Christian Reutlinger, Eleni Spiroudis (Hrsg.): Soziale Arbeit ist politisch
Rezensiert von Kilian Hüfner, 26.03.2025

Christian Reutlinger, Eleni Spiroudis (Hrsg.): Soziale Arbeit ist politisch. Biographische, empirische und theoretische Reflexionen mit und über Annegret Wigger. Frank & Timme (Berlin) 2023. 180 Seiten. ISBN 978-3-7329-0868-4. D: 29,80 EUR, A: 29,80 EUR, CH: 44,70 sFr.
Thema
Die Publikation, im Format einer Festschrift, vereint verschiedene Beiträge, die sich mit der deutsch-schweizerischen Erziehungswissenschaftlerin Annegret Wigger, ihren Forschungsfeldern und ihrem Wirken auseinandersetzen. In den Beiträgen, die zwischen verschriftlichten Symposiums- und Interviewgesprächen, biographischen Fragmenten und Fachartikeln changieren, wird von allen Beteiligten die von Annegret Wigger hochgehaltene Überzeugung diskutiert und betont, dass Soziale Arbeit stets politisch ist und sich aktiv mit gesellschaftlichen Fragen und Ungleichheiten auseinandersetzen sollte.
Autor:in oder Herausgeber:in
Herausgegeben ist die Festschrift von Christian Reutlinger, seit 2023 Professor für Stadt und Gesundheit am Institut für Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung und am Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Nordwestschweiz, sowie Eleni Spiroudis, Produktentwicklerin an der School for Transdisciplinary Studies an der Universität Zürich. Die beiden Herausgeber:innen sind (ehemalige) Weggefährt:innen von Annegret Wigger.
Entstehungshintergrund
Die erste Frage, die sich einem unmittelbar beim ersten Überfliegen des Buchtitels stellt, lautet, wer ist Annegret Wigger?
Annegret Wigger ist eine Schweizer Wissenschaftlerin und Politikerin mit einer außergewöhnlichen Karriere in den Bereichen Soziale Arbeit und Bildung. Sie hat an der Universität Münster Erziehungswissenschaften studiert und an der Universität Bremen im Bereich Behindertenpädagogik promoviert. Von 1990 bis 2019 arbeitete sie dann an der Fachhochschule St.Gallen (und Vorgängerhochschulen) in der Ostschweiz im Fachbereich Soziale Arbeit in den Gebieten Forschung und Lehre. Christian Reutlinger stellt im Vorwort des Buches heraus: „Annegret Wigger gehörte seit mehr als zwanzig Jahren zu den prägendsten Persönlichkeiten des Fachbereichs Soziale Arbeit und hat im Austausch mit vielen Student*innen, Kolleg*innen und Praktiker*innen die Soziale Arbeit in der Ostschweiz maßgeblich (mit)geprägt“ (S. 19). Die Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte von ihr umfassen unter anderem Dynamiken von Hilfsprozessen im sozialpädagogischen Feld, Kinderrechte und Partizipationspraktiken in der Heimerziehung sowie Fragen der Professionalisierung im stationären Bereich. Neben ihrer akademischen Arbeit ist sie auch politisch tätig. Seit 2015 ist sie für die Sozialdemokratische Partei Mitglied des Kantonsrats im Kanton Appenzell Ausserrhoden und Präsidentin der Geschäftsprüfungskommission.
Ihre wissenschaftliche und akademische Tätigkeit, insbesondere als Professorin und Forscherin im Bereich der Sozialen Arbeit, wird mit dieser Festschrift gewürdigt. Ausgangspunkt hierfür war die Pensionierung und Verabschiedung von Annegret Wigger am 24. Mail 2018 an der FHS St. Gallen.
Aufbau
An diesem Tag fanden ein internationales Fachsymposium, die letzte Lehrveranstaltung von Annegret Wigger sowie weitere Diskussionsrunden im kleinen und großen Kreis anlässlich ihrer Verabschiedung statt. Entsprechend ist auch die Festschrift in vier „Akte“ eingeteilt.
