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Alexander Neupert-Doppler: Soziale Arbeit als katalytische Praxis

Rezensiert von Arnold Schmieder, 01.02.2024

Cover Alexander Neupert-Doppler: Soziale Arbeit als katalytische Praxis ISBN 978-3-7329-0928-5

Alexander Neupert-Doppler: Soziale Arbeit als katalytische Praxis – Impulse von Herbert Marcuse. Frank & Timme (Berlin) 2023. 262 Seiten. ISBN 978-3-7329-0928-5. D: 34,80 EUR, A: 34,80 EUR, CH: 52,20 sFr.

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Thema

Gleich in der Einleitung wirft der Autor die Menschenbilder in den Blick nehmende äußerst belangvolle und nach wie vor diskutierte Frage nach „den subjektiven Faktoren sozialer Veränderung“ auf: „Sind Menschen zu sozialem und solidarischem Handeln fähig bzw. können dazu befähigt werden, oder ist der Homo oeconomicus, der bis zur Rücksichtslosigkeit sich durchsetzende Charaktertyp, tatsächlich das letzte Wort der Geschichte?“ Marcuse habe im Rückgriff auf Marx und Freud ein „Menschenbild“ vorgestellt, das „Ambivalenzen“ aushalte. Wenn die „Wirklichkeit des Menschen“ halt auch von der „bewussten Einrichtung“ abhänge, gelte diese als „veränderbar“, was Marcuse „weder optimistisch vorausgesetzt noch pessimistisch verworfen“ habe. (S. 10 f.) Krisenphänomene als fortlaufende Erscheinungen des Systems ließen zwar noch „keine Gelegenheit zur praktischen Lösung erkennen“, wohl aber seien „gesellschaftskritische Perspektiven“ wiederzubeleben. (S. 13) Man dürfe nicht „unvermittelt von der Kritik des falschen Ganzen zu einer Utopie des ganz Anderen“ übergehen, „unmittelbar vom Sein aufs (Nicht-)Sollen“ schließen, was in der Rezeption Kritischer Theorie „leider häufig“ vorkomme, was für Soziale Arbeit von Belang sei: „Soziale Arbeit, die sich strategisch auf Transformation ausrichtet, kommt doch nicht umhin, sich taktisch auch auf das Feld von Reformen einzulassen, sofern diese als Richtungsforderungen einen Weg weisen, der sich weiter zu beschreiten lohnt.“ Dabei sei der Sozialphilosophie eine „besondere Pointe“ zu entnehmen, nämlich im Hinblick auf Möglichkeiten deren Verhinderung „nicht nur im Gewand der offenen Repression zu erkennen, sondern in der freundlicher wirkenden Integration.“ (S. 15 f.) Allerdings bleibe es eine „offene Frage“, was „Kritische Soziale Arbeit tun könnte, um katalytisch mitzuwirken, damit ihre Klientel das Abwälzen der Verantwortung auf Individuen als Herrschaftstechnik erkennt, bekämpft und sich desintegrieren könnte“. (S. 18) Dem Autor geht es mit seiner Studie darum, „philosophisch das herauszupräparieren, was sozialarbeiterisch nützlich sein könnte.“ (S. 22) Neupert-Doppler kommt nach ausführlicher Darstellung und Diskussion seines Themas zu dem Schluss, „Solidarität“ sei möglich, „am Sozialen wird gearbeitet.“ „Kairószeiten“ würden sich dadurch auszeichnen, dass „Menschen aus verschiedenen Organisationsformen“ zusammenkommen, wobei er „Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, Basis-, Betriebs- und Bewegungsorganisationen“ aufzählt. Die „Sozialarbeit“ könne „dafür als Form von Katalyse Verbindungen stiften, sich selbst und die eigene Klientel einladen, an der Emanzipation in Richtung Utopie teilzunehmen.“ Insoweit könne „Marcuses Idee der großen Weigerung (…) für die 2020er aktualisiert werden, damit Kritische Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit ineinandergreifen.“ (S. 239)

Autor

Dr. Alexander Neupert-Doppler ist Philosoph und Politikwissenschaftler und vertritt eine Professur für Sozialphilosophie und Ethik an der Hochschule Düsseldorf.

