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Thomas August Kohut: Empathie in der Geschichtswissenschaft

Rezensiert von Dr. phil. Manfred Krapf, 30.09.2024

Cover Thomas August Kohut: Empathie in der Geschichtswissenschaft ISBN 978-3-95558-341-5

Thomas August Kohut: Empathie in der Geschichtswissenschaft. Einfühlendes Verstehen der menschlichen Vergangenheit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. 208 Seiten. ISBN 978-3-95558-341-5. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Das vorliegende Buch verfolgt nicht das Ziel, die Empathie als einen Gegenstand historischen Wissens abzuhandeln, sondern will „Empathie als Instrument, Menschen der Vergangenheit historisch zu erforschen und zu verstehen“, näherbringen, Empathie fungiert dabei als ein „Erkenntnisverfahren“. Dabei soll das Konzept „Empathie“ und seine wichtigsten Darstellungen in verschiedenen Disziplinen erörtert werden, um eine „Grundlage für eine Untersuchung der Verwendung der Empathie in der Geschichtswissenschaft“ (20) zu schaffen. Nicht zuletzt soll eine sachlich fundierte Diskussion über den Stellenwert der Empathie in der Geschichtswissenschaft angeregt werden.

Autor

Der Autor ist Professor für Moderne Europäische Geschichte am Williams College in Williamstown (Massachusetts) und hat zusätzlich eine psychoanalytische Ausbildung. Von Interesse könnte noch sein, dass der Vater des Autors, Heinz Kohut, sich ebenfalls grundlegend mit der Empathie in der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat.

Aufbau und Inhalt

Wir fassen hier den Aufbau des Buches und den diskursiven Inhalt zusammen und beginnen, abweichend vom üblichen Aufbau einer Buchbesprechung, hier mit einigen Anmerkungen des Rezensenten: Wir nähern uns dem Buch aus der Sichtweise des praktisch tätigen und forschenden Historikers, der bislang nicht mit der Thematik „Empathie in der Geschichtswissenschaft“ sich beschäftigt hat und auch auf keine Präsenz des Themas in der Geschichtsschreibung stieß. Eine zusätzliche Ausbildung, etwa als Psychoanalyst erschien hierbei nicht vonnöten. Insofern rücken bei dieser Besprechung psychologische Aspekte der im Buch eingehender erläuterten Empathie in der Geschichtswissenschaft in den Hintergrund. Als zentraler Bezugspunkt erscheint dem Rezensenten hier die historische Methode, auf deren Implikationen m.E. immer zurückzuführen ist.

Das vorliegende Buch gliedert sich nach einer Einleitung in acht Kapitel und ein abschließendes Resümee. Unter Berücksichtigung des Wissensstands des Rezensenten und dessen Erkenntnisinteressen kann, nicht das gesamte Werk besprochen werden, vielmehr interessieren die konkreten Bezüge für die Arbeit des Historikers. Vorausschickend sei erwähnt, dass die an sich übliche konsequente Trennung von Informationen zum Buch und die eigenen Bewertungen hier nicht konsequent durchgehalten wird.

Das erste Kapitel bietet in Gestalt eines historischen Exkurses einen Überblick über die Verwendung der Empathie, also das Einfühlungsvermögen, in den Diskussionen über den Erkenntnisgewinn in den Natur- und Geisteswissenschaften, wobei die Geschichtswissenschaft und die Soziologie für die weitere Besprechung die entscheidenden Gegenstände darstellen. Hier wird auch das Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaft mit Bezug vor allem auf Wilhelm Dilthey diskutiert, für den der Unterschied zwischen den beiden Wissenschaften vorrangig in ihrer jeweiligen Herangehensweise basierte: Der Naturwissenschaftler könne seinen Gegenstand nur von außen, durch Sinneswahrnehmung untersuchen, während der Geisteswissenschaftler die „Welt des Denkens und Fühlens von innen“ erkenne. Objektives Wissen hielt Dilthey in der Geisteswissenschaft für möglich, weil „wir und die Menschen, die wir erforschen [in der Vergangenheit], einander psychisch, wesenhaft, ähnlich seien“. Damit ist bereits ein wesentlicher Baustein der empathischen Geschichtswissenschaft formuliert, nämlich die Zweiteilung von innerem Erfahren und äußerlicher Betrachtung. Hier wäre erstmals kritisch zu fragen, wie, und vor allem mit welchen Quellen ein Erforschen vergangenen Handels geschichtlicher Personen unter dem Signum der „Empathie“ möglich ist. Schließlich diskutiert das erste Kapitel die Veränderungen in der Geschichtswissenschaft von der politischen Geschichte bis zur Kulturgeschichte. Die sog. politische Geschichte rückte im Kontext des Vormarsches der Sozialgeschichte mehr in den Hintergrund, was auch eine Distanzierung von der empathischen Geschichtswissenschaft zur Folge hatte. Die Sozialgeschichte blieb außen (Stellung als „äußerer“ Beobachter). In den 1980er Jahren betrat eine neue Kulturgeschichte die Bühne, bei der Erfahrung, ein wichtiger Aspekt der empathischen Geschichte, eigentlich eine große Rolle spielte.

