Anja Freudiger, Suse (Illustrator) Schweizer: Tills Talente
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 09.09.2024
Anja Freudiger, Suse (Illustrator) Schweizer: Tills Talente.
Balance Buch + Medien Verlag
(Köln) 2023.
36 Seiten.
ISBN 978-3-86739-303-4.
Reihe: kids in BALANCE.
Thema
In den letzten Jahren wurde der Buchmarkt zum Themenspektrum Hochbegabung vor allem von einer Vielzahl von Ratgebern und einigen wenigen wissenschaftlich fundierten Studien bedient. So divers diese Publikationen auch sein mögen, in einem Punkt sind sich die Autor:innen einig: Es existiert keine allgemeingültige und entsprechend akzeptierte Definition von Hochbegabung. Was in den Attributen, die Hochbegabung zugeordnet werden, dennoch meist dominiert, ist die Facette der schnellen kognitiven Auffassungsgabe und der Leistungen in diesem Bereich. Dies trifft auch auf Till zu, den Protagonisten des vorliegenden Bilderbuchs von Anja Freudiger und Suse Schweizer.
Autorin und Illustratorin
Anja Freudiger ist Schulpsychologin. Während ihrer Arbeit in Frühförderstellen und kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen konnte sie sich in vielen Gesprächen, die sie mit Kindern und Eltern geführt hat, mit dem Thema Hochbegabung vertraut machen. Außerdem ist Freudiger Autorin vieler weiterer Bilderbücher, z.B. von „Mein großer Bruder Matti: Kindern ADHS erklären“ („Kids in BALANCE“, 2012).
Suse Schweizer ist freie Illustratorin. Sie hat, unter zahlreichen anderen, das Bilderbuch „Gelbe Blumen für Papa“ („Kids in BALANCE“, 2021) gestaltet.
Entstehungshintergrund
„Tills Talente“ ist in der Kinder- und Bilderbuchreihe „Kids in BALANCE“ erschienen. Erklärtes Ziel der Herausgeber:innen ist es, Bücher zu produzieren, deren Autor:innen und Illustrator:innen schwierige Themen aus kindlicher Perspektive behandeln. Themen wie psychische Erkrankungen, Verlust und Ängste sowie besondere Verhaltensweisen bearbeiten und bebildern sie im Idealfall so, dass sich Kinder altersgemäß damit auseinandersetzen können.
Inhalt
Till, der vermutlich vier bis fünf Jahre alt ist (sein genaues Alter wird nicht genannt), liebt es, über viele Dinge nachzudenken. Von allem, was mit Zahlen zu tun hat, ist er rundum begeistert. Als er im Morgenkreis den anderen Kindern und der Erzieherin mitteilen möchte, dass er ausgerechnet habe, wie viele Tage der Herbst umfasse, stößt er damit auf taube Ohren. Er müsse noch seine Familie malen – so Lisa, die Erzieherin. Till indessen erklärt den anderen Kindern lieber den Unterschied zwischen Gläsern und Bechern. Daraufhin wird er als „Besserwisser“ tituliert.
Am nächsten Tag möchte Till eigentlich zuhause bleiben, aber er weiß, dass seine Eltern zur Arbeit gehen müssen. Am Nachmittag spricht Lisa mit seinem Vater, weil der Junge erneut nur allein gespielt hat. Da Tills Eltern ohnehin merken, dass es ihm nicht gut geht, vereinbaren sie einen Termin mit einer Psychologin, die ihn als hochbegabt bzw. „schnelllernend“ einstuft. Ihre Ideen für Till, die sie den Eltern und der Erzieherin mitteilt, werden in den folgenden Wochen im Kindergarten sukzessive umgesetzt, sodass Till wieder auflebt. Zu seinem Wohlbefinden tragen darüber hinaus regelmäßige Treffen mit anderen „Schnelllernkindern“ bei.
Als Ergänzung zur Geschichte richtet die Autorin ein Nachwort an die erwachsenen Bilderbuchvermittler:innen.
