Linn K. Döring, Thomas Mörsberger et al. (Hrsg.): Garanten für den Kinderschutz?
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 28.02.2025

Linn K. Döring, Thomas Mörsberger, Friederike Wapler (Hrsg.): Garanten für den Kinderschutz? Zu den Grenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe und den Konsequenzen für die Praxis. edition sigma im Nomos-Verlag (Baden-Baden) 2023. 366 Seiten. ISBN 978-3-8487-9003-6. 74,00 EUR.
Thema
„Da stehst Du immer mit einem Bein im Gefängnis“ ist wohl ein Satz, den viele Fachkräfte im Kinderschutz aber auch Studierende der Sozialen Arbeit schon einmal gehört haben. Schließlich war da doch das Eine da aus dem Grundgesetz. Mit der Garantie dafür, dass Kinder nichts passiert. Zwei Sätze – zwei Fehler. Denn zum einen sind die Grenzen der Strafbarkeit sozialarbeiterischen Handelns im Kinderschutz sehr eng gefasst, zum anderen hat die Garantenstellung absolut nichts mit Garantie zu tun. Und an diesem Punkt setzt dieses Buch an, möchte aufräumen mit Mythen und Halbwahrheiten beziehungsweise schlichten Falschaussagen zum Thema Garantenstellung und strafrechtlicher Verantwortung von Fachkräften im Kinderschutz. Dazu wird diskutiert, was genau die Garantenstellung überhaupt ist, ab wann sie greift und welche strafrechtlichen Grundprinzipien gelten. Alles in allem wird das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, um Unsicherheiten bei Fachkräften aber auch Institutionen zu beseitigen.
Autor:in oder Herausgeber:in
Dr. Linn Katharina Döring absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, wobei ihr Schwerpunkt auf dem Bereich Kriminologie lag. mit Schwerpunkt in der Kriminologie. Es folgte nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen eine Promotion am Max- Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Sie arbeitet derzeit im hessischen Innenministerium. Thomas Mörsberger ist Rechtsanwalt in Lüneburg und Autor zahlreicher Beiträge zum Thema Garantenstellung. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in Fragen zur Praxis des beruflichen Helfens und Erziehens, wo er zum Beispiel als Gutachter bei Gericht oder auch als Fortbildner zum Einsatz kommt. Dr. Friederike Wapler ist Juristin und nach ihrer Promotion an der Universität Göttingen 2013 an der juristischen Fakultät dort habilitiert worden. Sie ist aktuell an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Inhaberin des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht. Unterstützt werden die Herausgeber:innen von rund zehn Expert:innen, die einzelne Kapitel beigesteuert haben.
Aufbau und Inhalt
Zwölf Kapitel beleuchten die Thematik der Garantenstellung und der daraus resultierenden Möglichkeit strafrechtlicher Verantwortlichkeit der fallführenden Fachkraft. An dieser Stelle werden alle Kapitel kurz vorgestellt, auf einige dabei ein intensiverer Fokus gelegt.
Kinderrechte und Kindeswohl
Friederike Wapler setzt sich in diesem Kapitel mit Kindern als Trägern von Grund- und Menschenrechten auseinander und legt dabei einen Fokus auf das Erziehungsprimat der Eltern nach Artikel 6 Grundgesetz und dem daraus resultierenden Eltern-Kind-Verhältnis. Dementsprechend geht es dann auch um das dort beschriebene staatliche Wächteramt, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdungen und diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Aspekten. Die Autorin macht deutlich, dass während des Lebens in der Familie die „primäre Verantwortung der Eltern“ bestehen bleibt, auch wenn die Familie dem Jugendamt bekannt ist. Zu unterscheiden ist auch zwischen dem staatlichen Wächteramt, das Institutionen, primär das Jugendamt, adressiert, während die strafrechtliche Garantenpflicht personengebunden ist. In der Diskussion steht immer wieder, ab wann Letztere gilt, wozu Friederike Wapler schreibt: „[Sie] kann noch nicht angenommen werden, wenn eine Fachkraft von tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung erfährt [, ebenso wenig], wenn ein Kind einer Fachkraft ‚aktenmäßig‘ zugeordnet wird“ (S. 49). Somit entsteht die strafrechtliche Garantenpflicht erst dann, wenn die Fachkraft nach einer Kindeswohlgefährdung bejahende Einschätzung mit mehreren Kolleg:innen die Aufgabe hat, diese abzuwenden, wodurch die Möglichkeit entsteht, „ihr eine strafrechtlich relevante Pflichtverletzung vor[zu]werfen (…), wenn sie nicht fachgerecht handelt und das Kind dadurch zu Schaden kommt“ (S. 50).