Die Publikation beginnt zunächst aber mit einem kurzen Vorspann, noch vor der Einleitung, in Form eines kurzen Interviewausschnitts zwischen Annegret Wigger, Monika Götzo und Ralf Kuckermann, in dem unter anderem eine Aussage Annegret Wiggers in ihrer Dissertation aufgegriffen wird, in welcher sie „das Interview als einen Weg, auf dem man sich dem Menschen nähern kann“ beschreibt. Dies scheinen sich auch die beiden Herausgeber:innen für die Festschrift zu Herzen genommen zu haben, indem sie die einzelnen Akte nicht nur stets mit von Annegret Wigger selbstverfassten biographischen Fragmenten einleiten, sondern der Großteil der Beiträge sich aus Mitschnitten von Gesprächen mit und über Annegret Wigger und verschiedenen Weggefährt:innen speist. Ansonsten finden sich in der Publikation noch zwei Fachbeiträge, einer von Axel Pohl zu Praktiken und Teilhabeansprüchen von Jugendlichen im öffentlichen Raum, der andere von Mechthild Wolff zu Organisationsentwicklung und Schutzkonzepten in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, sowie ein Kurzbeitrag von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Katharina Rauch zu drei aufeinander aufbauenden internationalen Praxisforschungsprojekten bezüglich der Arbeit mit gewaltauffälligen Kindern und Jugendlichen, an denen auch Annegret Wigger mitgewirkt hat.
Inhalt
Der Beginn bzw. Vorspann der Publikation setzt wie oben schon beschrieben mit einem kurzen Gesprächsausschnitt zwischen Annegret Wigger, Monika Götz und Ralf Kuckermann ein. In diesem werden Schlaglichter auf die Möglichkeiten von Interviews für Forschungsarbeiten, die Idee einer Selbstregierung von Individuen sowie auf Wissenschaft als kollektive Praxis der Wissenserzeugung geworfen.
Im Anschluss an den Vorspann folgt ein erstes biographisches Fragment, in dem Annegret Wigger ihr Aufwachsen in einer dörflichen Gemeinschaft, erste politische Erfahrungen sowie die Entscheidung, ein sozialwissenschaftliches Studium mit dem Schwerpunkt Sozialarbeit aufzunehmen, thematisiert. Ihre Ausführungen enden mit einem kurzen ersten Fazit zu Aushandlungsprozessen in Gruppen und Gemeinschaften, das sie als Form politischen Handelns versteht.
Der Auftakt schließt mit einer Einleitung Christian Reutlingers, in welcher er den Tag der Verabschiedung Annegret Wiggers noch einmal Revue geschehen lässt und hierauf aufbauend sogleich den Aufbau und die Struktur der Festschrift präsentiert. Zudem geht er vertiefend auf ein pädagogisches Leitmotiv Annegret Wiggers, „Du musst Dich für sie interessieren!“, ein, welches er nicht nur im Kontext pädagogisch-psychologischer Forschungen einordnet, sondern zugleich als Leitmotiv für die weiteren Beiträge der Festschrift markiert.
Der erste „Akt“ der Festschrift wird wieder mit einem biographischen Fragment Annegret Wiggers eröffnet. In diesem geht sie auf ihre Erfahrungen während des Studiums ein, das sie als Leben in zwei Welten beschreibt: zum einen gab es „die Welt der gesellschaftspolitischen theoretischen Auseinandersetzung“, zum anderen „die Welt der sogenannt revolutionären Praxis“ (S. 33) innerhalb der Dritte-Welt-, Friedens- und Anti-AKW-Bewegungen in den 1970er Jahren. Das Fragment schließt erneut mit einem kurzen Fazit zum Verhältnis Soziale Arbeit und Herrschaftsstrukturen.
In dem dokumentierten Gespräch zwischen Stefan Köngeter, Annegret Wigger und Peter Sommerfeld geht es anschließend um eine Auseinandersetzung mit der titelgebenden Prämisse, die Soziale Arbeit ist politisch bzw. politisches Handeln ist konstitutiv für die Soziale Arbeit. Die Teilnehmenden reflektieren dies sowohl vor dem Hintergrund eigener biographischer Erfahrungen als auch empirischer sowie theoretischer Bezüge.
Der zweite „Akt“ der Festschrift beginnt erneut mit einem biographischen Auszug, in welchem Annegret Wigger von persönlichen Erfahrungen, Erfolgen und Misserfolgen in einem Pflege- bzw. Großfamilienprojekt sowie ihrem Engagement in einer Dritt-Welt-Gruppe berichtet. Das dritte Fazit schließt mit einer Reflektion hinsichtlich des Schaffens von Gegenorten als Möglichkeit von Widerstand und Wandel.
