Eberhard Th. Haas: Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 20.06.2024
Eberhard Th. Haas: Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens. Entwurf einer psychoanalytischen Mentalitätsgeschichte.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
395 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3302-4.
D: 44,90 EUR,
A: 46,20 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema
Die Monografie zeichnet die Mentalitätsgeschichte der Menschheit in der Zeitspanne frühmenschlicher Existenz in der Jungsteinzeit, über die bronzezeitliche Phase des Vorderen Orients hin zur Erfindung der Schrift bis in die heutige Zeit nach, die durch rasante und umfassende Veränderungen und vor allem die Digitalisierung als prägendes Phänomen gekennzeichnet ist. Eberhard Haas versucht dabei eine Einordnung, welchen Platz unser archaisches Menschheitserbe in der modernen Welt und der Zukunft einnehmen kann. Haas will mit seinem mentalitätsgeschichtlichen Essay keine Antworten auf die anstehenden Entwicklungsaufgaben der Menschheit geben, sehr wohl aber historische Bezugspunkte auf den Ebenen Spiritualität, Identität und Kultur benennen, welche Orientierung und Selbstvergewisserung ermöglichen.
Autor
Dr. med. Eberhard Th. Haas ist Psychoanalytiker in eigener Praxis (seit 1981, Praxistätigkeit mittlerweile beendet) in Darmstadt, sowie Lehranalytiker am Psychoanalytischen Institut Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Mentalitätsgeschichte, Trauerprozesse, Literatur und Psychoanalyse, Religion und Psychoanalyse.
Aufbau und Inhalt
Ausgangspunkt des ersten Abschnitts (Kapitel II bis V) der mentalitätsgeschichtlichen Analysen sind die „Achsenzeit“ und der „achsenzeitliche Bruch“, der Zeitraum von etwa 800 bis 200 vor Christus, in dem Haas (mit Rückgriff auf das kulturanalytische Werk Karl Jaspers) ein geschichtlich neues menschliches Selbstverständnis erwachsen sieht, eine Epoche in der sich der Mensch sich seines Seins im Ganzen bewusst geworden ist und damit die vorgeschichtliche Phase des Mythischen überwunden wurde. Diesen Prozess der Menschheitsgeschichte, geprägt durch die Entwicklung der Schrift, die damit verbundene Fixierung von Ideen und Denkschulen, die Tradierung neuer Inhalte über regionale Grenzen hinaus mit Wirkeffekten bis in die heutige Zeit (z.B. im Volksglauben) beschreibt Haas aus psychoanalytischer Perspektive kleinschrittig und quellenreich, z.B. in der Beschreibung der „Bestattung des Patroklos“ (aus Homers Ilias, 23), den beginnenden Rationalismus im sechsten vorchristlichen Jahrhundert, den Zusammenbruch des Römischen Reiches, die Renaissance und Reformation an der Schwelle zur Neuzeit, die Bedeutung – und Überwindung – der Wirkung der Sakralarchitektur bis hin zur Entstehung der „Mentalitäten der Neuzeit“ (117), in enger Verbindung mit dem Anstieg und der Verbreitung des Wissens. Als Kontrapunkt dieser Entwicklung steht der „Zivilisationsbruch“, gekennzeichnet durch eine umfassende Abkehr von historischen Denk- und Gefühlstraditionen, die Entstehung(sbedingungen) des Faschismus und die damit assoziierten Grauen und Verbrechen und als jüngste Entwicklungslinie postmoderne Entwicklungsdynamiken und die Digitalisierung der Gesellschaft.