Das zweite und dritte Kapitel bringt die wichtigsten zeitgenössischen Definitionen der Empathie samt ihrer Beziehung zur historischen Forschung. Der Autor stellt fünf Definitionen vor, nämlich (a) Empathie als Rollenspiel oder Perspektivenübernahme, (b) als Teilen von Affekten, was nicht einer emotionalen Ansteckung gleichzusetzen sei, (c) als Verschmelzung, d.h. man verliert sich im Anderen, (d) als Identifizierung und (e) als Mitgefühl. Empathie in der Geschichtswissenschaft versuche, den Menschen der Vergangenheit dadurch zu verstehen, indem man deren Perspektive übernimmt. Wir greifen hier auf Begrifflichkeiten des bekannten deutschen Historikers Reinhart Koselleck zurück, der mit dem Begriff „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ einen engen Bezug zur Empathie eigentlich hergestellt habe, ohne dies damit zu verknüpfen. Erfahrungsraum sei die Vergangenheit der historischen Subjekte, eine gegenwärtige Vergangenheit und unter einem Erwartungshorizont werden alle Hoffnungen, Ängste und Zukunftserwartungen verstanden, eine vergegenwärtigte Zukunft. Koselleck hat die beiden Begriffe Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nie als Empathie tituliert. Noch erwähnenswert erscheint die Position von Geschichtswissenschaft, wenn die Historiker neben der Selbstreflexion und Selbstkritik auch die Position des äußeren Beobachters einnehmen müssen. (Hier könnte die Frage nach quantitativen Aspekten von Quellen, deren Art und Beschaffenheit gestellt werden. Kritisch formuliert, fehlt die Thematik der Heuristik und der Quellenkritik im vorliegenden Werk).

Besonderes Interesse erweckt das vierte Kapitel, das drei Beispiele empathischen historischen Verstehens vorstellt, nämlich erstens das Thema „Die Sozialdemokraten und die deutsche Revolution“, zweitens „Die Wannsee-Konferenz“ und drittens „das Schreiben über den Holocaust“, worauf wir näher eingehen. Zum Beispiel der Wannsee-Konferenz verweist Kohut darauf, dass sich „Geschichte und Stellenwert der Wannsee-Konferenz ein wenig anders dar [darstellt] als von außen gesehen“ (105).

Zutreffend und grundsätzlich wird formuliert, dass die „Beobachtungshaltung des Historikers bestimme, was wir von der Vergangenheit sehen und wissen“ (169). Dabei unterscheidet der Autor wiederum streng zwischen einer äußeren Perspektive, wie etwa die Erfahrungen der Betroffenen nicht erfasst, und eine empathische Perspektive. Je nach der gewählten Perspektive ergeben sich „unterschiedliche Sichtweisen der Vergangenheit“ (109). Wähle man eine empathische Position, müsse man sich klar darüber sein, „in welche Person oder in welche Personen der Vergangenheit wir uns einfühlen“ (109). Dieses Postulat gilt jedoch auch im Kontext der klassischen historischen Methode, insofern stellt sich die Frage, was das Neue sei. Dass man – hier am Beispiel des Holocaust –, wie zurecht Kohut betont, die Begrifflichkeit und die Sprache sorgfältig abwägen muss, kann nur grundsätzlich für die gesamte Geschichtswissenschaft unterstrichen werden. Spricht man von „Vernichtung“ oder „Endlösung“, so sei dies die Perspektive der Täter. Noch einmal sei die These bzw. das Anliegen des zu besprechenden Buches wiederholt: Der Historiker müsse wissen, welche Perspektive er einnimmt, wenn er über die Vergangenheit forscht und schreibt, also eine äußere oder eine empathische. Auch hier stellt sich dem Rezensenten die Frage, was ist hier tatsächlich neu? Ist nicht auch die Wahrung der Perspektive elementarer Bestandteil der historischen Methode, d.h. der Hermeneutik?

Das fünfte Kapitel richtet sich auf unsere Fähigkeit, empathisch verstehen, und diskutiert drei Faktoren, die als Voraussetzung empathischen Wissenserlangung gelten, nämlich das Wissen über den Kontext des historischen Subjekts, die Existenz spezifischer Erfahrungen sowohl des forschenden Historikers, wie auch seines historischen Subjektes und schließlich [A1] [A2] das Vorhandensein universaler Erfahrungen bzw. einer universalen menschlichen Natur. Zur genaueren Skizzierung darüber, was Empathie in der Geschichtswissenschaft heißt, wird von Heinz Kohut der Begriff der „stellvertretenden Introspektion“ eingeführt. Auf die psychologischen Beschreibungen und Interpretationen dazu brauchen wir – als Historiker – nicht weiter eingehen. Der zweite Aspekt, die Existenz spezifischer Erfahrungen beim Historiker wie auch beim historischen Subjekt, beinhaltet die Fähigkeit, uns in Menschen, die anders als wir sind, einzufühlen, d.h. wir müssen nicht unbedingt eine Erfahrung selbst gemacht haben, die ein anderer gemacht hat, um diese dann zu verstehen. Oder anders formuliert: „Das Lernen erschließt uns den Zugang zu zahllosen Erfahrungen, die wir nie selbst, direkt, machen können. Diese durch Lernen erworbenen Erfahrungen sind reale Erfahrungen, Erfahrungen, die den Wissensschatz erweitern, der es uns erleichtert, andere Menschen in der Gegenwart wie auch in der Vergangenheit zu verstehen“ (130).

