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Wilhelm Rotthaus: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) von Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Rezensiert von Heribert Wasserberg, 31.10.2023

Cover Wilhelm Rotthaus: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ISBN 978-3-8497-0497-1

Wilhelm Rotthaus: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 192 Seiten. ISBN 978-3-8497-0497-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Störungen systemisch behandeln.

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Thema

Wie alle psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Diagnosen ist auch der Gegenstand dieses Buches ein Ergebnis einer Fachdebatte. Man hat sich darauf verständigt, behandlungsbedürftige Krankheitsbilder unter der Bezeichnung „Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)“ zu erfassen, weiter zu untersuchen und zu behandeln. Jedenfalls arbeitshypothetisch, denn die Karriere der Erkrankungsbezeichnung NSSV ist kurz und erscheint unstet. Als eigenständige diagnostische Entität hielt die NSSV erst im Jahre 2013 Einzug in eines der großen internationalen Diagnostik-Manuale, nämlich in das US-amerikanische DSM 5, allerdings nicht als formal anerkannte Diagnose, sondern nur als Störungsbild mit weiterem Forschungsbedarf. (S. 13). In der ICD-10 war ihr noch nur die Wertigkeit eines Symptoms einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ zugeschrieben worden. Umstritten scheint insbesondere, ob das Fehlen von Suizidalität hinreichend konstitutiv für die Diagnosebildung sein kann oder nicht. Begriffe wie „absichtliche Selbstverletzung“ oder „Parasuizid“ halten sich als übergeordnete Gattungsbegriffe des NSSV. Doch worum geht es bei der NSSV, und (wie) lässt sie sich behandeln?

Interessenskonflikt?

Der Rezensent nahm den Vorschlag für diese Buch gerne an, weil er selbst bis in die jüngere Vergangenheit selbstverletzendes Verhalten praktizierte. (Allerdings seiner Einschätzung nach klar suizidaler Natur.) Daher berührt dieses Buch ein erhöhtes sachliches, aber keine kommerziellen oder anderen Interessen.

Autor

Dr. med. Wilhelm Rotthaus, Arzt, Musiker, Therapeut sowie Autor und Herausgeber von Fachbüchern, war bis 2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereiches Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. (S. 202)

Entstehungshintergrund

Das Buch ist Band 20 der von Wilhelm Rotthaus mit herausgegebenen Reihe „Störungen systemisch behandeln“. (Einführung in die Reihe S. 2; Übersicht über die Reihe S. 203)

Aufbau

Ziel dieses Buches ist es, Therapeutinnen und Therapeuten dafür zu öffnen, „Menschen, die sich selbst verletzen, mit einer Haltung von Gelassenheit und Akzeptanz, Wertschätzung und Respekt begegnen zu können. Wilhelm Rotthaus vermittelt dazu therapeutische Konzepte (…) und beschreibt unterschiedliche Vorgehensweisen mit konkreten Anregungen für die Praxis.“ (Buchumschlag) Von daher gehen den therapeutischen Kapiteln 7–14 vier Erklärkapitel zum Krankheitsbild voran. Das sechste Kapitel mit seinen Generellen Empfehlungen für den Umgang mit selbstverletzendem Verhalten (S. 87–99) bildet das Scharnier zwischen den beiden Buchteilen. Eine Einleitung, und Listen der Literatur, Jugendliteratur und der relevanten Links zum Thema runden das Buch ab.

Inhalt

Im Erklärteil des Buches wird ganz tief ausgeholt; dem Kapitel über das klinische Erscheinungsbild (S. 13–65) wird ein kulturhistorischer Überblick (S. 36–48) und ein kurzes Kapitel über selbstverletzendes Verhalten von Tieren (S. 48–50) an die Seite gestellt. Einen breiten Raum nehmen die Erklärmodelle für Auftreten, Ursache und Verlauf von NSSV (S. 50–87) ein, also der Analyse der Risikofaktoren, der Funktionen und des Aufrechterhaltens selbstverletzenden Verhaltens, sowie der neurobiologischen Erklärungen für dieses Verhalten.

Im Therapieteil werden zunächst die anderen neun Psychotherapieverfahren vorgestellt (S. 99 bis 110), bevor der Autor das eigene Therapiekonzept umreißt (S. 110–115) und die Vorgehensweisen vorstellt (S. 115–168). In den zumeist sehr kurz gehaltenen weiteren Therapiekapiteln werden diese Vorgehensweisen fokussiert auf die wesentlichen therapeutischen Verfahren und Situationen, von der Stationären Psychotherapie bis zur Schule und zur Einrichtung der Jugendhilfe. In den therapeutischen Kapiteln begegnet der Leser vielen Questionaren und konkret gehaltenen Empfehlungen für therapeutische Interventionen.

