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Burkhart Brückner: Kurze Geschichte der Psychiatrie

Rezensiert von Prof.in Dr. Anja Katharina Peters, 31.01.2024

Cover Burkhart Brückner: Kurze Geschichte der Psychiatrie ISBN 978-3-8252-6053-8

Burkhart Brückner: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2023. 192 Seiten. ISBN 978-3-8252-6053-8. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 37,50 sFr.
Reihe: UTB - 6053. Soziale Arbeit, Medizin, Psychologie.

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Thema

Das Buch führt kompakt in die Geschichte der Psychiatrie und ihre historischen Vorläuferkonzepte seit der Antike ein. Da die Psychiatrie einem mitteleuropäischen Verständnis von psychischen Krankheiten und ihren Therapien entspringt, liegt der Fokus auf dieser Region. Gleichzeitig erweitert der Verfasser den historischen und regionalen Horizont, indem er auch entsprechende Krankheits- und Heiltraditionen aus Mexiko und Japan vorstellt.

Autor

Burkhart Brückner ist Psychologe und seit 2008 Professor für Sozialpsychologie, inkl. psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung an der Hochschule Niederrhein. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Psychiatriegeschichte; unter anderem leitet er das digitale Biographische Archiv der Psychiatrie.

Entstehungshintergrund

Brückners „Kurze Geschichte der Psychiatrie“ wurde 2023 als utb-Band aus dem Psychiatrie-Verlag veröffentlicht und richtet sich im Kontext dieser Reihe vor allem an Studierende und Lehrende. Gleichzeitig hat Brückner den Anspruch, auch Psychiatrie erfahrenen und ihren Zugehörigen historischen Kontext für ihre Erfahrungen zu geben. Das Buch erschien 2023 außerdem unter dem Titel „入門 精神医学の歴- Geschichte der Psychiatrie“ in japanischer Übersetzung (Nippon Hyoronsha).

Aufbau

Das Buch folgt dem klassischen Aufbau medizinhistorischer Übersichtswerke und beschreibt die Entwicklung der Disziplin – hier der Psychiatrie – von der Antike bis in die Gegenwart. Diese Darstellung verdichtet sich im 19. und 20. Jahrhundert – also in der Epoche, in der sich die Psychiatrie ausbildete, wie wir sie heute definieren.

Inhalt

Ich gestehe: Als ich sah, dass Brückner mit der Antike beginnt, setzte bei mir sofortige Skepsis ein, sind Begriffe wie „Psychiatrie“ und unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit doch neuzeitliche Konzepte. Der Autor löst diese Skepsis jedoch sofort auf, indem er aufzeigt, wie diese Konzepte Denkschulen aufgriffen und teilweise neu interpretierten; er stellt die antike und mittelalterliche Geschichte von Seelenheilkunde, Wahn, Visionen, Tollheit und Melancholie als Kontext heutigen Psychiatrieverständnisses dar.

Der Rückblick führt zunächst in die mesopotamische und ägyptische Tempelmedizin ein. Die in Ägypten vermittelte Lehre, dass das Herz Sitz von Denken und Fühlen wäre, mutet beinahe modern leibphänomenologisch an. Gerade für Studierende wird es interessant sein zu lesen, wie in den griechischen Stadtstaaten viele noch heute gebräuchliche Begriffe wie „Manie“ oder „melancholisch“ gebildet wurden (S. 17 f.). Nach einem Abriss der römischen Medizin stellt Brückner die Ursprünge ostasiatischer Heilkunde dar. Bemerkenswert ist, dass – bei allen Unterschieden – auch dort Klöster und Tempel zu zentralen Anlaufstellen für Kranke wurden. Die Verbindung von Medizin und Seelsorge war universell.

