Gabriele Dahn: Erste Hilfe Kartenset
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 30.10.2023

Gabriele Dahn: Erste Hilfe Kartenset. Systemische Fragen für emotionale Notlagen. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 120 Seiten. ISBN 978-3-8497-0495-7. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
„Dieses Kartenset ist der Erste-Hilfe-Koffer für alle Menschen, die andere in emotionalen Notlagen begleiten. Es umfasst drei Fragebereiche. Die ersten beiden geben Unterstützung für existenzielle Lebenssituationen: Krisen, Scheitern und Misserfolge. Der dritte Fragenbereich fasst Resilienz und Inspiration in den Blick und vermittelt sowohl lösungsorientierte Ideen, die akut wirksam sind, wie auch Aspekte, die präventiv wirken.“ (Klappentext)
Autorin
Die Autorin, Systemische Therapeutin und Supervisorin in freier Praxis sowie Weiterbildnerin für systemische Beratung und Therapie, legt nach ihrem 2020 erschienenen „Life-Balance Kartenset“ ein zweites Praxis-Tool vor.
Aufbau und Inhalt
Ein 30seitiges A6-formatiges Booklet informiert über theoretische Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten des Kartensets, das aus 40 roten Fragekarten zum Thema Krisen, 20 pinken Karten zu Scheitern und Misserfolg, sowie 60 Karten zur Aktivierung von Resilienz und Inspiration besteht.
Unter Bezug auf verschiedene Autor*innen (Cullber, Caplan, Kast, Kübler-Ross, Junker) definiert die Autorin: „Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, dass – zumindest zunächst – keine adäquaten Ideen für mögliche Lösungswege erkennbar sind. … Die alten Routinen machen häufig alles nur noch schlimmer und die Lage entgleitet immer mehr. Es ist vergleichbar mit einem Auto, das im Schlamm steckengeblieben ist und sich immer tiefer eingräbt, je mehr der Fahrer versucht, durch den entschlossenen Tritt auf das Gaspedal herauszukommen.“ (9/10)
Beispiele zu den Krisenkarten: „Aus welchem Grund wäre es verständlich, Sie würden jetzt aufgeben?“ (2); „Was wäre ein Schritt, an dem Sie bemerken würden, dass es besser wird?“ (6); „Welche Ihrer Eigenschaften und Stärken haben Ihnen bisher weitergeholfen?“ (10); „Wenn Sie beschließen würden, sich für das Überstehen dieser Umstände zu belohnen, was würden Sie tun?“ (18); „Was wäre eine Lösung, auch wenn es die schlechteste wäre?“ (24); „Zu welcher neuen Fähigkeit könnte Ihnen diese Situation verhelfen?“ (33).
Wenngleich Dahn Scheitern als Vorstufe oder Grundlage (späteren) Erfolges begreift weist sie darauf hin, dass das möglicherweise existenzielle Erleben eines Misserfolgs nicht nur eines lösungsorientierten Refraiming im eben erwähnten Sinne bedarf, sondern dass ebenso Innehalten, Aushalten, Reflektion nötig sind, und in einer Kultur, die Scheitern tabuisiert, Menschen in die Lage versetzt werden müssen, sich mitzuteilen, ihre Erfahrungen zu teilen und so Unterstützung zu erfahren.
Beispiele der Fragen zu Scheitern und Misserfolg: „Vor den Hintergrund der aktuellen Erfahrung, was würde Sie beim nächsten Mal möglicherweise anders machen?“ (1); „Wieviel Zeit möchten Sie sich nehmen, um den Misserfolg zu verarbeiten, und was werden Sie dann als Nächstes tun?“ (7); „Wann haben Sie schon einmal von einem Misserfolg profitiert?“ (12); „Wem werden Sie auf keinen Fall, wem auf jeden Fall von der Situation erzählen?“ (14); „Inwieweit könnte der Satz ‚Scheitern ist ein wesentlicher Bestandteil des Erfolgs!‘ auch auf ihre Situation zutreffen?“ (15); „Wen haben Sie schon einmal für den Umgang mit einem Misserfolg bewundert?“ (19).
In der Beschreibung der Resilienz, der Fähigkeit von Personen, Krisen oder widrigen Lebensumständen zu widerstehen, sie auszuhalten und an ihnen zu wachsen folgt die Autorin dem Sieben-Säulen-Modell von Ursula Nuber: „Optimismus – Akzeptanz – Lösungsfokussierung – Selbstwirksamkeit – Übernahme von Verantwortung – Netzwerkorientierung – Zukunftsplanung“ (17). Dahn ergänzt den Aspekt der „Spiritualität und Sinnhaftigkeit“.
Beispiele für die Fragekarten zu Resilienz und Inspiration: „Was müssten Sie tun, um verlässlich in Stress zu kommen?“ (10); „Was können andere im Umgang mit Krisensituationen von Ihnen lernen?“ (12); „Wenn Sie sich Ihre Stärken als Person vorstellen, welche beiden hätten Sie gerne immer in Ihrer Nähe?“ (20); „Was kann bei Ihnen ein Hands-on-Gefühl auslösen? Was sorgt dafür, dass Sie gerne mit anpacken?“ (36); „Wo erleben Sie sich als Teamplayer? Was bewirkt das in der Gruppe, in der Sie sich bewegen?“ (45); „Was, denken Sie, könnte an Mittelmäßigkeit das Schönste sein?“ (54).
Auf acht Seiten des Booklet werden knapp und pointiert erfahrungsbasierte Vorschläge zur Anwendung des Kartensets unterbreitet. Sie beziehen sich auf individuelle Konstellationen in Beratung, Coaching oder Therapie, sowie auf Gruppenkontexte (Supervision oder Bildungsveranstaltungen) als Einstiegs- oder Abschlussmethode.
Diskussion
Im Gegensatz zu komplexeren und ausführlicheren systemischen Methodensammlungen (Ressourcenübungen und dgl.), lässt das Fragekartenset (zumindest auf den ersten Blick) eine niedrigschwellige und spontane Nutzung zu. Gleichwohl liegt der Effekt des Einsatzes der Karten in der sich daraus ergebenden Metakommunikation, die umso reflexiver und lösungsorientierter gelingen wird, je fachlich versierter, routinierter, erfahrener die jeweilige Nutzerin ist.
Fazit
Dass systemische Fragen – und da ist das von Dahn erarbeitete Set ein gutes Beispiel – in ihrer oft paradoxen, provokativen, humorvollen, einladenden Art viele Entwicklungschancen und neue Sichtweisen eröffnen und mutmaßlich wenig Regressionsrisiken beinhalten, sei abschließend erwähnt.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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