Diskussion
Für die Lösung, die am Ende des realistischen Bilderbuches steht, passt die altbekannte Formel „Friede – Freude – Eierkuchen“. Der Ausgang ist idealistisch und er ist kindgerecht, er eröffnet für hochbegabte Kinder, denen das Buch vorgelesen wird, die Perspektive, dass alles gut oder zumindest besser werden kann. Dabei muss aber die Frage erlaubt sein, ob sich in diesen Kindern, aufgrund ihrer Fähigkeit, facettenreich nachzudenken, nicht Unbehagen ausbreitet und der Eindruck entsteht, dass vieles Fake und Schönfärberei sei. Während ein solches schillerndes Happy End an sich kindgemäß ist und sich die Mehrzahl der Drei- bis Sechsjährigen daran erfreut, kommen den „Schnelllernenden“ unter ihnen möglicherweise einige Zweifel, weil sie einen Realitätscheck durchführen.
Einen solchen nicht bestehen würde bedauerlicherweise genauso die Wandlung der pädagogischen Fachkraft Lisa. Zu Beginn inkarniert sie all das, was im Rahmen einer guten professionellen pädagogischen Haltung unter keinen Umständen vorkommen darf: Sie unterbricht Till, als er anhebt, zu erklären, wie sich die Tage des Herbstes zusammenrechnen lassen, und sie setzt ihn unter Druck, weil sie unbedingt möchte, dass auch Till ein Bild von seiner Familie malt. Als er Schwierigkeiten hat, anzufangen, verstärkt sie den Druck, indem sie sagt, dass er einfach seinen Papa malen solle. Sie insistiert auf dem Anfertigen des Bildes, als Till über Becher und Gläser spricht. Obgleich sensitive Responsivität und situative Wendigkeit Fremdworte für sie sind, beobachtet sie immerhin, dass Till fortwährend allein spielt. Sie spricht mit dem Vater.
Nachdem Till als hochbegabt diagnostiziert worden ist, erscheint sie wie ausgewechselt. Sie lässt sich auf alle Aktionen ein, die passgenau auf die Förderung von Tills Talenten und seiner Resilienz gleichermaßen abgestimmt sind.
Auch Tills Eltern werden buchstäblich bilderbuchhaft präsentiert. Das Tür- und Angelgespräch mit der Erzieherin nimmt der Vater ernst – er repräsentiert eine Bildungs- und Erziehungspartnerschaft, wie sie sich jede pädagogische Fachkraft wünschen würde. Zudem gehen Vater und Mutter in keiner Weise über die Gefühle des Jungen, seinen Widerstand gegenüber dem Kindergartenbesuch, hinweg und haben keinerlei Scheu vor psychologischer Diagnostik.
Womit das Bilderbuch uneingeschränkt punkten kann, ist die Darstellung seines Protagonisten. Bereits die ersten Sätze lassen Till trotz der gebotenen Knappheit zu einer plastischen Figur werden, deren Besonderheiten im täglichen Umgang mit seinen Eltern und deren Marginalisierung im Kindergarten sehr vehement, glaubhaft und authentisch, wirken. Seine Hochbegabung manifestiert sich in allem, was mit Mathematik zu tun hat, richtet sich aber ebenso auf die Beschaffenheit der ihn umgebenden Phänomene und Objekte. „Ich glaube, ich kann besonders gut lernen und lieb haben!“ – so bilanziert Till selbst.
In ihrem Nachwort betont Anja Freudiger, dass es für viele hochbegabte Kinder sehr verletzend sei, wenn man ihnen das Gefühl vermittle, „anders oder seltsam“ zu sein. Sie seien nicht in geringerem Maße als andere sozial kompetent, zögen sich aber zurück, weil sie nicht ständig mit ihrer Alterität auffallen wollten. Oft gelinge es ihnen, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer akribisch zu registrieren und zu analysieren.