Jugendamt und Garantenpflicht
Michael Heghmanns untersucht in diesem Kapitel mögliche Anknüpfungspunkte des Strafrechts im Recht der Kinder- und Jugendhilfe, wenn Sozialarbeiter:innen nach der Schädigung eines Kindes pflichtwidriges Unterlassen vorgeworfen wird. Dazu klärt er zunächst, was Strafbarkeit durch Unterlassen eigentlich bedeutet und widmet sich aus juristischer Sicht intensiv den Voraussetzungen einer Garantenstellung im Jugendhilferecht und dabei speziell den Vorrausetzungen einer Garantenstellung im Rahmen von Verfahren nach § 8a SGB VIII. Zum Ende räumt Michael Heghmanns mit dem in der Jugendhilfe weit verbreiteten Irrglaube auf, eine Überlastungsanzeige würde von eventuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeiten befreien, die „kein Allheilmittel“ (S. 63) ist – zum einen, wenn sie unberechtigt ist; zum anderen in berechtigten Fällen. Eine nach entsprechender Anzeige durch die Vorgesetzten nicht behobene Überlastung „entlässt [die Fachkraft] also keineswegs aus ihrer Garantenstellung. Es wandeln sich nur ihre Pflichten im Rahmen dessen, was sie noch leisten kann. Dazu gehört insbesondere, sich auf die wirklich dringlichen Dinge zu konzentrieren (…}, wo die ernstesten Gefahren drohen und hieran – unter Vernachlässigung minder wichtiger Fälle – im Rahmen ihrer Kräfte weiterzuarbeiten“ (S. 64).
Einheit der Rechtsordnung
Reinhard Wiesner, nicht zu Unrecht häufig als SGB VIII-Papst bezeichnet, setzt sich mit den Grundideen des SGB VIII wie zum Beispiel der Dienstleistungsorientierung aber auch der Historie des § 8a SGB VIII auseinander.
Strafrecht als Qualitätssicherung im Kinderschutz?
Die Herausgeberin Lynn Katharina Döring untersucht unter anderem, was sich Justiz und Rechtswissenschaft von Strafverfahren gegen Mitarbeiter:innen von Jugendämtern erhoffen, stellt aber auch die berechtigte Frage, was es mit Vergeltung und Schuld angesichts eines schweren Kinderschutzverlaufs auf sich hat. Außerdem zeigt sie auf, wie es überhaupt dazu kam, dass das jugendamtliche Handeln in den Fokus des Strafrechts geriet.
Sorgfaltspflichten in der Praxis des beruflichen Helfens
Für dieses Kapitel zeichnet wieder Michael Heghmanns von der juristischen Fakultät der Uni Münster verantwortlich. Er nähert sich dem Begriff der Sorgfaltspflicht an, der immer dann eine Rolle spielt, wenn ein Kind zu Schaden gekommen ist. Es geht dabei darum, was die „zuständige Fachkraft zu tun gehabt [hätte], um das Kind vor Verletzung oder Tod zu bewahren“ (S. 133). Bewertet werden können dabei nur „tatsächlich und rechtlich mögliche Maßnahmen“ (S. 133) bewertet werden.
Wie mit anvertrauten Geheimnissen umgehen?
Auch um den Zusammenhang von Daten- und Kinderschutz ranken sich in der Jugendhilfe zahlreiche Mythen wie ‚Datenschutz geht vor Kinderschutz‘. Dass das in der Tat nicht mehr als ein Mythos ist, beweist Thomas Mörsberger in seinem Kapitel über Kinderschutz und Datenschutz. Was ist zum Beispiel zu tun, wenn Klient:in und betroffene Person nicht identisch sind? Wo unterscheidet sich die Vorgehensweise beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch von der bei anderen Formen der Misshandlung oder bei Vernachlässigung?
Anrufung des Familiengerichts als Hilfestellung oder Absicherung?
Ulrike Sachenbacher ist Familienrichterin und möchte mt ihrem Kapitel Praxistipps aus ihrer Sicht geben, wozu sie neben wichtigen Grundlagen auch Grenzen und Risiken der Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt aufzeigt. Dazu gehört, dass das Familiengericht manchmal durchaus an den Strukturen des Jugendamtes scheitern kann mit Vorschlägen, wenn zum Beispiel eine Finanzierung der den Eltern vom Gericht auferlegten Pflichten nicht umgesetzt wird. Die Autorin stellt außerdem heraus, dass interdisziplinäre Netzwerke wichtig sind, um das Verständnis für das Handeln und die Möglichkeiten der jeweils anderen Profession ermöglichen. Auf juristischer Seite schlägt sie vor, Kindeswohlfälle in eigene Abteilungen bei den Amtsgerichten auszugliedern, sodass hier wirklich Spezialist:innen Entscheidungen treffen können, die sich auf diese immens wichtige Aufgabe konzentrieren können.