Im europäischen Mittelalter war die Bandbreite des Umgangs mit Menschen, die sich nonkonform verhielten, stark abhängig von ihrer sozialen Stellung und der Interpretation ihres Zustandes und ihrer Erzählungen. Brückner macht auch deutlich, dass es sich bei der retrospektiven Betrachtung zu einem gewissen Grad immer im Deutung handelt: „Wer über Visionen berichtete und ansonsten als gesund galt, schien eine besondere Empfänglichkeit für die übersinnliche Welt zu besitzen. Nicht die Form der Erfahrung stand zur Debatte, sondern ihr Inhalt, nämlich die Frage, ob dieser Inhalt gottgefällig blieb oder von Dämonen beeinflusst zu sein schien. Darüber entschieden die Theologen. Deshalb sollten visionäre Phänomene rückblickend auch als solche bezeichnet werden, ohne sie mit »Halluzinationen« im heutigen Sinne zu verwechseln.“ (S. 33)

Spannend ist im Kapitel über die Renaissance die ausführliche Falldarstellung des Hieronymus Wolf (1516-1580), der davon überzeugt war, das man ihn verhexen und vergiften wollte. Auch hier kontextualisiert Brückner sorgfältig, indem er Wolfs Erleben in den zu seiner Zeit allgegenwärtigen Glauben an Übernatürliches einordnet. In dieser Epoche setzte eine allmähliche Professionalisierung der medizinischen Berufe ein und die sozialen Verwerfungen der frühen Neuzeit führten zu zahlreichen Spital- und Anstaltsgründungen. Währenddessen bestanden auf dem Gebiet des heutigen Mexikos – ein weiterer regionaler Exkurs – vermutlich europäische und indigene Therapieansätze zumindest vorläufig nebeneinander.

Die folgenden Kapitel über die Entwicklung der Psychiatrie, behandeln schwerpunktmäßig Großbritannien, Frankreich und das Deutsche Reich, dessen Ärzte sich als besonders deutungsmächtig erweisen sollten. Auch die sich entwickelnde moderne Psychiatrie in Japan war wesentlich von deutschen Ansätzen geprägt. Ich fand die Vorstellung der japanischen Familienpflege (shitaku kanchi) vor dem Hintergrund der häufig verallgemeinernden Kritik an der stationären Psychiatrie interessant, zeigt sich daran doch, dass eine stationäre Unterbringung auch Befreiung von unzureichender familiärer Betreuung bedeuten kann.

Allerdings dauerte es auch im Deutschen Reich lange, bis sich ein Paradigmenwechsel vom Ordnungsrechtlichen zur am Individuum orientierten tatsächlichen Heilkunde vollzog. An zahlreichen Beispielen demonstriert Brückner den Wandel vom Tollhaus zur Klinik. Bemerkenswert ist wiederum – wie mit Kempe und Wolf – der Einbezug der Patient:innenperspektive: Im 19. Jahrhundert veröffentlichte Friedrich Krauß (1791-1868), der sich verfolgt sah und unter seinen sensorischen Empfindungen sehr litt, seine Erlebnisse als – wie wir heute sagen würden – Psychiatrieerfahrener. Brückner räumt dieser Beschreibung ausreichend Raum ein und hebt sein Buch dadurch von den üblichen ärztlich zentrierten medizinhistorischen Werken ab, ohne dass die Größen der Zunft wie der politisch nicht unumstrittene Emil Kraepelin (1856-1926) vernachlässigt werden würden. Kraepelins Einfluss auf die Entwicklung der Psychiatrie bis nach Japan wird ebenfalls aufgezeigt.

Vor dem Hintergrund des enormen Entwicklungssprungs innerhalb zweier Jahrhunderte bleibt die Behandlung des größtmöglichen disziplinären Zivilisationsbruches – die Verstümmelung und Ermordung hunderttausender Psychiatriepatient:innen, Menschen mit Behinderung und Unangepasstheit während des NS – notwendigerweise fast unbefriedigend kurz. Hier wäre ein unmittelbarer Verweis auf weiterführende Literatur – auch zur NS-Geschichte der Pflegefachpersonen in der (kinder- und jugend-)psychiatrischen Pflege – wünschenswert gewesen.

Die Kapitel über die Nachkriegsgeschichte fokussieren auf die westlichen Länder und führen in die Einführung von Psychopharmaka, den Aufbau gemeindepsychiatrischer Strukturen und die Enthospitalisierungsdebatte ein. Die Arbeit der bundesdeutschen Psychiatrie-Enquête wird vorgestellt und die daraus resultierende Psychiatriereform zusammenfassend beschrieben. Die Rodewischer Thesen werden nur kurz erwähnt; dabei wurden sie – wenngleich weniger wirkmächtig als die westdeutsche Enquête – einige Jahre vor deren Bericht veröffentlicht. Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte Medizingeschichte gesamtdeutsch betrachtet und dargestellt werden.

