissenschaften: Positivismus, Marxismus, Historismus
- Besonderheiten der Sozialwissenschaften in Europa und den USA
- Streit um Werturteile
- Streit um den Positivismus
- Die drei Kulturen
- Erklären, Verstehen und Beschreiben: aktuelle Ansätze in den Sozialwissenschaften
- Logik der Sozialwissenschaften?
Zunächst wird in Kapitel 1 kurz und knapp auf die Relevanz der Wissenschaftstheorie fokussiert. Besonders gelungen finde ich dabei den Bezug auf drei verschiedene Fallbeispiele, die zeigen können, dass eine Sozialwissenschaft nicht völlig ohne wissenschaftstheoretisches Wissen auskommen kann und ohne diese auch nicht in der breiten Öffentlichkeit ernst genommen werden kann.
Im 2. Kapitel mit dem Titel „die zwei Kulturen“ geht es um die Verzahnung zwischen Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft. Der Fokus liegt auf der wissenschaftlichen Revolution, bei der sich wichtige Regeln und Methodologien herausbilden, die noch heute eine Rolle spielen. Darüber hinaus wird auch das Verhältnis von Natur und Sozialem in den Blick genommen. Es werden grundlegende philosophische Ansätze beispielsweise von Thomas Hobbes, ebenso wie von John Locke eingebunden. Die sich daran anschließenden offenen Fragen bezüglich einer Trennung von Natur- und Sozialwissenschaften, werden in den folgenden Kapiteln immer wieder thematisiert.
Kapitel 3 beschäftigt sich mit den historischen Ursprüngen der Sozialwissenschaften, nämlich dem Positivismus, Marxismus und Historismus. Dabei bezieht das Kapitel alle wichtigen Klassiker und Wegbereiter mit ein und gibt kurze und prägnante Grundüberlegungen wider. Diese klassischen Vertreter werden dann auch mit methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen verbunden, sodass beispielsweise das Verständnis von Auguste Comte mit Experimentieren in Zusammenhang gebracht wird. Im Vordergrund steht dabei immer die Frage wie diese drei klassischen Denkströmungen zur Ordnung der Gesellschaft stehen.
Zu Besonderheiten in Europa und den USA kommt Fischer in Kapitel 4. Erwartungsgemäß werden hier die bekannten Denkrichtungen in Beziehung gesetzt zu regionalen Besonderheiten. Schlagwörter wie weltweiter Marxismus, britische Anthropologie und American Social Sciences werden diskutiert und mit einander in Beziehung gesetzt. Hier wird auch erstmals auf die soziologischen „Schulen“ näher eingegangen.
Daran schließt sich der Streit um Werturteile im 5. Kapitel an. Erneut veranschaulicht Fischer anhand eines Fallbeispiels, dass die Frage nach einer wertfreien Wissenschaft nicht an Relevanz oder Aktualität verloren hat. Es wird auch die Diskussion um eine mögliche Wirklichkeit und Wertepluralismus geführt. Das Kapitel schließt mit der Einführung in die Kritische Theorie ab.
Daran schließt Kapitel 6 mit dem Positivismusstreit an. Als wichtige Basis werden nun wissenschaftstheoretische Schlussformen, allen voran Deduktion und Induktion näher in den Blick genommen. Es wird jedoch auch klar nach dem eigentlichen Erkenntnisinteresse dieses Streits gefragt und dabei die kritische Theorie mit dem kritischen Rationalismus gegenübergestellt. Spannend ist hierbei auch, dass der Autor nicht rein auf die soziologische (deutsche) Diskussion fokussiert, sondern beispielsweise auch die Erziehungswissenschaften und die USA in den Blick nimmt.
