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Elisabeth Wagner, Christoph Eckert et al.: Borderline-Persönlichkeitsstörung

Rezensiert von Heribert Wasserberg, 19.12.2023

Cover Elisabeth Wagner, Christoph Eckert et al.: Borderline-Persönlichkeitsstörung ISBN 978-3-8497-0496-4

Elisabeth Wagner, Christoph Eckert, Katrin Hiesberger-Kamleitner: Borderline-Persönlichkeitsstörung. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 211 Seiten. ISBN 978-3-8497-0496-4. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Störungen systemisch behandeln.

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Thema

Das Buch stellt eine störungsspezifisch angepasste leitliniengerechte systemische psychotherapeutische Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung vor.

Hintergründe

Mit der Implementierung der ICD-11 vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Kategorisierung der Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen. Der Grund: „Die Annahme, die Merkmale von Persönlichkeitsstörungen ließen sich in zehn Kategorien einteilen, die von einer normalen Persönlichkeit deutlich abgegrenzt werden können, ist falsch.“ (S. 30) Die bisherigen Persönlichkeitsstörungs-Typen werden abgeschafft und durch eine rein dimensionale (schwach – mittel – schwer) Erfassung der Persönlichkeitsstörungen (PS) ersetzt. Eine PS im Sinne des neuen Paradigmas liegt dann vor, wenn eine mindestens über zwei Jahre andauernde situationsübergreifende Störung im Funktionsbereich des Selbst und/oder der interpersonellen Beziehungen festgestellt wurde. Die beiden genannten Störungsbereiche werden wiederum ihrerseits mit Merkmalen spezifiziert (S. 31 f.)

Dieser Paradigmenwechsel kommt dem Ansatz der systemischen Psychotherapie insofern entgegen, als diese das in den Diagnostikmanualen zum Tragen kommende Mehrheitskonzept Psychische und Persönlichkeitsstörungen von Haus aus abgelehnt hat. Anstatt das Problem, den Behandlungsgegenstand und das Behandlungsziel intrapsychisch zu verorten, fokussierte sie auf Veränderung des zwischenmenschlichen Beziehungsgeschehens. Inzwischen ist aber in der systemischen Psychotherapieschule eine Annäherung an das übliche störungsspezifische Konzept erfolgt – auch, um multiprofessionell kooperieren zu können. Nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem Band zu den Persönlichkeitsstörungen innerhalb der Reihe „Störungen systemisch behandeln“ seien wichtige Klärungen für die Aufbereitung störungsspezifischen Wissens für systemische Therapeut:innen erreicht worden; hieran schließe der Band über Borderline-Persönlichkeitsstörungen an.

Als einzige der bisherigen typischen PS überlebt die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) den oben umrissenen Paradigmenwechsel. Dies wird so kommentiert: „Was für die einen ein ‚politischer Kompromiss‘ war, um die Akzeptanz des neuen Systems nicht zu gefährden, war für die anderen eine zwingende Notwendigkeit, um die Anschlussfähigkeit für künftige Forschung nicht zu verlieren […] Je mehr störungsspezifische Therapieansätze etabliert und durch störungsspezifische Forschung abgesichert sind, desto größer ist nachvollziehbarerweise der Widerstand gegen eine radikale Veränderung der zugrunde liegenden Diagnosekriterien.“ (S. 33)

Die systemische Psychotherapie erkämpfte und erreichte die Anerkennung als Richtlinientherapie; damit ist ein dynamischer Prozess um Identität und Anpassung verbunden, welcher dieses Buch prägt. Die Leserschaft dieses Buches bekommt es also mit der Weiterentwicklung (dem Umbau?) der systemischen Psychotherapie, der Dekonstruktion und Rekonstruktion der PS und der BPS und der klinischen Realität der hierunter subsummierten Störungen zu tun.

Autor:innen und Autor

Elisabeth Wagner und Christoph Eckert sind medizinisch promovierte Ärzte, während Katrin Hiesberger-Kamleiter einen erziehungswissenschaftlichen Magisterabschluss erworben hat. Alle drei sind als systemisch therapeutisch qualifiziert. (S. 9 f. und S. 206 f.)

Entstehungshintergrund

Das Buch ist Band 19 der Reihe „Störungen systemisch behandeln“. (Einführung in die Reihe S. 2; Übersicht über die Reihe S. 208)

Aufbau und Anliegen

„Die Autor:innen geben zunächst einen Überblick über das in der klinischen Fachliteratur gesammelte Behandlungswissen und erläutern dann, theoretisch fundiert und anhand vieler Fallvignetten, ihren Behandlungsansatz“. Ihr Anliegen ist es, „eine Grundlage für eine professionelle und verantwortungsvolle Behandlung von Menschen mit hoher emotionaler Instabilität zu schaffen, ohne die eigene ‚systemische Identität‘ aufzugeben.“ (Buchrücken) Der Buchaufbau folgt dem Gliederungsprinzip der Buchreihe. Es hat einen Erklärteil, bestehend aus einem Kapitel über das klinische Erscheinungsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung (S. 28–45) und der Erklärungsmodelle für diese Störung (S. 45–55). Der Therapieteil umfasst den Großteil dieses Bandes (S. 55–197) Inhaltsverzeichnis, Vorwort, Einleitung, Literaturliste und Autorenverzeichnis (S. 5–44; S. 198–207) rahmen das Buch.

Inhalt

Im Einleitungskapitel werden die oben unter „Hintergründe“ angerissenen Fragen um Identität und Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen therapeutischen Handelns vermessen.

