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Hanna Segal, Ursula Goldacker (Übersetzerin): Traum, Phantasie und Kunst

Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 23.07.2024

Cover Hanna Segal, Ursula Goldacker (Übersetzerin): Traum, Phantasie und Kunst ISBN 978-3-8379-3225-6

Hanna Segal, Ursula Goldacker (Übersetzerin): Traum, Phantasie und Kunst. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 170 Seiten. ISBN 978-3-8379-3225-6. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Autorin

Hanna Segal (1918 – 2011) war eine britische Psychoanalytikerin. Sie gilt als eine der bedeutendsten Schülerinnen Melanie Kleins. In ihrer analytischen Praxis war sie spezialisiert auf die Behandlung psychotischer Patienten aller Lebensalter. Ein Schwerpunkt ihrer theoretischen Arbeit lag in einem von Sigmund Freud abweichenden Verständnis von Symbol und Symbolbildung. Damit setzte sie neue Akzente in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie und für das Verständnis von Traum und Kunst.

Aufbau und Inhalt

In ihrem Vorwort (S. 7 ff.) gibt Hanna Segals Kollegin und Freundin Betty Joseph Hinweise zur Lesart der nachfolgenden Überlegungen: Es handle sich nicht um eine schlichte Übertragung der Psychoanalyse auf andere Bereiche wie die Kunst oder das Spiel, sondern die Autorin wolle aufzeigen, wie sich „die unterschiedlichen Interessen eines aus dem anderen [entwickeln] und […] sich gegenseitig [bereichern]“ (S. 8). Hanna Segal selbst kündigt in einer knappen Einleitung eine gewisse Linearität ihrer Darstellung an: „Ich versuche, die Entwicklung meines Denkens zu zeigen, ohne andere Sichtweisen zu diskutieren oder mich auf Kontroversen einzulassen“ (S. 13).

„1. Der Königsweg“ (S. 15 ff.)

In der Überschrift über dem 1. Kapitel greift Hanna Segal auf die bekannte Äußerung Sigmund Freuds zurück, wonach das Verständnis der Träume der „Königsweg zum Unbewußten“ (S. 26) sei. Dieses Verständnis, so ergänzt sie, müsse durch „psychische Arbeit gewonnen“ (ebd.) werden. Wie diese Arbeit am Traum im Zusammenspiel der Analytikerin mit ihren Patientinnen und Patienten erfolgt, ist Inhalt dieses Abschnitts, wobei Segal dem Freud’schen Verständnis der „Traumarbeit“ mit den Elementen „Verschiebung“ und „Verdichtung“ und seiner Auffassung von der Dynamik der „Traumgedanken“ breiten Raum gibt. Nur mit seiner Annahme, Symbole seien vorgegeben und nicht ein Ergebnis der psychischen Arbeit, erklärt sie sich nicht einverstanden (vgl. S. 26). Eine Begründung dafür will sie nachfolgend liefern.

„2. Phantasie“ (S. 30 ff.)

Auch im Hinblick auf das Verständnis von „Phantasie“ folgt die Autorin zunächst Freud: Die Phantasie sei eine „psychische Realität“ (S. 30), sie repräsentiere einen „Triebwunsch in verhüllter Form“ (ebd.) und sei, wie die Kunst zeige, eine „Quelle der Sublimierung“ (S. 33). Im Unterschied zu ihm betont sie die ursprünglich „körperliche Natur“ von Phantasien. Ihre reich dokumentierten Beobachtungen vor allem an Kindern führen sie zu dem Ergebnis, dass „körperliche Erfahrungen […] als phantastische Objektbeziehungen erlebt“ (S. 35) werden und dass „Phantasien gegen jede schmerzhafte Realität eingesetzt werden können“ (S. 36). Mit diesem Blick auf die Phantasie als psychische Aktivität sieht sie sich auf der Seite von Melanie Klein, die „von einer beständigen Interaktion zwischen unbewusster Phantasie und Wahrnehmung“ (S. 47) ausgegangen sei.

„3. Symbole“ (S. 49 ff.)