Hervorzuheben sind die Generellen Empfehlungen für den Umgang mit Selbstverletzendem Verhalten, denn Wilhelm Rotthaus lässt hier zunächst Patienten mit diesem Krankheitsbild zunächst mit ihrem „Forderungskatalog“ (S. 87–89) selbst das Wort ergreifen: „Lehnt uns nicht ab!“, und gibt den Lesenden eine Bill of Rights der Angehörigen dieser Patientengruppe an die Hand (S. 91–95). Diese Passagen des Buches sind empehlenswert für alle Professionen und alle psychischen Erkrankungsbilder. Sie werden in diesem Kapitel ergänzt um Verhaltensempfehlungen bei akuten Selbstverletzungen, bei der Wundversorgung und um generelle Therapieempfehlungen.

Diskussion

Mit der Erfahrung des langjährigen Autors und erworbenen Professionalität des Herausgebers einer psychotherapeutischen Fachbuchreihe erschließt Wilhelm Rotthaus in diesem Buch einer Fachöffentlichkeit das Feld des Nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhaltens von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (NSSV). Aufbau und Vortragsstil wirken geordnet, ruhig und klar.

Sympathisch ist, wie schon hervorgehoben wurde, das Anliegen des Buches, unter den professionell mit NSSV-Patienten Befassten für Respekt und Akzeptanz für ihre Patienten sorgen zu wollen. Allerdings hätte man dem Autor hier mehr Entschlossenheit gewünscht, und dem Buch ein Kapitel über Ekel, Verachtung und andere negative Gefühle in Bezug auf behandlungsbedürftiges Verhalten, welches Anstoß erregt. Generell, so meint der Rezensent, auch aus seiner eigenen Patientenerfahrung heraus, verdiente das verbreitete Phänomen der Verachtungsgefühle der Therapeuten für ihre Patienten und wie man damit professionell umgeht, einen eigenen Raum in den psychotherapeutischen und psychiatrischen Lehrbüchern.

Ein wenig verwirrend ist die Tatsache, dass der Verfasser ein eindeutig junges Krankheitsbild mit der Konstruktion von historischen Kontinuitäten in der Menschenwelt und in der Tierwelt erklärerisch beizukommen versucht, jedoch auf ein analytisches Kapitel über das NSSV als junges Krankheitsbild verzichtet. Eine medizin- und krankheitssoziologische Betrachtung des NSSV wäre wünschenswert gewesen, um NSSV und NSSV-Behandlung der Leserschaft als das, was sie sind, zu erschließen: als Phänomene der Moderne.

Genauer formuliert: als unverstandene Phänomene der Moderne. Das Buch löste Traurigkeit aus beim Rezensenten, denn die nahezu unzählbar erscheinenden miteinander und gegeneinander konkurrierenden Erklärmodelle und Therapieformen riefen den Eindruck hervor: NSSV ist terra incognita – und man sollte aktuell jede generalisierte Hoffnung fahren lassen, dass Therapierende wissen, was sie tun, wenn sie dieses Verhalten therapieren wollen. Nahezu alles Mögliche scheint dieses Verhalten auslösen zu können – oder auch nicht. Das kann nicht überzeugen. Eingangs dieser Rezension wurde gefragt, worum geht es bei der NSSV, und (wie) sie sich behandeln lässt. Die Antworten erscheinen dürftig. Immer wieder einmal wird in dem Buch die Reserviertheit und begrenzte compliance unter den Patienten thematisiert. Sie erscheint dem Rezensenten nicht verwunderlich, denn die begrenzten Erkenntnisse und Möglichkeiten der Therapierenden werden den Patienten schwerlich entgehen können.

Dennoch hat dieses Buch selbstverständlich seine Berechtigung, da es nun einmal selbstverletzendes Verhalten gibt, und dieses Buch dabei zu helfen versucht, hiermit professionell umzugehen. Dass der hier referierte Kenntnisstand lückenhaft ist, ist dem Buch und seinem Verfasser nicht vorzuwerfen. Hoffen wir auf bessere Zeiten, in welchen NSSV besser verstanden und therapiert werden kann.

Fazit

Wilhelm Rotthaus bereitet für Therapierende und Angehörige anderer Professionen, die mit Nichtsuizidalem selbstverletzenden Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (NSSV) dieses neue, schwierige und schwierig zu behandelnden Erkrankungsbild auf. Er gibt Behandlungsangebote aus der systemischen Psychotherapie an die Hand und beeindruckt mit seinem Eintreten für einen respektvollen Umgang mit selbstverletzenden Menschen.

Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
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Es gibt 14 Rezensionen von Heribert Wasserberg.

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Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 31.10.2023 zu: Wilhelm Rotthaus: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. ISBN 978-3-8497-0497-1. Reihe: Störungen systemisch behandeln. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31064.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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