Der sich anschließende erste Fachbeitrag von Axel Pohl „Praktiken Jugendlicher im öffentlichen Raum – zwischen Abhängen und Teilhabeansprüchen“ befasst sich, ausgehend von einem weiten Politikverständnis, mit verschiedenen Praktiken Jugendlicher im öffentlichen Raum, die vor dem Hintergrund von Teilhabeansprüchen und einer vermeintlichen Entpolitisierung der Jugend untersucht werden. Die Analysen bauen auf dem internationalen Forschungsprojekt PARTISPACE auf, in welchem in acht europäischen Großstädten Stadtspaziergänge und Gruppendiskussionen mit verschiedenen Gruppen Jugendlicher durchgeführt worden sind. Anhand drei empirischer Fallbeispiele werden Formen von Mikropolitik in den Praxen der Jugendlichen aufgezeigt, die „weniger eine Repolitisierung von Jugendkultur als vielmehr eine jugendkulturell sensibilisierte Neuentdeckung des Politischen“ (S. 77) verdeutlichen und entsprechend Anerkennung erfordern.
Im zweiten Fachbeitrag von Mechthild Wolff „Rechte von Kindern und Jugendlichen in Organisationen stärken – Schutzkonzepte als machtsensible und partizipative Lernprozesse“ geht es um eine Auseinandersetzung mit Organisationen und deren Schutzkonzepte im Kontext von Machtmissbrauch und Kindeswohlgefährdungen in Institutionen. Organisationen werden als übermächtig gegenüber ihren einzelnen Mitgliedern entworfen, in denen Vorfälle von Machtmissbrauch unentdeckt bzw. unsichtbar bleiben. Vor dem Hintergrund des Rechts auf Schutz wird daher auf die Implementierung einer Kultur der Achtsamkeit in Organisationen verwiesen, um frühzeitig Risiken und Fehlerquellen erkennen und ernst nehmen zu können. Eng einher geht dies mit einer Kultur des Sprechens und der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Form angemessener Beschwerdemöglichkeiten. Für die Umsetzung von Schutzkonzepten in Organisationen werden von Mechthild Wolff anschließend nicht nur vier Schlüsselprozesse dargelegt (Gefährdungs- und Risikoanalyse, zielgruppenspezifische Präventionsmaßnahmen, Interventionsmaßnahmen sowie die Aufarbeitung möglichen Unrechts), sondern auch für die Institutionalisierung wirksamer Beteiligungs- und Widerspruchsmöglichkeiten plädiert, „bei denen die AdressatInnen keine negativen Konsequenzen oder Sanktionen zu befürchten haben, wenn sie diese gebrauchen“ (S. 96).
Das biographische Fragment des dritten „Akts“ beinhaltet die Bewerbung, Anstellung und Etablierung Annegret Wiggers in der Wissenschaft sowie eine Kritik an der Umsetzung der Bologna-Idee in der Schweiz. Das entsprechende Fazit richtet den Blick auf eine versachlichte Herrschaftsstruktur in Organisationen der Sozialen Arbeit.
Das Gespräch mit Stefan Köngeter, Gianluca Cavelti, Tobias Kindler und Thomas Schmid, die als junge (fach)politisch engagierte Kolleg:innen von Annegret Wigger eingeführt werden, schließt an die Diskussion im ersten Akt an. Auch hier geht es um (biographische) Erfahrungen von Politisierung im Alltag und Studium, Generationenvergleiche und das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Politik.
Direkt im Anschluss folgt ein weiteres Gespräch mit Mandy Falkenreck, Steve Stiehler und Annegret Wigger, dass sich um Fragen rund um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Persönlichkeitsentwicklung im Studium sowie den Themenschwerpunkt „Gruppendynamik“, der eine Zeit lang eine zentrale Rolle in der Lehre Annegret Wiggers gespielt hat, dreht.
Der vierte und letzte „Akt“ beinhaltet ein letztes biographische Fragment zum Eintritt Annegret Wiggers in die institutionelle Politik sowie ein abschließendes Fazit, in welchem noch einmal verdeutlicht wird, dass Soziale Arbeit als Teil des politischen Systems verstanden werden muss, zugleich aber auch Einfluss nehmen kann und sollte.
Der Kurzbeitrag „Prävention durch professionelle Beziehungsgestaltung und Vernetzung – europäische Perspektiven und Vergleiche. Was können wir aus internationalen Projekten lernen?“ von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Katharina Rauh umfasst – wie weiter oben schon dargelegt – eine knappe Präsentation von drei aufeinander aufbauenden Forschungsprojekten, die international durchgeführt wurden. Ausgehend von den Erfahrungen in den verschiedenen Forschungsprojekten werden in dem Beitrag abschließend Chancen und Herausforderungen der internationalen Projektarbeit skizziert.