Ihm schließt das Kapitel zum klinischen Erscheinungsbild der BPS an, in welchem die hier üblicherweise gestellten Fragen beantwortet werden, Prävalenz und Suizidalität, Differentialdiagnostik und Komorbidität, sowie die Frage nach den Therapieempfehlungen. Es folgt ein Kapitel über die Erklärmodelle, in welchen die Rolle des Umfeldes für die emotionale Fehlregulation diskutiert wird oder die Frage, ob die BPS eine komplexe PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) ist. Der systemische Blick sieht BPS eher als eine multidimensionale Störung der Erlebnis- und Interaktionsmuster, welcher eher mit einer integrativen, als einer symtomatischen Betrachtungsweise beizukommen ist, mit einer kybernetischen Strategie der Erfassung der ätiologischen Faktoren einer BPS in ihrer Wechselwirkung. (S. 52)

Im Therapieteil des Buches werden zunächst die sechs störungsspezifischen Psychotherapieverfahren vorgestellt (S. 55–71), bevor die Autor:innen sich dem Umbau der Diagnoseverfahren infolge des Paradigmenwechsels der ICD-11 zuwenden.

Auf Seite 82 beginnt das Programm Kapitel des Buches mit dem Titel „Therapeutisches Vorgehen: Die systemische Therapie der Borderline-Störung“ (S. 82–142) mit der Darlegung der „störungsspezifischen systematischen Grundidee“ (S. 82–84), nämlich einerseits die Erfassung und Bearbeitung der subjektiven Wahrnehmung und Narrative der Patienten, andererseits der Erfassung und Verarbeitung der Informationen hinsichtlich möglicher Einschränkungen der strukturellen Kompetenzen. Zentral bedeutsam sei in diesem Zusammenhang eine veränderte Gesprächsführung, welche anschließend umrissen wird.

Im Rest des Kapitels wird die Umsetzung dieser Idee detailliert umschrieben und anhand von Fallvignetten anschaulich dargestellt, vom Anfang bis zum Ende einer Therapie (Wie beendet man systemische Therapien bei Borderline-Störungen?) Dabei werden die notwendigen Modifikationen des herkömmlichen systemischen Ansatzes beschrieben, ohne aber auf „die unverzichtbaren Merkmale systemischer Therapie“ zu verzichten: „die Fähigkeit zur Unterschiedserzeugung, die Ressourcenorientierung und die Auftrags- und Zielorientierung“. (S. 84)

Es folgen Kapitel über ambulantes Krisenmanagement (S. 143–159), über die stationäre und Gruppentherapie (S. 159–169) und zur Paar- und Familientherapie (S. 169–181). Zum Abschluss des Buches bringen die Autor:innen ein Kapitelüber den „systemischen Beitrag im fachübergreifenden Diskurs“ (S. 181–191) und schlussendlich einen exemplarischen Fallverlauf (S. 192–197).

Diskussion

Elisabeth Wagner, Christoph Eckert und Katrin Hiesberger-Kamleiter haben eine über weite Strecken des Buches sehr dichte und ernste Vermessung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und ihrer Therapie vorgelegt. Wer sich diesem Buch mit der skeptischen Frage „Noch ein Buch zur BPS?“ näherte, erhält von ihnen eine zufriedenstellende Beantwortung. Die von ihnen vorgelegte Neuvermessung der BPS-Therapie ist notwendig, weil sich der von den Diagnosemanualen dokumentierte Bezugsrahmen verändert hat, und auch das von den Autor:innen angewandte psychotherapeutische System. Demgegenüber bleibt die BPS auch in Zukunft für Therapierende und für BPS-Patient:innen eine denkbar schwere Herausforderung.

Der spirit des Buches wird am deutlichsten in dem Kapitel über den „systemischen Beitrag im schulenübergreifenden Diskurs“ (S. 181–191). Wer sich dem Buch und diesem Kapitel mit der skeptischen Frage näherte „Noch eine Flucht in die fachdiskursive Metaebene anstatt der Fokussierung auf die konkrete therapeutische Aufgabe?“ erhält von den Autor:innen ein – zumindest für den Rezensenten – äußerst attraktives, da ergebnisoptimistisches Therapiekonzept präsentiert. Die Lesenden finden dort Begrifflichkeiten wie „Lösungsorientierung“, „Fokussierung verfügbarer Kompetenzen“, Ressourcenaktivierung, „Verhaltensoptimismus“, oder auch „Transfersicherung“. Es ist – insbesondere für den fachfremden, und zugleich therapieerfahrenen Beobachter – eine Freude, dem Optimismus der Psychotherapieschule dieser Autor:innen in dem ernsten Zusammenhang einer schweren systemischen psychischen und Verhaltensstörung zu begegnen.

Fazit

Elisabeth Wagner, Christoph Eckert und Katrin Hiesberger-Kamleiter haben eine aktuelle Neu- Vermessung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und ihrer Therapie aus ihrem systemischen Psychotherapieansatz heraus vorgelegt. Diesem Buch ist die Aufmerksamkeit aller Berufsgruppen, welche mit der BPS befasst sind, zu wünschen.

Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
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Es gibt 14 Rezensionen von Heribert Wasserberg.

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Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 19.12.2023 zu: Elisabeth Wagner, Christoph Eckert, Katrin Hiesberger-Kamleitner: Borderline-Persönlichkeitsstörung. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. ISBN 978-3-8497-0496-4. Reihe: Störungen systemisch behandeln. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31074.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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