Jochen Peichl: Jenseits der therapeutischen Beziehung
Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 05.12.2023
Jochen Peichl: Jenseits der therapeutischen Beziehung. Was wirkt in Hypnotherapie und hypnotherapeutischer Teiletherapie?
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2023.
93 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0498-8.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Hypnose und Hypnotherapie.
Thema
Mit dem Fokus auf Hypnotherapie thematisiert das Buch weitere Wirkfaktoren, die neben dem Wirkfaktor „Therapeutische Beziehung“ relevant sind.
Autor
Dr. Jochen Peichl ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Nach Tätigkeiten an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München und der Klinik für Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin in Nürnberg ließ er sich als Psychotherapeut in eigener Praxis nieder. Er besitzt u.a. Ausbildungen in EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) und in Ego-State-Therapie.
Aufbau und Inhalt
Basierend auf den Grundideen der Ego-State-Therapie versucht Peichl mit der von ihm so genannten hypnotherapeutischen Teiletherapie Wirkprinzipien erfolgreicher Psychotherapie jenseits der (unbestritten wichtigen) therapeutischen Beziehung zu erkunden. Ausdrücklich erhebt er nicht den Anspruch, „eine weitere akademische Arbeit zur Publikation in einem hoch angesehenen Journal zum Thema 'Wirkfaktoren in der Psychotherapie' “ zu verfassen (S. 10), vielmehr geht es ihm um eine „persönliche Spurensuche“ (ebd.) nach Wirkmechanismen neben der therapeutischen Beziehung.
Diese Spurensuche wird in neun Kapitel nachgezeichnet (daneben gibt es eine Einleitung, einen Ausblick, Literaturangaben und Informationen über den Autor):
1. Die therapeutische Beziehung: Alles oder nichts oder?
2. Wirkfaktoren in der Psychotherapie aus hypnotherapeutischer Sicht
3. Wirkfaktoren in der Psychotherapie aus systemischer Sicht
4. Dauerhafte Veränderung durch Rekonsolidierungsprozesse
5. 5. Wirkfaktor: Nebeneinanderstellungs-Erfahrung
6. Was wirkt in der hypnotherapeutischen Traumatherapie?
7. Enaktive Therapie [1] und Konstruktivismus: die Konstruktion einer gemeinsamen therapeutischen Realität
8. Duale Aufmerksamkeit als genereller Wirkfaktor
9. Die Verbindung zwischen Defaultmodus-Netzwerk [2] und Wirkfaktoren
Die therapeutische Aufweichung von unerwünschten Mustern, Schemata und rigiden Denkstrategien setzt – so Peichl – korrigierende emotionale Erfahrung voraus. Er hält eine (konfrontative) Gegenüberstellung von methoden- bzw. störungsspezifischen Wirkfaktoren zur Erreichung solcher Erfahrungen für irreführend: auch als allgemein betrachtete therapeutische Maßnahmen werden stets im Kontext therapeutischer Techniken, z.B. Aufmerksamkeitslenkung, Ressourcenaktivierung usw., angewandt. Andererseits schließt Peichl aus Untersuchungen zu Therapeuteneffekten, dass nicht die therapeutische Methode, sondern – neben den vom Klienten eingebrachten Faktoren – vor allem die Persönlichkeit des Therapeuten zu einer erfolgreichen Therapie beiträgt (Kap. 3).
Wenn, wie die bislang wenig bekannte Kohärenztherapie betont, ein Symptom als Ausdruck unbewusster, in der Vergangenheit erlernter Konstrukte und somit als notwendige Lösungsstrategie aufzufassen ist, so sollte es mit der Auflösung solcher Konstrukte verschwinden. Erreicht werden soll das durch Identifizierung von widerlegendem Wissen.
In der Sprache von Peichls Teile-Therapie liegt der Schlüssel zur Veränderung in der „Nebeneinanderstellungs-Erfahrung“, d.h. in der Wahrnehmung gleichzeitiger, aber unvereinbarer Erfahrung; diese stärkt die Selbstreflexionsfähigkeit. Ist es gelungen, das generalisierte Schemawissen infrage zu stellen, braucht es für das Umlernen eine Transformationserfahrung, durch die Klient sein Symptom als etwas von ihm selbst Hervorgebrachtes akzeptiert, das nicht alles, aber doch ein Teil von ihm ist. Peichl schildert die aus Morenos Psychodrama stammende Stühletechnik, in der Klient abwechseln die Rollen des (erwachsenen) Klienten und des inneren Therapeuten übernimmt, und der reale Therapeut als Supervisor des inneren Therapeuten fungiert.
