Benjamin Fry: Der unsichtbare Löwe
Rezensiert von Dr. Franziska Baumbach, 05.03.2025

Benjamin Fry: Der unsichtbare Löwe. Wie Menschen psychisch reagieren, wenn sie sich bedroht fühlen. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2023. 260 Seiten. ISBN 978-3-7495-0410-7. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Thema
Das Buch will ein Verständnis der Funktionsweise des Nervensystems erreichen, damit Menschen sich ihr Verhalten erklären und es verändern können. Der Autor arbeitet mit dem Bild des unsichtbaren Löwen: Reaktionen, die von außen verrückt erscheinen, werden plötzlich nachvollziehbar, wenn sich herausstellt, dass Menschen auf eine für ihr Nervensystem äußerst reale Bedrohung reagieren.
Autor:in oder Herausgeber:in
Benjamin Fry ist Psychotherapeut, Autor, Unternehmer und Gründer einer Klinik, in der vor allem Menschen mit schwer erklärbaren gesundheitlichen Problemen Hilfe finden.
Entstehungshintergrund
Das Buch bietet ausgehend von der Geschichte des Autors, der Psychotherapeut und Betroffener ist, ein 28-Tage-Porgramm, um das eigene Nervensystem und seine Funktion zu verstehen: Der Autor verspricht, dass die Lektüre für Jeden sinnvoll ist, da es im „Wesentlichen darum geht, wie schwierig es ist, ein Mensch zu sein“ (19).
Aufbau
Das Buch umfasst zunächst vier Teile, in 14 Kapiteln, welche die theoretischen Grundlagen legen. Anschließend folgt der ausformulierte 28-Tage-Genesungsplan, der helfen soll, die Ideen des Buches in die Praxis umzusetzen. Das Buch endet mit Fallstudien, die illustrieren, wie eine Behandlung in der Klinik des Autors ablaufen kann.
Inhalt
Der erste Teil widmet sich der menschlichen Evolution und der Entwicklung des Gehirns. Die Kenntnis der Entwicklungsgeschichte soll helfen, Menschen auch heute besser zu verstehen. Während einer Bedrohungssituation entsteht eine Aufladung im Nervensystem. Ist die Bedrohung überstanden, wäre biologisch eine Entladung sinnvoll. Ein Säugetier schüttelt sich, um die Spannung abzubauen. Dem denkenden Menschen erscheint diese Entladung aber albern und unnötig, da die Bedrohung nicht mehr da ist. Die aufgebaute Spannung bleibt im Nervensystem erhalten. Durch wiederholte Bedrohungen türmen sich im Nervensystem unerledigte Aufgaben bzw. nicht-abgebaute Spannungen auf, das Nervensystem wird dysreguliert. Im zweiten Teil des Buches werden die negativen Folgen der Dysregulation erklärt. „Wenn unser Nervensystem dysreguliert ist, können wir nicht mehr ruhig auf Bedrohungen reagieren, sondern nur noch heftig, egal wie stark oder gering wir bedroht werden mögen.“ (56) Die erstarrte Aktivierung im Nervensystem nennt der Autor „Gepäck“ (94), sie wird durch alltägliche Situationen „getriggert“ und es können daraus Überreaktion, Unterreaktionen oder angemessene Reaktionen entstehen. Das Ziel ist zunächst, das Gepäck in einer schützenden Blase zu verstauen (112). Durch Grenzen und Containment kann man dahin gelangen, eine angemessene Reaktion auf einen Trigger im Alltag zu zeigen. Mittelfristig ist das Ziel, die Spannung zu entladen, durch Grenzen/​Containment wird zunächst eine Stabilisierung erreicht: „Dies erscheint sinnvoll, denn es ist wichtig, das Nervensystem zu regulieren und zu stabilisieren, bevor man versucht, es zu heilen.“ (123) Im dritten Teil geht es darum, wie sich die dysregulierten Nervensysteme auf Bindungen und Beziehungen auswirken. Durch die Selbstreflexion der Menschen finden keine natürlichen Entladungen auf Bedrohungsreaktionen statt: „All diese neuen Säugetiere sind nicht in der Lage, das Ausmaß der Bedrohung in ihrem Umfeld richtig zu erkennen und zu verarbeiten, und deshalb wird die Welt zu einem noch zerstörerischen und gefährlicherem Ort. ... Niemand fühlt sich je sicher, ganz gleich, wie vielen Bedrohungen er aus dem Weg geht.“(171) Im vierten Teil folgt die Anleitung zur Selbstheilung, in „vier Schritten zur Freiheit“: Die Schritte sind erstens das Verständnis der Dysregulation im Körper, zweitens das Reframing der Art und Weise, wie das Leben im Körper erlebt wird, drittens die Verbindung mit dem Gepäck, das dieses Reframing im Körper hinterlässt und viertens die Entladung dieses Gepäcks und die Vollendung der ursprünglichen Bedrohungsreaktion. (176). Der Autor will erreichen, dass die Arbeit am Nervensystem Angst in Liebe verwandelt (214). Er stellt einen 28-Tage-Genesungsplan zur Verfügung, in dessen Rahmen man mit 15 bis 20 Minuten Reflexion pro Tag die vier Schritte zur Freiheit durchlaufen soll.
Diskussion
Das Buch strebt an, allgemeinverständlich psychische Vorgänge zu erklären. Ein Verständnis der Funktionsweise des Nervensystems soll dazu führen, sich selbst zu heilen und ein besseres Leben zu führen. Es ist vorstellbar, dass die Erklärungen einigen Menschen helfen können. Absolute Aussagen und ein allumfassendes Heilversprechen sollten jedoch zur Vorsicht mahnen. Es kommt die Frage auf, ob das Buch es sich nicht an mancher Stelle zu einfach macht. Der „Beginn der Selbstwahrnehmung“ wird als Ursache aller Gesundheits- und Verhaltensprobleme, nicht zuletzt auch der sozialen Probleme auf diesem Planeten ausgemacht“ (212). Philosophisch eine interessante These, als Generalaussage dient sie in ihrer Undifferenziertheit jedoch nicht der Überzeugungskraft des Buches. Sämtliche gesellschaftlichen Probleme werden mit einer äußerst simplen Version vermeintlicher Evolutionsbiologie erklärt. Hieraus folgt gänzlich ungesellschaftlicher Individualismus: Alle Menschen sollen für sich ihr Nervensystem heilen, damit wären alle Probleme aus der Welt geschafft.
Fazit
Das Buch ist als Ratgeber geschrieben und einfach zu lesen, dies hat auch Vorteile. Liest man es mit einer gewissen Distanz und mit viel kritischer Abwägung kann die Lektüre durchaus anregend sein.
Rezension von
Dr. Franziska Baumbach
Lehrbeauftragte an der KHSB Berlin und Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe in Berlin
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Es gibt 14 Rezensionen von Franziska Baumbach.