Inhalt

Die Einleitung und das Literaturverzeichnis eingerechnet ist das Buch in elf Kapitel unterteilt, wobei das zweite Kapitel Rezeption – Marcuse in der Sozialarbeit von Natalie Kulka verfasst ist, in dem die Autorin an die bislang erfolgte Aufnahme der Schriften von Herbert Marcuse erinnert, nämlich wie sie für die Ausrichtung Sozialer Arbeit seit den 1960er Jahren bis heute rezipiert wurden. Kulka kehrt Verständnisgewinne hervor und unterschlägt Missverständnisse nicht. Auf dieser Folie wendet sie sich schließlich heutigen Diskussionen um kritische Soziale Arbeit zu. Eher rhetorisch stellt sie die Frage, ob es „noch Bereiche unseres Lebens (gibt), die nicht der Marktlogik unterzogen werden? Selbst Freundschaften, Familien und vermeintliche Liebesbeziehungen zerbrechen an ihr“; Soziale Arbeit könne „dieser Logik nicht folgen“. Auf der Agenda stehe, schier „(u)nzählige Fragen“ aufs Tapet zu bringen, um Antworten so auszurichten, „damit Soziale Arbeit als das fungieren könnte, was sie zurzeit versucht darzustellen: eine Menschenrechtsprofession, der es um soziale Bindungskräfte geht, die Marcuse im Eros erkannte.“ (S. 38 f.)

Im dritten Kapitel widmet sich Neupert-Doppler dem Thema Eros – Soziale Antriebe im Menschen und betont gleich eingangs, dass sowohl für die „Sozialarbeitswissenschaft als auch für die Sozialphilosophie (…) die Frage nach einem Menschenbild entscheidend“ ist (S. 41), was er im Folgenden nicht nur unter Bezug auf Marcuse darstellt und auslotet. Marcuse habe das „‚patriarchale Realitätsprinzip‘“ überwinden wollen, „die Orientierung an Erwerbsarbeit und Konkurrenz, an Eigenständigkeit und Dominanz“, sei jedoch dennoch „besorgt“ gewesen gegenüber den „‚Banden nämlich, die den Eros an den Todestrieb binden‘“. (zit. S. 63)

Folgerichtig wendet sich der Autor dem Thema Thanatos – Aggressivität im späten Kapitalismus im vierten Kapital zu, wobei er betont, das „Menschenbild Freuds, zwischen Lebens- und Todestrieb, oder Marcuses, zwischen Utopie und Ideologie, wahren und falschen Bedürfnissen, Eros und Thanatos, ist kein starrer Dualismus, in dem sich Gut und Böse gegenüberstehen würden“, vielmehr handele es sich um ein „Wechselspiel“, um, so Marcuse, „‚verschiebbare Energie‘“. (S. 71) Der Staat wünsche sich Menschen, „deren Thanatos und Eros passend kanalisiert sind“, was in Krisenzeiten aus dem Ruder laufen kann und dann bedürfe es einer „Vorwärtsverteidigung gegen autoritäre Tendenzen“. Wie weit solche Verteidigung resp. ein Widerstand reicht, ist fraglich, zumal wenn die ‚Betrogenen‘ „‚durch scheinbar freiwillige intellektuelle Selbstbeschränkung‘“ schlussendlich „‚endgültig betrogen‘“ werden (zit. Ahlheim S. 83): „Statt zu Widerstand und materieller Befriedigung reicht es dann lediglich zu einem Widerwillen, der zur Gewalt neigt – gerade in Zeiten der Krisis.“ (ebd.)

