Jörg-Uwe Albig: Moralophobia
Rezensiert von Dr. Tobias Fischer, 13.02.2025

Jörg-Uwe Albig: Moralophobia. Wie die Wut auf das Gute in die Welt kam. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 210 Seiten. ISBN 978-3-608-96585-8. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Thema
Moral prägt unseren Alltag, unsere Politik und unser gesellschaftliches Zusammenleben – doch immer häufiger wird sie zum Ziel von Kritik und Ablehnung. Diese Entwicklung bildet den Ausgangspunkt für das Buch, das sich mit der Frage beschäftigt, warum die Moral so oft ins Kreuzfeuer gerät. Der Autor setzt sich mit historischen und aktuellen „Moral-Rebellen“ auseinander – von Götz von Berlichingen über Nietzsche bis zu Donald Trump – und deutet ihre Haltung als Widerstand gegen den Zivilisationsprozess.
Er zeigt, wie moralische Fortschritte – etwa die Abschaffung von Sklaverei, die Ächtung von Folter oder die Beendigung der Prügelstrafe für Kinder – häufig auf den erbitterten Widerstand derjenigen trafen, die ihre Privilegien bedroht sahen. In anschaulichen und bisweilen skurrilen Episoden beschreibt das Buch die tragischen Kämpfe dieser Figuren gegen die Idee von Gut und Böse und macht deutlich, dass Fortschritt ohne Moralisierung nicht denkbar gewesen wäre.
Aufbau & Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Bereiche. In einer kurzen Einleitung stellt Albig seine These auf, wonach sich „Moral als Motor der Zivilisation“ darstellt, wie es auch der Klappentext verheißt. Was er genau unter „Moral“ versteht, erklärt der Autor dabei nicht ausdrücklich, doch als moralisch gelten ihm alle klassisch humanistischen, europäischen Werte. Für Albig ist zu jedem historischen Zeitpunkt die gute Moral jene, die zum heutigen Stand der Zivilisation geführt hat. Analog zu Zivilisationsoptimisten wie Norbert Elias oder Steven Pinker argumentiert er, dass Gewalt und Grausamkeit im historischen Vergleich abgenommen haben und die Menschheit sich in Richtung weniger brutaler Gesellschaften entwickelt. Dies umfasst etwa die Abschaffung der Sklaverei, die Ausweitung der Menschenrechte auf immer mehr Gruppen (z.B. Frauen, Kinder, ethnische Minderheiten, LGBTQ+) und eine wachsende Anerkennung universeller moralischer Prinzipien im Sinne sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit.
Entsprechend zieht sich die Entwicklung der Menschheit zum Guten als Leitfaden wie ein Gesetzestext durch das Buch. Anhand dieses Leitfadens wird ein Scherbengericht über jene gehalten, die sich dem Anstieg des moralischen Standards über die Jahrhunderte hinweg entgegengestellt haben. Denn dieser aufsteigende Prozess zivilisatorischer Errungenschaften bringt die Wut und Rückzugsgefechte jener mit sich, die sich dadurch gefährdet fühlen und ihre Privilegien in Gefahr wähnen. In der Gegenwart erkennt der Autor diese „enttäuschten Liebhaber der Zivilisation, [die sich] immer wieder gegen […] Liebesverluste zur Wehr setzten“ (S. 27) unter jenen, für die Klimaschutz, Flüchtlingshilfe oder Gendergerechtigkeit ein Graus sind: SUV-Fahrer, Vielflieger, Gegner von Tempolimits und Impfungen, Greta-Thunberg-Hasser, Querdenker und Wutbürger.
Doch diese seien kein neues Phänomen, weswegen Albig im Hauptteil seines Werkes auf eine illustre Riege von „moralophoben“ Männern zurückblickt, die versucht haben, ihre überkommene Moral und lieb gewonnene Privilegien zu verteidigen – und die schließlich scheitern mussten. Diese Reihe reicht von Götz von Berlichingen, Machiavelli und dem Marquis de Sade über Südstaatengeneräle und Nietzsche hin zu Gehlen, Al Capone und Donald Trump. In acht Porträts beleuchtet Albig die defizitären Persönlichkeiten dieser (ausschließlich männlichen) Figuren, deren „Perforation der Komfortzone“ sie zur Abscheu von Moralität führte. So dokumentiert Albig schließlich ihren Niedergang: „Nicht nur die Evolution der Natur, sondern auch die Entwicklung der Zivilisation hat ihre aussterbenden Arten“ (S. 26).
Die historischen Porträts sind allesamt in einem schmissigen, teils provokanten Stil verfasst, der weniger auf (ideen)geschichtliche Nuancen setzt als auf eine flotte Sprache. So wird etwa der generalisierte „Reiz der Grausamkeit, der im Mittelalter die Menschen beseelt hat“ (S. 36), geschildert, um die Lust an der Gewalt zu dokumentieren, da der mittelalterliche Mensch „ein Spielball seiner Affekte gewesen sei, zwischen tiefer Frömmigkeit und nackter Geilheit“. Entsprechend unterstellt Albig auch, dass der Götz von Berlichingen den „Hooliganismus“ (S. 41) gegen die städtische Bürgerschaft zur Lebensform erhoben habe. Götz wird zum „Terroristen“, der mit seinen „adeligen Taliban“ (S. 42) Kaufleute überfällt – in einer Welt, in der plötzlich Verhandlungsgeschick mehr gelten soll als der Schwerthieb: „Empathie vs. Morgenstern“.