Wie im 1. Kapitel angekündigt, gilt Hanna Segals besondere Aufmerksamkeit dem Konzept der unbewussten Symbolbildung: „Symbole sind das, wodurch unbewußte Phantasien ausgedrückt werden, sei es nun in Symptomen, Träumen oder ganz gewöhnlichen menschlichen Beziehungen und Strebungen“ (S. 49). Von Melanie Klein übernimmt sie die These, dass Konflikte, Angst und Schuld zu den „Hauptantrieben für die Symbolbildung“ (S. 52) gehörten. So seien zum Beispiel die kindlichen Spiele im Behandlungszimmer „symbolischer Ausdruck unbewußter Konflikte“ (S. 51). Vergleichbares gelte für den Gebrauch des Materials beim Künstler. Hinsichtlich der Symbolbildung trifft sie eine mit zahlreichen Fallbeispielen aus der Behandlung psychotischer Personen illustrierte Unterscheidung, die für das Verständnis der folgenden Themen ausschlaggebend wird: Sie bezeichnet die Unfähigkeit, das Symbol vom konkreten Objekt zu trennen als „symbolische Gleichsetzung“ (S. 54), und die Fähigkeit, das Symbol als Repräsentation eines Objekts zu begreifen, als „symbolische Darstellung“ (ebd.). Mit Melanie Klein ordnet sie die erstgenannte der „paranoid-schizoiden Position“ zu, die letztere der „depressiven Position“ (ebd.). Dabei sind Übergänge die Regel. Wie stark das „Verbalisieren“ (S. 64) an der Symbolbildung beteiligt ist, erläutert Hanna Segal mit eindrucksvollen Beispielen aus der Kinderanalyse.

„4. Psychischer Raum und Elemente der Symbolbildung“ (S. 71 ff.)

Wilfred Bions Unterscheidung „zwischen normalen und psychotischen Formen projektiver Identifizierung“ (S. 71) verknüpft die Autorin mit ihrer Symboltheorie: Die von Bion sogenannten „Beta-Elemente“ – der Begriff steht für „unbearbeitete konkret empfundene Erfahrungen, mit denen man nur fertig werden kann, indem man sie ausstößt“ (S. 73) – findet sie in der „symbolischen Gleichsetzung“ (ebd.) wieder. Der Mensch am Anfang seines Lebens steht wie die psychotische Person vor der Aufgabe, sie in „Alpha-Elemente“ (ebd.) umzuwandeln. Segal nennt diesen Prozess im Sinne Bions „Identifizierung mit einem guten Behälter, der in der Lage ist, die Alpha-Funktion auszuführen“ (S. 74). Das sei die Basis für eine gesunde psychische „Ausrüstung“ (ebd.). Welche Deutungsarbeit es erfordert, psychotischen Menschen dabei zu helfen, den „Behälter“ positiv-symbolisch zu besetzen und damit den „psychischen Raum“ (S. 83) zwischen ihnen und ihren Objekten zu weiten, damit er nicht der „symbolischen Gleichsetzung“ verfällt, zeichnet die Autorin an zahlreichen Fallvignetten nach.

„5. Der Traum und das Ich“ (S. 89 ff.)

Unter den von Freud für wichtig gehaltenen Traumfunktionen vermisst Hanna Segal mit Bion eine bestimmte Entlastungsfunktion: „Es gibt Träume, die nicht dazu [dienen], latente Traum-Gedanken zu bearbeiten und zu symbolisieren, sondern dazu, psychische Inhalte loszuwerden“ (S. 90). Personen mit einer beeinträchtigten Realitätswahrnehmung und ohne „gute Beziehung zu einem inneren Container“ (S. 97) erleben ihre Träume konkretistisch und phantasieren über eine „plumpe Art der Symbolbildung“ (S. 96) eine symbolische Gleichsetzung (Traum = Realität). Ihre Empfehlung für solche Fälle: „Wenn wir nicht den Traum, sondern den Träumer analysieren und dabei die Form des Traumes, die Art, wie er erzählt wird, und die Funktion, die er in der Stunde ausübt, mit einbeziehen, so bereichert dies unser Verständnis enorm, und wir können erleben, wie die Funktion des Traumes ein bedeutsames Licht auf die Funktionsweise des Ich wirft“ (101).

„6. Freud und die Kunst“ (S. 102 ff.)

Freuds Interesse daran, „unbewusste Konflikte und Phantasien in einem künstlerischen Werk“ (S. 102) aufzuspüren und hinter die „Tagträume des Poeten“ (S. 105) zu kommen, haben ihn immerhin zu der Erkenntnis geführt, dass die Kunst „die entgegengesetzten Ziele des Es und des Über-Ich miteinander versöhnen“ (S. 109) soll. Die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und Form bleibt für ihn aber ebenso offen wie die Frage, „wie der Dichter es zustande bringt, uns zu ergreifen“ (S. 114). Segal vermutet im Gegensatz zu ihm die Möglichkeit einer „ästhetischen Lust“ (S. 109) beim Künstler wie beim Rezipienten, und sie unterstellt dem Künstler deutlicher, als Freud das in seiner Arbeit über den „Moses“ des Michelangelo zum Ausdruck gebracht hat, ein Streben danach, „seinen Konflikt aufzuspüren und in seinem Werk zu lösen“ (S. 112).

„7. Kunst und die depressive Position“ (S. 115 ff.)