Kapitel 7 erweitert die klassische Diskussion der zwei Kulturen, um eine weitere Kultur. Es wird ein direkter Bezug zu den Literaturwissenschaften hergestellt, was dann methodisch in die Hermeneutik überführt wird. Mit Blick auf verschiedene interpretative Verfahren und auch der Narration wird dann in das umfangreiche 8. Kapitel übergeleitet, bei dem nun die aktuellsten Ansätze kurz vorgestellt werden. Diese umfassen nach einer kurzen allgemeinen Erörterung zu Paradigmenbildung nochmals die drei klassischen Ursprünge und schließen mit den Historischen Sozialwissenschaften, dem Strukturfunktionalismus, dem Interpretativen Paradigma, dem Strukturalismus, der Verhaltenstheorie, der Theorie des rationalen Wahlhandelns und der Analytischen Soziologie ab. Auch bei diesen kurzen Vorstellungen geht der Autor auf die klassischen Vertreter ein und bezieht diese auch auf ihre methodische und wissenschaftstheoretische Ausrichtung.
Das abschließende 9. Kapitel versucht erneut mit Bezug auf aktuelle Entwicklungen zu zeigen, dass es keine zwei widerstreitenden Kulturen gibt, sondern dass die Verzahnung gerade aktuell stärker denn je ist (z.B. Science and Technology Studies). Dennoch gibt es erkennbare Unterschiedlichkeiten im Forschungsinteresse von Sozialwissenschaftlern im Vergleich zu Naturwissenschaftlern, die sich daher in den vielfältigen Logiken des Faches widerspiegeln.
Diskussion
Das Einführungswerk versucht auf ca. 200 Seiten die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften darzustellen. Dies ist aus meiner Perspektive eine sehr herausfordernde Aufgabe, da die Sozialwissenschaften auf Basis der historischen Entwicklung, aber auch aufgrund ihre oft paradigmatischen Spaltung in dieser Kürze nur schwer zu fassen sind. Peter Fischer gelingt es aber, mit einer nachvollziehbaren Struktur, nämlich historisch konstruierend, Ordnung in die Vielfalt zu bringen. Hierbei liegt der Fokus auf den wichtigsten Streitpunkten (Werturteil und Positivismus) und geht dabei auf die zentralen alten, aber auch neueren Paradigmen ein.
Diese Paradigmen werden trotz ihrer Vielschichtigkeit kurz und knapp und verständlich dargestellt, sodass sicher auch ein unwissende*r Leser*in den Kern verstehen kann. Hierbei beeindruckt es, dass der Autor keine Wertung abgibt, sondern alle Ansätze neutral darstellt und Besonderheiten vorstellt. Nichtsdestotrotz werden in den Kapiteln oftmals Bezüge hergestellt, die sicherlich nicht jedem Anfänger direkt verständlich oder vertraut sein können. So stellt sich mir die Frage, ob an einigen Stellen dieses als Einführungswerk gedachten Werk nicht doch etwas zu viel Voraussetzungen abverlangt. Bringt man jedoch Vorkenntnisse mit, dann besticht das Werk dadurch, dass gut strukturierte Zusammenhänge hergestellt werden. Und vermutlich ist es auch für diejenigen interessant, die sich bisher vor allem oder ausschließlich einem Paradigma gewidmet haben.
Insgesamt ist es eine spannende Lektüre, die gewiss nicht in einem durch oder so nebenbei zu lesen ist. Die Lektüre erfordert genaueres Hinsehen und bietet viele Möglichkeiten, in bestimmte Themen noch tiefer einzusteigen. Inhaltlich vermisse ich nichts, wobei mich etwas überrascht, dass die methodische Diskussion doch eher kurz kommt und nur am Rande angerissen wird. Dies ist jedoch sicherlich dem komplexen Thema und dem Fokus auf die Wissenschaftstheorie geschuldet.
Fazit
Peter Fischer beschreibt die zentralen wissenschaftstheoretischen Grundlagen des sozialwissenschaftlichen Fachdiskurses und geht dabei abschließend, paradigmenorientiert auf die größten und aktuellen Ansätze in den Sozialwissenschaften ein. Dabei greift er auf die historischen Grundüberlegungen des Faches zurück und schafft es trotz der Komplexität und des Umfangs der verschiedenen Denkstrukturen einen verständlichen Überblick zu geben, der jedoch teilweise nicht vollumfänglich ohne etwas Vorwissen nachzuvollziehen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Biedinger
Empirische Sozialforschung und Soziologie
Website
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Nicole Biedinger.