Kapitel sechs formuliert als grundsätzliche Fragestellung, ob sich diejenige Empathie, mit deren Hilfe wir versuchen, die Menschen der Vergangenheit zu verstehen, von der Empathie unterscheidet, mit der wir Menschen unserer eigenen Gegenwart verstehen sollen. Ausgangspunkt für Kohut ist dabei die These, dass Historiker bei ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit die affektive, emotionale Dimension eher zurückweisen, sie sollen ihre eigene Gefühlswelt unter Kontrolle halten. Dagegen schreibt der Autor, dass wir, „wenn wir die Vergangenheit erforschen, erforschen wir auf gewisse Weise zugleich uns selbst“ (136). Kohut beruft sich hier auf den Geschichtsphilosophen LaCapra, der wiederum die „wechselseitigen kognitiven und affektiven Beziehung zwischen dem Historiker und der Vergangenheit, insbesondere den Menschen der Vergangenheit“ betont. Am Beispiel des Antisemitismus diskutiert der Autor, ob man Hitler rein intellektuell verstehen könne. Hier stellt sich erneut die Frage, wie, mit welchen Quellen usw. die Empfindungen unserer historischen Protagonisten zu erforschen sind. Wie eine empathische Geschichtsmethode auf dem Gebiet der Sozialgeschichte zu realisieren ist, bleibt unklar.

Das siebte Kapitel diskutiert mit Blick auf die sozialwissenschaftlich orientierten Historiker deren Ablehnung der empathischen Geschichtswissenschaft, weil „diese den Bereich des historischen Wissens auf die stets begrenzte und häufig verzerrte Perspektive der historischen Akteure beschränke“ (156). Erneut stellt sich die Frage, ob nicht auch der „herkömmlich“ arbeitende Historiker von einer „eigenen Beobachterposition aus“ entscheidet, „welche Aspekte historischer Erfahrung“ relevant sind,

Im achten Kapitel untermauert der Autor wiederum den Unterschied zwischen dem sozialwissenschaftlich orientierten Historiker, der als äußerer Beobachter seine historischen Subjekte erforschen will, und dem empathischen Historiker, der der Psychoanalyse nahekommt. Inwieweit der empathisch arbeitende Historiker tatsächlich der Gefahr des Determinismus entgehen kann, ist kritisch zu diskutieren. Dass sich letztendlich jeder wissenschaftlich arbeitende Historiker „die eigene Beobachtungsposition jederzeit bewusst zu machen hat, dürfte kaum zu bestreiten.“

Diskussion

Wie erwähnt, ist die hier verhandelte Thematik in der deutschen Geschichtswissenschaft kaum präsent. Für den Rezensenten als einen praktisch und „handwerklich“ arbeitenden Historiker stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit sich die klassische historische Methode tatsächlich fundamental von einer empathischen Geschichtswissenschaft unterscheidet. Will sagen, auch der Historiker ohne spezifische Kenntnisse der hier vorgestellten empathischen Methode muss „innere“ Faktoren seiner historischen Subjekte beachten. Gewinnbringend erscheinen partiell die Beispiele aus dem Kapitel vier. Einen wesentlichen Aspekt der historischen Arbeit, die Auseinandersetzung mit Quellen, die einen „inneren“ Zugang zu den historischen Subjekten ermöglichen, fehlt leider.

Fazit

Das vorzustellende Buch behandelt mit seinem Gegenstand, die Rolle der Empathie in der Geschichtswissenschaft, ein Themengebiet, das in der deutschen Geschichtsschreibung bislang kaum wahrnehmbar war. Es bietet insofern Ausblicke in weitere Arten von Geschichtsschreibung, wenngleich die Unterschiede zur üblichen historischen Methode nicht überbewertet werden sollten. Beide Richtungen formulieren gültige methodische Prinzipien im Prozess des historischen Erkenntnisprozesses.


Rezension von
Dr. phil. Manfred Krapf
M.A. (Geschichte/Politikwissenschaft), Dipl. Sozialpädagoge (FH), selbstständig tätig in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sozialpolitische Veröffentlichungen
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Es gibt 13 Rezensionen von Manfred Krapf.

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Zitiervorschlag
Manfred Krapf. Rezension vom 30.09.2024 zu: Thomas August Kohut: Empathie in der Geschichtswissenschaft. Einfühlendes Verstehen der menschlichen Vergangenheit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. ISBN 978-3-95558-341-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31044.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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