Krisis – Integration und Soziale Arbeit ist Thema des fünften Kapitels. Der Autor setzt (auch) diesem Kapitel ein Zitat von Hans-Ernst Schiller voran, in dem darauf hingewiesen wird, dass Verbesserung oder Erhaltung des Lebensstandards einer breiten Mitte zugleich die Verschlechterung der Lage „‚eines Teils der Bevölkerung‘“ bedeutet, man redet von „‚Moderninsierungsverlierern‘“, was darauf verweise, „‚dass der Fortschritt nach wie vor von Opfern lebt, wie ein archaischer Götze‘“. (zit. S. 85) Neupert-Doppler kommt im Anschluss auf den Staat zu sprechen, der die „politische Form des Kapitals ist und nicht nur das Werkzeug einzelner Kapitalisten“, weshalb „soziale Gesetzgebung möglich (ist). Seine Formbestimmung, scheinbar über der Gesellschaft zu stehen, macht den Staat zum Fetisch.“ (S. 86) In diesen Staat sind die ‚Verlierer‘ zu integrieren. Insofern spreche Marcuse, wenn er Integration thematisiere, „von Integration ins Falsche, falsche Solidarität.“ (S. 91) Insbesondere Krisenzeiten sind virulent. Der Autor unterscheidet „zwischen Krisen des Systems und Krisen im System.“ (S. 97) Beides gehört aufgefangen. In der Vergangenheit habe der „Staat die Soziale Arbeit“ ausgebaut, „um Not zu mildern und eine revolutionäre Explosion zu verhindern“, wobei in der Folge die „Erosion des Sozialen und die Erosion der Sozialen Arbeit (…) zwei Seiten einer Medaille (sind)“, Soziale Arbeit „staatlich abgebaut“ wird und „nun selbst unmittelbar ins Marktgeschehen integriert“ wird. Dieses „Geschehen bleibt unbegriffen, weil das theoretische Rüstzeug verlegt worden ist.“ (S. 99) Es bleibe aber dabei, so der Autor, dass eine „Krise, der eine wichtige Begriff in Marcuses Geschichtsbild, (…) unter günstigen Umständen zum Kairós, zur Gelegenheit für Sozialen Wandel (wird).“ (S. 102)

Mit Kairós – Gelegenheiten Kritischer Sozialer Arbeit beschäftigt sich Neupert-Doppler in seinem sechsten Kapitel, wobei er ansetzt, Krisen seien für Marcuse interessant, „weil sie die Wahrheit einer Gesellschaft offenkundig machen.“ (S. 103) Auf einen Kairós müsse „sich vorbereitet werden, er ist herbeizulocken und theoretisch zu erkennen.“ (S. 109) Der Autor kommt dann zu seiner „Eingangsfrage“ zurück: „Kritische Soziale Arbeit oder Reparaturbetrieb?“, wobei er anmerkt, das „System“ lasse „die Soziale Arbeit nicht in Ruhe, sondern nimmt diese vor allem für Prävention in Anspruch, statt mit ihr Hilfe zu leisten.“ (S. 114) Mit „katalytischer Praxis“ könne diese erzwungene Engführung überwunden werden, in und mit ihr all jene, die zwar opponieren, nicht aber zwingend „untereinander solidarisch“ sind (S. 117), zusammengeführt werden (etwa nach dem Modell eines Schulterschlusses von „Parteien, Gewerkschaften“ bis „Bewegungsorganisationen“ [s.o.]). Dabei sei die „Alternative zur unpolitischen Reparaturinstanz (…) keine Stilisierung zur politischen Avantgarde, sondern die Praxis der Katalyse.“ (S. 118)

Nur folgerichtig schließt das siebte Kapitel mit Katalyse – Weder Reparaturbetrieb noch Avantgarde an. Im Folgenden skizziert der Autor eine „besondere Auffassung von Praxis“, fragt, „ob und wenn ja wo dieses Konzept der Katalyse heute wirksam ist“, wobei sich auch die „Frage nach bestehenden Institutionen neu“ stelle (S. 120), um schließlich auch auf die Frage einzugehen, „welche Rolle (…) dann die veränderte Klassenzusammensetzung der Dienstleistungsgesellschaft (spielt)“. (S. 123) In Bezug auf das Kapitelthema stimmt der Autor zu, dass „(g)rundsätzlich (…) zur Katalyse eine gewisse Zurückhaltung (gehört)“, um sich zugleich der Beantwortung der Fragen zuzuwenden, ob „Soziale Arbeit utopisch genug (ist), um Katalyse des Sozialen Wandels anzustreben, und pragmatisch genug, um mit bestehenden Institutionen konstruktiv-destruktiv umzugehen“ (S. 136), um in einer Zusammenschau bündig zu schließen: „Katalytische und organisierende Praxis ergänzen sich“ (S. 148), was auf das nächste Kapitel leitet.