In einem kurzen Resümee schließt der Autor den Kreis zu seiner Ausgangsthese: Männer wie Götz von Berlichingen habe es immer gegeben – Männer, die Relikte ihrer Vergangenheit sind, unfähig und Unwillens, sich dem Fortschreiten der Zivilisation anzupassen. Genauso wie die alten weißen Männer heute, die nicht verstehen, dass die Jugend vegetarische Würste und vegane Burger will und von postkolonialer Sensibilität durchzogen ist (S. 203) – „die Ewiggestrigen von AfD bis NZZ“ (S. 208). Entsprechend sieht der Autor die Moral der Zukunft bei den Jungen besser aufgehoben.
Diskussion
Obgleich der Klappentext ein „hochaktuelles Plädoyer für Moral als Motor der Zivilisation“ verspricht, beschränkt sich Albig darauf, lieber zu provozieren, als einen philosophischen Diskurs loszutreten – und das vermutlich mit voller Absicht. Denn die zugespitzte sprachliche Raffinesse schreit in jeder Zeile danach, belustigt mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die der Autor als seine eigentlichen Antagonisten ausmacht: Die Moralophoben, die Rückständigen, die „Tweedjackett“ und „senffarbene Hosen“ tragen, „mit Hingabe [den] Sportwagen […] pflegen, einen guten Barolo zu schätzen [wissen] oder das hart verdiente Feierabendpils“ (S. 9).
Polemisch und satirisch genüsslich zieht Albig amüsante Vergleiche zwischen diesen Wutbürgern und ihren historischen Vorbildern. Dass der Begriff der Moral dabei auf ein „so was tut man nicht (mehr)“ reduziert wird – und der „Anti-Moralist“ entsprechend auch keine „anderen“ Moralvorstellungen besitzt, sondern gar keine – interessiert nur am Rande. Die Zeiten (alias die Moral) ändern sich – und wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.
Insofern versucht dieses Buch auch nicht, jemanden zu überzeugen, sondern klatscht jenen Beifall, die sich ohnehin schon auf der „richtigen Seite“ der Moral wähnen und wissen, dass das „Gute“ nur durch die Einschränkung individueller Freiheiten und persönlichen Komforts zu erreichen ist. Wer die Meinung vertritt, dass die Gesellschaft zum Guten strebt, wird die dargelegte Verteilung der Rollen in Gut und Böse nachvollziehbar finden – ganz unabhängig davon, ob die im Buch erwähnte Greta Thunberg drei Jahre nach dessen Erscheinen in moralisch bedenkliche Fahrwasser geraten ist, während „Verlierer“ wie Donald Trump in einer demokratisch legitimierten Wahl zurückkehren. (Auch diese Wahl ist durchaus ein zivilisatorischer Fortschritt gegenüber den feudalen Hierarchien zu Zeiten von Götz von Berlichingen oder dem Absolutismus zu de Sades' Zeiten.)
Leider verweigert sich Albig somit der interessanten Frage, was Moral heute eigentlich ist und wer das Zugriffsrecht auf ihre rechtmäßige Handhabung hat. Dass sich moralische Ansprüche auch als Instrumente des Machtmissbrauchs nutzen lassen, wird ebenso weitestgehend ausgeblendet. Überhaupt bleibt fraglich, ob Menschen nur aus Bequemlichkeit unmoralisch handeln – oder ob die Ablehnung bestimmter moralischer Forderungen nicht vielmehr auch ein Ausdruck legitimer Meinungsverschiedenheiten ist, wenn solche Forderungen als übergriffig, unterkomplex oder ideologisch wahrgenommen – und deshalb abgelehnt werden. Dies würde zumindest für einen ethischen Diskurs gelten, der nach den Grundlagen von Argumenten für diese oder jene Haltung und Wertvorstellung fragt – und der die Legitimität einer moralischen Handlung nicht einfach danach bemisst, ob sie aus der heutigen Sicht heraus, auch schon in der Vergangenheit hätte mehrheitsfähig sein sollen.
Fazit
Leser, die in ethischen Debatten differenzierte Ansichten suchen, werden von der polemischen Zuspitzung vermutlich enttäuscht sein. Wer sich jedoch darauf einlassen kann, sich von der pointierten Sprache in die höchst amüsanten Erzählungen mitreißen zu lassen, wird an diesem Werk seinen Spaß haben – zumindest, wenn man sich schon vorher auf der „richtigen Seite“ der Moral wähnt.
Rezension von
Dr. Tobias Fischer
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Tobias Fischer.