Das Buch schließt mit einer Einführung in die sich ausbildende biopsychosoziale Psychiatrie als eine medizinische Disziplin, die sich aus zahlreichen Bezugswissenschaften speist.

Diskussion

Autoren solch kompakter Übersichtswerke haben den Nachteil, dass jede:r, die/der zu einem Teilgebiet des Themas intensiv forscht, der Überzeugung ist, dass ausgerechnet das eigene Fachgebiet viel zu kurz behandelt wurde – auch diese Rezension ist nicht frei davon: Als Pflegewissenschaftlerin komme ich nicht umhin zu bemängeln, dass ein Buch, in dem „das Selbstverständnis medizinischer, pflegerischer, sozialer und psychologischer Berufe“ reflektiert werden soll (Klappentext) ausgerechnet die psychiatrische Pflege nur am Rande und äußerst unscharf behandelt.

Der Vorteil liegt jedoch für das angesprochene Publikum gerade in dieser Kürze: Das Buch bietet einen Überblick über die Psychiatriegeschichte und macht möglicherweise Lust darauf, mehr zu entdecken oder selbst Fragestellungen zu entwickeln und in Abschlussarbeiten näher zu explorieren.

Der Autor hat sich entschieden, „ausgewählte Literatur“ in das Literaturverzeichnis aufzunehmen. Vor allem in der ersten Hälfte des Buchs verzichtet Brückner auf Literaturverweise im Text. Das macht dieses gerade für Studierende geeignete Übersichtswerk nun ausgerechnet in den erwähnten Bachelor- und Masterarbeiten nur bedingt zitierfähig und erschwert dem wissenschaftlichen Nachwuchs die eigenständige vertiefte Befassung mit den Quellen des Profis. Bei der ausführlichen Darstellung der Krankheits(?)geschichte von Margery Kempe (ca. 1373 – ca. 1440) wäre es wünschenswert gewesen, auf Janina Ramirez zu verweisen, die Kempe in ihrem Buch „Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It“ erst 2022 ausführlich dargestellt hat (deutsche Übersetzung 2023 bei Aufbau), oder auf die zahlreichen meist weiblich zu lesenden Wissenschaftler:innen, die sich ebenfalls mit Kempe befasst haben.

Insgesamt ist diese prägnant zusammengefasste Geschichte der Psychiatrie eine empfehlenswerte Einführung in die Geschichte der Psychiatrie v.a. für Studierende der genannten Disziplinen und interessierte Betroffene und Lai:innen. Besonders Brückners Einbezug außereuropäischer Psychiatriegeschichte und das Aufzeigen internationaler wissenschaftlicher Netzwerke macht das Buch zu einer horizonterweiternden Lektüre – in einer Zeit eines neu um sich greifenden Nationalismus und Separatismus ist dieser Blickwinkel für die akademische Kultur und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses bedeutsam.

Für weitere Auflagen wäre ein Glossar wünschenswert.

Fazit

Die „Kurze Geschichte der Psychiatrie“ von Burkhart Brückner bietet eine prägnante Übersicht über mehrere Jahrhunderte der Medizingeschichte. Das Buch stellt neben der mitteleuropäischen Psychiatriegeschichte auch Traditionslinien in Mexiko und Ostasien vor. Es richtet sich sowohl an Studierende und Lehrende als auch an Psychiatriepatient:innen und ihr Umfeld.

Rezension von
Prof.in Dr. Anja Katharina Peters
Professorin für Pflege/Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden https://ehs-dresden.de/index.php?id=606&username=Anja.Peters
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Es gibt 2 Rezensionen von Anja Katharina Peters.

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Zitiervorschlag
Anja Katharina Peters. Rezension vom 31.01.2024 zu: Burkhart Brückner: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2023. ISBN 978-3-8252-6053-8. Reihe: UTB - 6053. Soziale Arbeit, Medizin, Psychologie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31048.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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