Es geht im achten Kapitel um Organisation – Arbeitskreise Kritischer Sozialer Arbeit, gruppiert um das zentrale Problem zweier Pole, in die „Sozialphilosophie leider“ zerfalle, nämlich auf die „Kritik bestehender Widrigkeiten konzentriert“ zu sein, und zum anderen „auf die Möglichkeiten, die erst als Utopie aufscheinen.“ (S. 149) Noch 1970 habe Marcuse, der auch etliche Anlässe für „‚subversive Volksbewegungen‘“ sah, im Hinblick auf eine Verbindung „optimistisch“ geklungen; „‚Wir müssen neue Formen finden, die zu einem hohen Grad dezentral, das heißt lokal und regional aufgebaut sind. Wie die Koordination dieser Gruppen aufgebaut sein soll, vermag ich nicht zu sagen. Aber ohne Organisation und ohne Disziplin geht es nicht mehr‘“. (zit. S. 158 f.) Und „Organisation“, führt der Autor fort, „beginnt daher als Tu-Wort: mit dem Organisieren. So schwierig dies sein mag, so unumgänglich ist es“ (S. 161), wobei „‚Aufklärung durch Aktion‘“ (S. 163) ein wichtiger Aspekt bleibe. Wie diese Desiderate realisiert worden sind resp. werden, wird ausführlich dokumentiert. Gleichwohl bleibt die (sich für Marcuse nicht stellende) Frage im Raum, ob die „Einsicht, dass die kapitalistische Marktlogik gebrochen werden muss, eine wissenschaftliche Erkenntnis, die Soziale Arbeit leiten soll, oder ein politisches Interesse?“ (S. 177) Eine Antwort darauf scheint in einer Aufgabenstellung Kritischer Sozialer Arbeit auf, nämlich Menschen dazu zu befähigen, sich in „Formen der Selbstorganisation zu engagieren“, zumal hier eine „Dialektik“ zum Tragen komme, insoweit „Unmut in Kritik und Organisation umschlägt, braucht es bereits kritische Menschen, die sich organisieren und Dinge einfordern.“ Und „Kritische Soziale Arbeit“ müsse dabei „in der Lage sein, Spannungen von Kritik und Utopie, kurzfristiger Taktik und langfristigen Strategien auszuhalten.“ (S. 178)

Die Überschrift des neunten Kapitels lautet: Oikos – Ökosozialismus und Nachhaltige Sozialarbeit. Neupert-Doppler bescheinigt den „ökologischen Bewegungen der letzten Jahre“, ihnen sei „bewusst, dass sie über den bestehenden Zustand hinausführen müssen“, wobei der „Begriff der Nachhaltigkeit (…) jedoch etwas anderes zu suggerieren (scheint)“, eine Zielrichtung, die auch von Sozialer Arbeit „eingefordert“ wird und „systemkonform“ verbleibt. (S. 181 f.) Der Autor macht darauf aufmerksam und referiert, dass und wie die „Auseinandersetzung mit Ökologie in den 1970ern“ mit Marcuse begonnen hat. Beim gegenwärtigen Stand der ‚ökologischen Bewegungen‘ ist Soziale Arbeit zur Seite ihrer ‚katalytischen‘ gehalten, „von der Bewegung zu lernen“ und was sie „anzubieten“ hat (S. 192), wobei, dies als eingespeiste Bemerkung, Soziale Arbeit als „Arbeit am Sozialen (…) mehr auf die Gesellschaft bezogen (ist) als auf den Staat.“ (S. 201) Da ist zu reflektieren, nachdem der „Industrie-Kapitalismus“ nach dreihundert Jahren in die „Klimakrise“ geführt habe und (was vorher ausgeführt wurde) der „Sozialismus“ tragischerweise gescheitert sei. „Ökosozialismus, als Alternative im 21. Jahrhundert, steht erst als vage Utopie zur Debatte“, hält der Autor fest. (S. 204) Er wird an späterer Stelle anmerken, dass ein „antikapitalistischer Ökosozialismus und ein marktlogikfreier Markt (…) seltsame Utopien (sind).“ (S. 223) Gleichwohl beendet er dieses Kapitel mit den Fragen: „Was aber können Utopien zur Orientierung beitragen? Und was überhaupt sind Utopien der Sozialen Arbeit?“ (S. 204)