Das letzte dokumentierte Gespräch zwischen Sebastian Wörwag, Kathrin Hilber, Monika Wohler und Barbara Fontanellaz, dem Rektor der FHS St. Gallen sowie drei bisherigen Leiterinnen des Fachbereichs Soziale Arbeit, widmet sich einem Rückblick auf die Entwicklungen innerhalb des Fachbereichs Soziale Arbeit und den Einflüssen Annegret Wiggers sowie aktuellen Ansprüchen in Ausbildung und Praxis.
Die Festschrift schließt mit einem Dankesgruß Annegret Wiggers ab.
Diskussion
Festschriften, die häufig anlässlich eines Jubiläums oder einer Verabschiedung in den Ruhestand veröffentlicht werden, würdigen das Werk, die Ideen und den Einfluss einer Person durch Beiträge verschiedener Autor:innen. Sie verbinden fachliche Anerkennung mit persönlicher Würdigung, richten sich jedoch oft stärker an ein spezialisiertes Publikum, was sie für Außenstehende weniger zugänglich bzw. relevant erscheinen lässt. Mangelnde thematische Kohärenz der Beiträge kann zudem den Eindruck von Beliebigkeit erwecken. Diese Punkte treffen teils auch auf die vorliegende Publikation zu.
Dass sich der Aufbau der Publikation an den Abläufen des Verabschiedungstages orientiert, ist eine nachvollziehbare Idee, die jedoch inhaltlich wenig Tiefe erzeugt. Die biographischen Fragmente zu Beginn eines jeden Aktes vermitteln immerhin einen guten Einblick in das Leben und Wirken von Annegret Wigger. Die zahlreichen dokumentierten Gesprächsrunden mit und über Annegret Wigger sowie verschiedenen Weggefährt:innen dagegen wirken mitunter repetitiv und laufen stellenweise argumentativ ins Leere – insbesondere dann, wenn gut situierte und etablierte Wissenschaftler:innen von angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit erwarten, in ihrem späteren Berufsleben vehement politisch Position zu beziehen und sogar berufliche Risiken einzugehen. Diese Forderungen erscheinen in Teilen einseitig idealistisch und lassen die realen beruflichen Herausforderungen und Folgen außer Acht. Auch so scheinen sich die Gespräche an der ein oder anderen Stelle thematisch zu verlieren oder wesentliche Punkte der Diskussion werden lakonisch auf andere Diskussionskontexte verschoben – etwa durch Aussagen wie: „ja, das ist ein Punkt, der noch einmal im Fachbereich diskutiert werden sollte, denn es scheint mir schon wichtig zu sein“ (S. 131). Den größten inhaltlichen Mehrwert bieten daher die beiden Fachartikel, die durch klare Argumentation und inhaltliche Tiefe hervorstechen.
Für wen ist diese Publikation somit geeignet? Die Festschrift dürfte vor allem eine wertvolle Erinnerung für diejenigen sein, die an der vorangegangenen Veranstaltung teilgenommen haben, und bietet interessante Einblicke in die Ideen und Perspektiven von Annegret Wigger. Darüber hinaus könnte sie für Studienanfänger:innen in der Sozialen Arbeit ansprechend sein, die sich von den dargestellten Ansätzen inspirieren oder vielleicht sogar irritieren lassen möchten, insbesondere im Hinblick auf die politische Dimension des Berufs. Wer hingegen eine vertiefte, systematische Auseinandersetzung mit fachlichen und theoretischen Ansätzen der Sozialen Arbeit sucht, wird in anderen Publikationen eher fündig: Diese Publikation versteht sich in erster Linie als persönliche Würdigung, Momentaufnahme und Inspirationsquelle – weniger als wissenschaftlich fundiertes Fachbuch.
Fazit
Die Festschrift für Annegret Wigger gewährt Einblicke in ihr berufliches Wirken, ihre Perspektiven auf Soziale Arbeit und insbesondere deren politische Dimension. Sie richtet sich vor allem an jene, die ihre berufliche Laufbahn begleitet haben, sowie an Studierende und Fachkräfte, die sich von ihren Impulsen inspirieren lassen möchten. Wer hingegen eine vertiefte theoretische Auseinandersetzung mit der politischen Rolle der Sozialen Arbeit erwartet, wird hier weniger fündig. Die Publikation versteht sich primär als persönliche Würdigung und reflektierende Momentaufnahme – weniger als wissenschaftlich fundierte Analyse.
Rezension von
Kilian Hüfner
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