War wirklich so klar, dass es so kommen musste?
Wie sich Verfahren gegen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe aus der Verteidigungsperspektive darstellen, beschreibt Astrid Aengenheister, die sich unter anderem dem Phänomen Rückschaufehler widmet. Hier ist die juristische Unterscheidung zwischen ex post (von hinten) und ex ante (von vorne) von enormer Bedeutung. Strafrechtlich kann pflichtwidriges Verhalten nämlich nur dann in Betracht kommen, wenn die Gefahrenlage für die Fachkraft ex ante hätte bekannt sein können. Ex post betrachtet die Ereignisse aus der Gegenwart, also mit den Erkenntnissen von heute: „[B]ildlich gesprochen setzt sich das entscheidende Gericht auf den Stuhl der Fachkraft und weiß nichts vom weiteren Lauf der Dinge“ (S. 191).
Was bedeutet professioneller Kinderschutz in Verantwortung des Jugendamtes?
Matthias Röder und Heinz Müller beschreiben Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Kernelemente des professionellen Kinderschutzes im Jugendamt.
Garanten für den Kinderschutz?
Einen Perspektivwechsel nehmen Ulrich Müller-Thüsing und Jörg Freese vor, die sich dem Thema Garantenstellung anhand des Hochsauerlandkreises aus Sicht der Kommunalverwaltung im Hinblick auf Organisations-, Personalverantwortung/​-entwicklung und Kommunalpolitik widmen.
Was geschehen kann, wenn Sozialarbeiter:innen eine Mitschuld an der Tötung eines Kindes vorgeworfen wird
Konkrete Erfahrungen und Einschätzungen aus England zum Thema bietet der ins Deutsche übersetze Beitrag von Sharon Shoesmith, die zum Beispiel die Reaktion auf bekannte Kinderschutzfälle in Engalnd der vergangenen Jahrzehnte überblicksartig darstellt. Danach widmet sie sich dem speziellen fall der Tötung des kleinen Peter aus dem Jahr, um sich zum Ende auch mit Vorurteilen gegenüber Sozialarbeiter:innen und einem möglichen Wandel beschäftigt.
Irritationen und Missverständnisse in Sachen Garantenpflicht und Haftungsrisiko
Das Ende des Buches bildet ein weiteres Kapitel von Thomas Mörsberger, der noch einmal viele Themen näher aufgreift und unter anderem provokant fragt, ob einige Irritationen und Missverständnisse bezüglich der Garantenstellung im Kinderschutz hausgemacht sind. Auch er beschäftigt sich noch einmal mit dem Mythos der von aller Verantwortung befreienden Überlastungsanzeige (Spoiler: Das tut sie immer noch nicht!) und offenbart Missverständnisse in der Nomenklatur zum Beispiel beim Begriff Kindeswohlgefährdung und der enorm wichtigen Unterscheidung zwischen Helfen und Schützen.
Diskussion
Ein absolut lesenswertes Buch, das mit dem gängigen Vorurteil der Jugendhilfe (Da stehst Du immer mit einem Bein im Knast) aus unterschiedlichen Perspektiven aufräumt und neben der theoretischen Rahmung eventueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit auch aufzeigt, welche Erkenntnisse sich für die Praxis aus diesem Wissen ziehen lassen. Besonders beeindruckend ist die Auflistung der bekannten Fälle von Strafverfahren gegen Sozialarbeiter:innen aus den vergangenen rund 25 Jahren und deren Ergebnis. Kleiner Spoiler an dieser Stelle: Die Übersicht passt auf eine einstellige Zahl von Seiten. Der Versuch, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Fachkräften und deren Grenzen übersichtlich und nach Themen gegliedert darzustellen, gelingt umfassend.
Fazit
Wer im Kinderschutz – und gerade im Jugendamt – arbeitet, sollte profundes Wissen über die Garantenstellung und eventuell aus ihr abzuleitende strafbare Handlungen haben. Denn nur so ist ein sicheres Arbeiten möglich. Das Buch bietet hierfür wichtige Grundlagen.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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