Auch wenn es „in der Sozialen Arbeit um die Bewältigung der alltäglichen Lebenswelt“ geht, „nicht primär um den Aufbruch in eine bessere Welt, auch wenn es so scheint, dass Soziale Arbeit und Soziale Utopien nicht viel miteinander zu tun haben“ (S. 205), inspiziert Neupert-Doppler im zehnten Kapitel Utopie – Soziale Arbeit an Zukunft genauer, wobei er mit dem Begriff „Realutopien“ (Staub-Bernasconi) einführt und über weitere Autoren zu diesem Begriff ausführt – auch in der Aspekte thematisierenden Bearbeitung bei Marcuse, der glaubte, „‚dass das Utopische heute nicht nur ein historischer Begriff, sondern auch ein historischer Imperativ ist‘“. (zit. S. 211) Der Autor findet es „(u)topietheoretisch (…) interessant, wie Marcuse Einzelbewegungen und ihre Partial-Utopien als Schritte versteht, die auf eine andere Gesellschaft gerichtet sein können.“ (S. 216) Zunächst aber gilt für alles Einzelne: „Wo nichts passiert, kann auch nichts beschleunigt werden.“ (S. 220) Der Autor buchstabiert vieles aus, was im Argen liegt (und auf den Nägeln brennt), um darauf aufsattelnd den „Sinn einer Kritischen Sozialen Arbeit“ zu pointieren: „Gegen die eigene Rolle in Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu protestieren, menschenrechtswidrige Politik zu skandalisieren und Wege praktischer Verbesserung zu wagen“ (S. 230), wobei sie dabei „also erstens nicht nur dazu da (ist), die Utopien ihrer Klientel zu verwirklichen, sondern eigene zu entwerfen“ (S. 233) – mit dem von Kunstreich formulierten (Fern-)Ziel: „‚Wir müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so verändern, dass Soziale Arbeit überflüssig wird‘“. (zit. S. 235)

Diskussion

Allen von ihm verfassten Kapiteln (also außer dem ebenso konzisen wie informativen und kritischen Beitrag von Natalie Kulka) stellt Neupert-Doppler ein Zitat aus den Schriften des Philosophen Hans-Ernst Schiller voran, aus denen kritisch und offensichtlich analytisch gesättigt hervorgeht, was – auf den Punkt gebracht – zu den einzelnen Themen zu sagen ist. Nachträglich zu seinem 70. Geburtstag hat der Autor Schiller sein Buch zugeeignet. Die Zitate machen, sofern man sie nicht kennt, neugierig auf dessen Werk, ein nicht unwesentlicher Effekt, der Neupert-Doppler zu danken ist. Der Autor elaboriert in seinen Kapiteln die pointierenden Zitate von Schiller, wobei er weit ausgreift und sich zum Teil thematisch zu entfernen scheint. Ob in historischen Rückblenden oder der Diskussion um Funktion und Stellenwert von Kunst, durchgehend greift er auf Argumentationen von Herbert Marcuse zurück und macht Impulse aus, welche für Debatten innerhalb einer Kritischen Sozialen Arbeit zum Teil schon aufgegriffen wurden, weiter entwickelt werden könnten oder können. Dabei greift er auf Inhalte und ‚Botschaften‘ seiner bisherigen Bücher zurück (z.B. ‚Kairós‘), die in überraschend schneller Reihenfolge erschienen sind, was in Anbetracht thematischer Affinitäten und auch der Komplexität der Auseinandersetzung mit taktischen wie strategischen Ausrichtungen einer Kritischen Sozialen Arbeit durchaus angemessen erscheint.

Gut möglich, dass Leser:innen bei der Lektüre innehalten werden, wenn sie auf die Not der Menschen in ihrer Nahwelt schauen, auf Arme und Obdachlose zum Beispiel, Prekarisierte, auf Arbeitslose und Migrant:innen, Menschen ohne Einkommen, die aussortiert oder im wörtlichen Sinne exkludiert werden. Es bleibt richtig, nicht nur die akute Not zu lösen, sondern zu vermitteln, warum sie überhaupt da ist, diese Not, durch die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, was durch Narrative der Selbstverschuldung oder mangelnder Selbsthilfe nicht (nur im neoliberalen Sinne) verdunkelt wird. ‚Warum‘ es diese verschiedenen gravierenden, anhaltenden und sich verbreitenden Nöte gibt, das weist der Autor kapitalismuskritisch aus, was vielen Leser:innen geläufig sein dürfte, nicht nur Sozialarbeiter:innen. Doch den Betroffenen, Klientel genannt, ist nach Brecht ‚notgedrungen‘ erst einmal das Fressen wichtiger als die Moral, was dem Autor durchaus nur zu bewusst ist. Soziale Arbeit, so ist die Profession definiert, lindert diese Not. Sie arbeitet ‚symptomatisch‘, ist erst einmal „Reparaturbetrieb“ (s.o.) und damit aufreibend und vielen Scharmützeln mit Bürokratie und Verwaltung beschäftigt, wobei die Erreichbarkeit der ‚Klientel‘ hinzukommt. Kritische Soziale Arbeit soll mehr leisten, nämlich ‚kurativ‘ sein. Damit, auch darum weiß der Autor, kollidiert sie mit ihren ‚Auftraggebern‘, mit dem Staat (resp. seinen Institutionen), der nach Hegelianischer Lesart als das Gute verstanden werden will, in das sich die Einzelnen zu integrieren haben. Angesichts der Oppositionellen und größer werdenden Teilen einer verarmten Bevölkerung kommt Hegels Dialektik arg ins Schleudern, auch der Staat ist mit ihn labilisierenden Tendenzen konfrontiert, was ihn reagieren und agieren lässt – mit allen ihm zur Verfügung stehenden (notfalls Gewalt-)Mitteln.

