Ilse Sand: Im Erdboden versinken?
Rezensiert von Prof. Dr. Katharina Gröning, 19.03.2024

Ilse Sand: Im Erdboden versinken? Den Teufelskreis aus Scham und Angst durchbrechen. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2023. 160 Seiten. ISBN 978-3-7495-0424-4. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Entstehungshintergrund
Entstanden ist das Buch von Ilse Sand aus professionellen, praktischen und persönlichen Erkenntnissen zur Bedeutung der Scham im Alltag. Neben vielen persönlichen Reflexionen spielt Erfahrung als Psychotherapeutin und Pastorin bei der Entstehung des Buches eine wichtige Rolle. Es geht der Verfasserin um die Aufklärung des neurotisierenden/​krankheitsfördernden Potenzials, welches der Scham innewohnt, und um eine Vertiefung des Verstehens der eigenen Person und Gefühle. Ilse Sands Buch gilt, liest man die Einleitung „dem Kampf gegen die Scham“, sie zerstöre Leben ( S. 11), kurz verweist die Autorin auch auf positive Aspekte der Scham (Triebkontrolle), verfolgt diesen Faden aber nicht weiter.
Aufbau
Das Buch umfasst neun Kapitel plus Nachwort:
- Ausdrucksformen und Eigenschaften des Schamgefühls,
- Chronische Scham entsteht aus missglückten Begegnungen,
- Scham kann eine Reaktion auf ein mangelhaftes Selbstgefühl sein,
- Scham hemmt dich,
- Das falsche Selbst als Schutz vor Scham,
- Lerne dich besser selber kennen,
- Gehe deiner Scham auf den Grund,
- Überlege dir gut, mit wem du deine Zeit verbringst,
- Tritt in einen freundlichen Kontakt mit dir selbst.
- Nachwort: Lass die Leere erblühen.
Bereits die Überschriften mit der unmittelbaren Ansprache zeigen, dass es sich in den Kapiteln 1–5 um einen Abriss vorwiegend zum Phänomen der Scham handelt und ab dem Kapitel sechs um eine Art Anleitung zum Umgang mit Scham, so wie in den 1970er Jahren die „Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und Erzieher“ verfasst von Lutz Schwäbisch und Martin Siems (1976) wurde.
Inhalt
Das ca. 110 Seiten umfassende Buch von Ilse Sand ist kein wissenschaftliches Buch, sondern wendet sich an Leserinnen und Leser, die als künftige Patient:innen/​Klient:innen Interesse am psychotherapeutischen Denken und Wissenssystem bekunden und sich orientieren möchten. Diese Zielgruppe wird durch den unmittelbaren, direkten Stil der Autorin in den Fokus genommen. Die Übersetzerin hat das DU übernommen – „Scham ist vermutlich nicht das Erste, was Dir als Ursache für Deine Schwierigkeiten in den Sinn kommt“ (Sand 2023 o.S.) – so beginnt die Einleitung.
Am eindrücklichsten wird das Anliegen des Buches auf S. 70 an der Fallvignette von Marlen (42) deutlich. Marlen beschreibt sich als am Rand der Depression und dass sie in die Psychotherapie kommt, weil sie bemerkte, dass ihre Kinder unter ihren Schwierigkeiten litten. Hier erfährt sie Ermutigung und beginnt mit den heilsamen Gesprächen einer klassischen Gesprächspsychotherapie. Sie lernt sich kennen, erweitert ihre Wahrnehmung und lernt von bisher unbekannten Wünschen und Einstellungen zu sprechen. In dem sie positiv spiegelnden Beziehungsraum erfährt sie Anerkennung. Marlene durchläuft die Psychotherapie rechtzeitig, die Depression wird abgewendet und ihre Persönlichkeit gestärkt. Ihr zentrales Thema ist dabei Scham, Angst vor Bloßstellung, der Blick der anderen.
Diskussion
Frau Sand verzichtet auf eine tiefere Analyse und Aufbereitung des Themas, die auch für ein Praxisbuch zu empfehlen ist. Sie spart sich Literaturangaben, selbst wenn sie z.B. mit Winnicott argumentiert, er fehlt im Literaturverzeichnis, das nur als „Literatur zur Inspiration“ verfasst ist, also kein Quellenverzeichnis. Und obwohl Aufbau und Logik des Buches, sowohl an die Argumentationslogik von Wurmser Phänomenologie der Scham, Naturscham, soziale Scham etc. erinnern, werden alle klassischen und wirklich wichtigen Theorien und Forschungsarbeiten nicht genannt. Genannt seien deshalb Georg Simmels, Max Schelers und Norbert Elias' Arbeiten sowie die erwähnten Klinker Hilgers und Wurmser und last but not least Sieghard Neckel. Da das Buch durchgängig in praktischer Absicht und in Dänemark verfasst wurde, können hier ggf. die Regeln des Umgangs mit Quellen nicht angewendet werden. Aber auch für ein praktisches Buch wären längere Fallvignetten zum besseren Verstehen sinnvoll gewesen. So lesen sich die Beispiele wie eine Art Kummerkasten. Manchmal möchte man widersprechen, zum Beispiel bei Morton 57 Jahre, der seine sexuellen Wünsche thematisiert. Hier kommentiert Frau Sand: „Da du dir deine Bedürfnisse und Begierden nicht aussuchen kannst, bist du auch nicht dafür verantwortlich, dass sie so sind wie sie sind. Trotzdem können sie mit tiefer Scham einhergehen“ (Sand 2023, S. 19). Auch im Beispiel von Poul (S. 22), der sich für seinen spastisch gelähmten Bruder schämt, wäre etwas mehr Gesellschaftskritik sinnvoll gewesen. Armut, Sucht, Übergewicht werden zwar als Quelle, übrigens sozialer Scham, erwähnt, aber nicht weiter verfolgt.
Fazit
Insgesamt ähnelt das vorliegende Buch im Anliegen, in der Ansprache und im argumentativen Aufbau dem alten Klassiker „Anleitung zum sozialen Lernen“, und dürfte in diesem Kontext seine Berechtigung haben. Für die Ausbildung mittlerer sozialer Dienstleitungsberufe, für Elterngesprächskreise an Volkshochschulen oder in Erziehungsberatungsstellen, wenn diese sich zum ersten Mal mit dem Thema befassen, ist es ggf. eine akzeptable Anfangslektüre.
Rezension von
Prof. Dr. Katharina Gröning
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