Bei Till scheinen Hochbegabung und Hochsensibilität miteinander einherzugehen. Beim Lesen ist es auch für Erwachsene ein Leichtes, seine Perspektive einzunehmen, sich mit ihm zu identifizieren und so zu fühlen, wie er offenbar im Kontakt mit der Erzieherin und den anderen Kindern fühlt. Wenn es ihm schließlich besser geht, weil ihm Aufgaben gegeben werden, die zu seinen Fähigkeiten passen, kommt er auch seinen Gleichaltrigen näher. Diese sind vielleicht weniger skeptisch gegenüber ihm als normal begabte Erwachsene.
Als alle Beteiligten wissen, dass Till schneller lernt als andere, hat er das Glück, ab und an Gleichbegabte in einer homogenen Gruppe zu treffen. In der heterogenen Kindergartengruppe ist er akzeptiert und integriert.
Was bleibt, ist die Etikettierung „hochbegabt“ oder „schnell lernend“. Den Begriff „schnelllernend“ habe sie gewählt, so Freudiger, weil eine genauere Diagnostik erst ab dem Grundschulalter möglich sei und man per definitionem erst ab einem IQ von 130 von Hochbegabung spreche. Man könne nicht sagen, ob Tills Wert eventuell unter dieser Marke liege. Ob nun 129 und nur schnelllernend oder 130 und hochbegabt – wie gelabelt wird, spielt keine Rolle. Dass aber überhaupt eine Etikettierung stattfindet, bedeutet Separation, was unterstreicht, wie steinig der Weg echter Inklusion ist und welche Zwickmühle sich öffnet: ohne Diagnose geht es nicht, aber nur dann, wenn eine solche nicht mehr der Erwähnung wert ist, kann Diversität und damit Inklusion zum „Normalfall“ werden.
Die Illustrationen von Suse Schweizer intensivieren den Text, folgen ihm meistens, fügen wenige Elemente hinzu, so etwa einige Rechenaufgaben, oder fokussieren andere, die im Text eher randständig sind. Mehr als im Text mausert sich der Silberfuchs, über dessen Wanderung Till nachdenkt, zum Symbol für die kognitive Leistungsfähigkeit. Auf dem Titelbild streichelt Till einen Fuchs und als er sich ein Tierlexikon anschaut, beschäftigt er sich mit Füchsen und ihrer Größe. Auf einer Abbildung erfährt man auch, dass der Vater, leicht zerstreut, „nerdig“, oft in Denkerpose und dabei sehr zugewandt, seinen Sohn bereits vor sieben Uhr in die Kindertagesstätte bringt. Demgegenüber kommt Lisa, die Erzieherin, auch in den Illustrationen sehr rigide und wenig involviert, mit aufgesetztem Lächeln, daher.
Schweizers Aquarellzeichnungen sind angenehm bunt, aber nicht grell, sie sind detailliert, aber nicht überladen. Sie interagieren hervorragend mit dem Text, sie doppeln und ergänzen ihn.
Fazit
Zwar ist die schöne Geschichte, ob ihres Strebens zum Happy End hin, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Nichtsdestoweniger offenbart sich in ihr die Authentizität der Lebens- und Gefühlswelt eines kleinen Jungen, der Erfahrungen der Ausgrenzung machen muss, weil er seine Neugierde, seine Begeisterung und all seine vielfältigen Interessen nur bedingt ausleben darf und er anfänglich auf Widerstände stößt, die die Entwicklung seiner sozialen Kompetenz zu unterminieren drohen.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
Mailformular
Es gibt 41 Rezensionen von Anne Amend-Söchting.
Zitiervorschlag
Anne Amend-Söchting. Rezension vom 09.09.2024 zu:
Anja Freudiger, Suse (Illustrator) Schweizer: Tills Talente. Balance Buch + Medien Verlag
(Köln) 2023.
ISBN 978-3-86739-303-4.
Reihe: kids in BALANCE.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31043.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.