„Das Bedürfnis des Künstlers ist, wiederzuerschaffen, was er in der Tiefe seiner Welt empfindet. […] Der Künstler nimmt als tiefstes Gefühl der depressiven Position innerlich wahr, dass seine innere Welt kaputtgegangen ist, und deshalb ist es für ihn notwendig, etwas wiederzuerschaffen, das sich wie eine heile neue Welt anfühlt“ (S, 116). Um die Angemessenheit dieser These zu bestätigen, zieht Hanna Segal Dichter wie Goethe, Rilke, Proust und Conrad sowie bildende Künstler wie Picasso und Michelangelo heran, mit ihm notwendigerweise noch einmal Freuds „Moses“. Sie bleibt bei ihrer schon einmal getroffenen Beobachtung, er lasse offen, was ihn eigentlich antreibe und wie er sein Publikum gefangennehme (vgl. S. 120). Ihre auf Melanie Klein gestützte Lösung: „Im Tiefsten hat der Schaffensakt etwas mit der unbewussten Erinnerung an eine harmonische innere Welt und mit der Erfahrung ihrer Zerstörung zu tun – also mit der depressiven Position“ (S. 128).

„8. Vorstellungsvermögen, Spiel und Kunst“ (S. 136 ff.)

Im letzten Kapitel leitet Hanna Segal von der umfassenden Bedeutung unbewusster Phantasien für das Denken und Handeln über zum Spiel als Möglichkeit der Wirklichkeitserforschung und -bewältigung sowie als Übungsfeld für Konfliktlösungen und für die Unterscheidung von Symbol und Wirklichkeit (vgl. S. 136). Damit reihen sich seine Funktionen ein in die zwar störanfälligen, aber dennoch effektiven Funktionen von Tagträumen, Träumen und künstlerischem Schaffen als „Möglichkeiten, unbewußte Phantasien auszudrücken und durchzuarbeiten“ (S. 140). Die Autorin schließt das Kapitel und damit das Buch gleichsam mit einer Verneigung vor der Kunst: „Alle Kinder, ausgenommen die schwerkranken, und alle Erwachsenen spielen, wenige werden Künstler. Weder der Traum noch der Tagtraum noch das Spiel erfordern die Arbeit – sowohl die unbewusste wie die bewusste –, die die Kunst erfordert. Der Künstler benötigt eine sehr spezielle Fähigkeit, sich den tiefsten Konflikten zu stellen, Ausdrucksformen für sie zu finden und Träume in Realität zu übersetzen. Er erreicht dabei zugleich eine Wiedergutmachung in der Realität wie in der Phantasie, die Bestand hat. Das Kunstwerk ist eine Gabe an die Welt, die Bestand hat und die Künstler überlebt“ (S. 146).

Diskussion

Was Hanna Segal an klinischer Erfahrung, theoretischen Bezügen und kulturellem Wissen ins Spiel bringt, mündet letzten Endes in den Versuch, den Schleier vor dem Rätsel Kunst etwas zur Seite zu ziehen. Was sie exemplarisch aus Literatur und bildender Kunst anführt, scheint von ihr allerdings so ausgewählt zu sein, dass es sich für sie lohnt, der ihr wichtigen Frage nach dem Zusammenhang von Symbolbildung und depressiver Position nachzugehen. Hätte sie Vergleichbares zur Baukunst, zur 12-Ton-Musik, zum Film, zur konkreten Poesie, zur Aktionskunst, zur politischen Karikatur, zum Tanz oder zu den nachschaffenden Künsten (Theater, Rezitation, musikalische Praxis) sagen können? Hier tut sich ein weites Forschungsfeld auf. Es ließe sich noch ausdehnen, wenn sich das Interesse neben den Motiven und Mitteln der Künstler auch noch auf die Empfangsbereitschaft des „Publikums“ richtete, auf die Dispositionen und Lebenserfahrungen also, die für Kunst sensibilisieren (oder auch nicht). Und macht es nicht einen Unterschied, ob Kunst als Einzelperson oder in Gruppen erlebt wird? Aber diese Überlegungen schmälern nicht die Bemühungen der Analytikerin, die Erscheinungsformen von Symbolen und ihre unterschiedlichen Funktionen zu klären. Die Erforschung, der politischen wie der Werbungssymbolik könnte davon profitieren. Und wer in der Therapie mit Träumen arbeitet, wird von Hanna Segals Einfallsreichtum bei Deutungen beeindruckt sein, auch wenn sie in deren Sog das, was den Träumenden selbst zu ihren Träumen einfällt, kaum registriert zu haben scheint.

Fazit

Hanna Segals erfahrungs- und ideengesättigtes Buch bietet – nicht zuletzt wegen seiner Lesbarkeit – eine anregende Lektüre weit über das therapeutische Berufsfeld hinaus. Dass der Psychosozial-Verlag eine Neuausgabe riskiert hat, sollte ihm eine zahlreiche Leserschaft lohnen.

Rezension von
Helmwart Hierdeis
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Es gibt 21 Rezensionen von Helmwart Hierdeis.

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ISSN 2190-9245