Im weiteren Verlauf benennt Peichl die Ziele der hypnotischen Trauma-Therapie: Personifikation (das Trauma und alle seelischen und verhaltensmäßigen Handlungen gehören zu mir), Präsentifikation und Personifikation (das traumatische Ereignis gehört der Vergangenheit an; und: das damalige Ich ist das heutige Ich) sowie Synthese (das Jetzt ist realer als das Frühere). Durch gezielte Aufmerksamkeitslenkung auf die Zeitachse wird die Dominanz des Vergangenen zugunsten der Gegenwart aufgegeben.
Dem wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus folgend ist die Kernaussage der Enaktiven Therapie: Klient(in) und Therapeut(in) konstruieren zusammen die gemeinsame therapeutische Realität. Und: Zwischen Problementstehung und Problemfortbestand gibt es keine kausale Beziehung, sondern nur zwischen Fortbestehen und (gescheitertem) Lösungsversuch.
Hinsichtlich des Wirkfaktors „Doppelte Aufmerksamkeit“ gilt: Bei der Aktualisierung des traumatischen Situation stellt der (die) Therapeut(in) eine sichere Position außerhalb des Traumas zur Verfügung; die Erinnerungssituation ist der sichere Ort. An diesem kann die Veränderung von Schemata zugunsten neuer Lösungen stattfinden. Für den Abruf autobiografischer gedanklicher Inhalte sind Teile des Default-Modus-Netzwerkes zuständig. Seine Aktivität verstärkt sich u.a. bei der Konzentration auf das Selbst oder episodische Repräsentation und fördert damit Prozesse der Selbstreflexion, Sinn- und Bedeutungsgebung und der Zielorientierung – zum Preis der Reduktion potenzieller Alternativen. Peichl bringt das mit dem Konzept der Entropie [3] und der Erhöhung bzw. Verminderung von Ich-Bezogenheit in Verbindung: Lösungen werden sichtbar, wenn festgefügte Assoziationen gelockert werden.
Diskussion
Die Beziehung zwischen Klient(in) und Therapeut(in) ist ein wichtiger Wirkfaktor in der Psychotherapie – darin sind sich (mit unterschiedlicher Gewichtung) alle Therapieschulen einig. Fragt man sich, wie diese Beziehung entsteht, was sie aufrechterhält und verändert, so liegt eine Antwort nahe: das, was die beteiligten Akteure miteinander tun. Und das umfasst dann das Verhalten des Therapeuten/der Therapeutin; die Interventionen sind Bestandteile des Wirkfaktors Beziehung, und zwar – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – alle. Wenn man diesem Gedankengang folgt, ist nicht nur die Unterscheidung von methoden/störungsspezifischen vs. allgemeinen Wirkfaktoren fragwürdig, sondern auch die zwischen beziehungsspezifischen und (nennen wir es mal so) interventionsspezifischen Wirkfaktoren.
Bei seiner Spurensuche konzentriert sich Peichl auf Wirkfaktoren, die mehr oder weniger direkt durch die/den Psychotherapeutin(en) (mit)gestaltet werden [4], und unter diesen auf solche, die v.a. in den hypnotherapeutischen Teilemodellen thematisiert werden. Das entstehende Bild ist vielfältig und wenigstens auf den ersten Blick nicht immer eindeutig [5]; es lohnt sich, seinen Verästelungen nachzuspüren, obwohl oder grade weil es nicht vorgibt, vollständig zu sein.
Fazit
Das Buch lädt fachkundige Leser, die an den Wirkprinzipien von Hypnotherapie interessiert sind, zum Mit- und Weiterdenken ein.
[1] Enaktive Traumatherapie ist eine Methode für die Behandlung von chronischen traumabezogenen Dissoziationen der Persönlichkeit und basiert auf der Theorie der Strukturellen Dissoziation.
[2] Das Default Mode Network (Ruhezustandsnetzwerk) ist eine Gruppe von Gehirnregionen, die beim Nichtstun aktiv werden. Es ist mit Tagträumerei und einer introspektiven Beschäftigung mit der eigenen Identität, verbunden.
[3] Erhöhte Entropie entspricht hoher Unordnung und damit Flexibilität.
[4] Empirische Befunde deuten darauf hin, dass ein Großteil von Veränderungsvarianz durch therapeutenunabhängige Faktoren (Klientenvariablen, extratherapeutische Prozesse) zu erklären ist.
[5] Vgl. die Rolle der Selbstreflexion in der Nebeneinanderstellungserfahrung und in der verminderten Entropie.
Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied
und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der
FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische
Psychotherapie.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 05.12.2023 zu:
Jochen Peichl: Jenseits der therapeutischen Beziehung. Was wirkt in Hypnotherapie und hypnotherapeutischer Teiletherapie? Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2023.
ISBN 978-3-8497-0498-8.
Reihe: Hypnose und Hypnotherapie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31061.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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