Integration ist staatliche Aufgabe. Dazu macht er Zugeständnisse, verbessert je individuelle Lebenslagen, was nicht nur auf längere Sicht mehr in Richtung eines Scheinbaren denn eines Anscheinenden tendiert. Da mag man sich an Adornos Analyse der Spirale aus Desintegration und Integration erinnern, die Kritische Soziale Arbeit abbrechen oder besser noch zum endgültigen Abbruch bringen soll. Sie soll nach dem vormaligen Marx՚schen Zuruf, „Brav gewühlt, alter Maulwurf“ (von Shakespeare übernommen)‚ ohne Unterlass untergraben – ersichtlich eine historisch weit zurückreichende Methode der Gegenwehr gegen Macht und Herrschaft. Nach dem Wort des Poeten Günter Eich „Sand, nicht Öl im Getriebe“ sein, dann in einer Krisis „Gelegenheitsfenster“ (S. 233) ausspähen, möglichst durch die Reihen der sogenannten Zivilgesellschaft hindurch der „großen Verweigerung“ (Marcuse) einen Weg bahnen, stärken, was sich in opponierenden Bewegungen mit ggf. „Partial-Utopien“ (s.o.) anbahnt, was Marcuse auch so sah, wogegen er dann schließlich skeptisch wurde, wie seinen Schriften zu entnehmen. Auch das dürfte dem Autor bekannt sein, ist er doch Mitherausgeber von nachgelassenen Schriften Marcuses. Aus bloßem Ungemach ein kritisches Bewusstsein vieler Menschen zu entwickeln, ist angezeigt. Dazu ist es auch opportun, den Weg über Reformen zu beschreiten, wie der Autor mehrfach betont. Es kommt darauf an, dass sich eben kritische Menschen und möglichst viele schlussendlich organisatorisch zusammenschließen, um aus geballtem Widerstand heraus den Weg einer Transformation des Systems zu beschreiten und dabei nicht eine „perspektivische Permanenz der Utopie“ (Marcuse) auskehren. Für all dies soll Kritische Soziale Arbeit ein Initialzünder sein.

Das kann man begrüßen, darauf ist hinzuwirken, jedoch darf man (u a.) gar nicht so sehr am Rande fragen, ob nicht Reformen immer ins Korsett der (Sozial-)Integration gesperrt werden und ob und wie aus ihnen ein sprengendes ‚Überschusspotenzial‘ zu evozieren ist, hinzuleiten zu einer ‚Organisierung‘, die sich bestenfalls in einer schlagkräftigen ‚Organisation‘ zusammenschließt, die dann eventuell als im Leninschen Sinne „Avantgarde“, immerhin als eine „Partei neuen Typs“, die historische Bühne betritt. Sich erinnernd an die Bemerkung Marcuses, dass „Erinnerung (…) ein Potenzial der (menschlichen) Subjektivität“ ist, werden unausgegorene Animositäten gegen ‚Partei‘ verständlich, auch solche „neuen Typs“, wenn man bedenkt, was daraus geworden ist, wohin die „Avantgarde“ führte. Mit alltäglichen Bewusstseinsinhalten ist zu rechnen. Doch wohlgemerkt, die Begriffe Organisierung, Organisation und Partei sind nicht in eins zu setzen, noch einfach als Abfolge zu reihen. Der klammheimliche Verdacht gegenüber Institutionen, der einen Schlagschatten auf den Begriff Partei werfen kann, mag sich parallel einschleichen. Institutionen sollen laut Arnold Gehlen – dankenswert – „handlungsentlastend“ sein, erfahrungsgemäß aber sind sie dabei entmündigend und üben Macht und Herrschaft aus (was bei einer „Diktatur des Proletariats“ [Marx, Engels] sich gegen die Herrschenden, nicht aber gegen die ‚parteilich Organisierten‘ richten darf). Schließlich geht es auch laut Marx um die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen.

Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Aufklärung, des Widerstandes, der Vereinigung derer, die als ‚Klasse‘ die herrschenden Verhältnisse umwälzen können: die Proletarier. Die ‚Klientel‘ der Kritischen Sozialen Arbeit setzt sich nicht nur aus Arbeiter:innen zusammen, die ‚Klassenfrage‘ ist erneut zu klären, was geschieht, und die „Neu-Konstitution einer Kritischen Sozialen Arbeit“ ist als „Alternative zur unpolitischen Reparaturinstanz“ auch „keine Stilisierung zur politischen Avantgarde“. (S. 118) Sie katalysiert. Dabei sollen Bündnisse herauskommen, die organisiert gehören. Wer organisiert wen? Oder Selbstorganisation ohne wie auch immer geartete Führung? Und dabei mit Blick auf die Lage, soziale und psychosoziale Vorortung der ‚Klientel‘ den Marxʼschen Begriff des „Lumpenproletariats“ aus der Schublade zu ziehen, dürfte Naserümpfen bis Empörung hervorrufen. Wer wen, also prospektive Aktivist:innen, und dann wie organisiert, ist eine politische Frage, bei der Sozialphilosophie bestenfalls vor „falscher Praxis“ (Adorno) warnen kann.

Das Utopische sind menschliche Verhältnisse, in denen Macht und Herrschaft überwunden sind, eine „befreite Gesellschaft“, in der „ohne Angst leben“ (Adorno) möglich ist. Die Überwindung von Herrschaft in allen zwischenmenschlichen Verhältnissen hatten bereits die Anarchisten schon vor dem Vormärz auf ihre Fahnen geschrieben. Vom Anarchismus hat sich Marcuse distanziert, doch seine Sympathien, mehr nicht, lagen bei Erich Mühsam und dessen Setzen auf die Stadt- und Landstreicher, deren „undomestizierte und unkorrumpierte Subkultur“ (Schweppenhäuser) das Potenzial einer Wandlung zu revolutionären Subjekten berge. Auch sie repräsentierten nicht den Typus des klassenbewussten Proletariers und Vorläufer der heutigen ‚Klientel‘ der Sozialen Arbeit waren sie auch nicht. Allerdings drängen sich Parallelen auf. So ist es richtig, über engführende Klassentheorie(n) darauf zu reflektieren, was der Kapitalismus weltweit aus Menschen machte und macht, wodurch sie „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ (Marx) sind. Das ist bekannt – und wird verleugnet und die kapitalistische Produktionsweise wird zum historisch unabänderlichen Schicksal erklärt. Dieses Narrativ erhält sich bis in das gegenwärtige Krisenbündel, auch die mit Riesenschritten sich nähernde Klimakatastrophe bremst es nicht aus. Marcuse hat das ‚vorausgeahnt‘. Lehrte er doch, der kein „Ökosozialist“ (s.o.) war, dass die Befreiung des Menschen und der Natur zusammen geschehen müssen. Aktuell gehört das wohl auch in die „Impulse“, die Neupert-Doppler für „katalytische Praxis“ Kritischer Sozialer Arbeit vorschlägt, und zwar als Motiv stiftend, sich in Bündnissen zusammenzuschließen und sich der Logik des Systems zu ‚verweigern‘.

Fazit

Alexander Neupert-Doppler schlägt viele Tasten an, die – was gut so ist – weitere Diskussionen provozieren. Verdienst des Verfassers ist es vor allem, zum einen unter sehr umfänglichem und kenntnisreichem Rückbezug auf Marcuse dann zum anderen die Diskussion und Relevanz seiner Schriften innerhalb der Sozialen Arbeit und für ihre vergangene und gegenwärtige Ausrichtung darzustellen und kritisch zu erörtern. Das Buch ist somit eine wichtige Handreichung für alle in der Sozialen Arbeit Tätigen und Interessierten.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245