Demgegenüber stellt Haas in einem zweiten Abschnitt (Kapitel VI. bis XII.) früh- und vorgeschichtliche Wissens-, Denk- und Gefühlstraditionen, z.B. frühe Bestattungs- und Trauerriten und die damit verknüpfte Entwicklung einer Idee von Gottheiten und einem Jenseits und der Errichtung entsprechender Kultstätten und Kulthandlungen. Diese werden über mehrere geschichtliche Epochen nachvollzogen und in ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer menschlichen Mentalität erschlossen. Das Quellenmaterial ist auch hier umfangreich, z.B. in der Darstellung der Grabungsfunde aus der jungsteinzeitlichen Siedlung Catal Hüyük (auf dem Gebiet der heutigen Türkei), Vorstellungen zum Weltuntergang im dritten vorchristlichen Jahrtausend in Mesopotamien, die altägyptischen Pharaonenreiche und deren Kulte, keltische Grabungsartefakte aus Deutschland und anderen kulturgeschichtlichen Phänomenen. Teilweise finden sich solche Lebensformen und -ansichten bei noch heute lebenden (Natur-)völkern, z.B. den Himbanomaden im Nordwesten Namibias, deren Mentalitätswurzeln und -kultur in einem eigenen Kapitel dargestellt werden. Ebenfalls in einem eigenen Kapitel geht Haas auf die christliche Tradition in Bezug auf Weltsicht und Weltordnung, Göttlichkeit, Gesetz und Lebensführung ein und untersucht dazu Erzählungen zu Wiederauferstehung und der Opferthematik.
Als Einschub zur kulturanalytischen Betrachtung der Mentalitätsgeschichte wechselt Haas in einem späteren Kapitel (XIII.) zu einer psychoanalytischen Fallvignette. Hier werden Einblicke in die psychoanalytische Arbeit mit einer Psychosepatientin gegeben, deren psychotisches Erleben eng mit mentalisierungsgeschichtlichen Konzepten (Tod, Teufel, Gott) verknüpft waren, deren Genesungsweg als Herauswachsen aus diesen archaischen Zusammenhängen aufgefasst werden kann.
In einem dritten Abschnitt (Kapitel XIV.) beschäftigt sich Haas mit der Mystik als Anwesenheit göttlicher Ebenen in der Welt, die durch Sprache, Musik und vor allem emotionale Wahrnehmung „realisiert“ werden. Im psychoanalytischen Kontext wird Mystik gelegentlich als „… die dunkle Selbstwahrnehmung des Reiches außerhalb des Ichs, des Es“ (Freud 1941, 15) konzeptioniert. Mystik wird in den Ausführungen vor allem als Quelle künstlerischer und religiöser, oft miteinander verbundener Quellen oder Dynamiken beschrieben und anhand prominenter Beispiele (z.B. die „Gottesgeburt in der Seele“ im Christentum oder dem Islam, die Mystik des Apostels Paulus, die spirituelle Entwicklung Clemens Brentanos) ausführlich dargestellt.
Das Abschlusskapitel (XV.) fasst den Inhalt der zuvor auf über 350 dargestellten Inhalte zusammen und gibt einen Ausblick. Haas generiert aus seinem mentalitätsgeschichtlichen Entwurf fünf Grundannahmen, die Essenz seiner umfangreichen Studien:
- In der Menschheitsgeschichte „muss es eine Epoche gegeben haben“ (355), in der Sterben und Tod deutlich dramatisiert wurden. Dies war durch Vorstellungen geprägt, dass Verstorbene nicht tot waren, deren Übergang in ein Jenseits durch kultische Handlungen angestoßen und begleitet werden musste. „Dieses Mysterium war so etwas wie der Urknall des menschlichen Geistes: Ahnen und Götter sind divinisierte Tote“ (355), aus psychoanalytischer Sicht „imaginäre Schöpfungen der kollektiven Psyche“, verehrt und gefürchtet.
- Die menschliche Existenz in vorgeschichtlicher Zeit war von diesen überirdischen Mächten abhängig, ihr Leben war durch diese geprägt. „Dieses Menschsein unterscheidet sich grundlegend von unserer heutigen Existenzweise“ (355).
- Der Zugang zu diesen überirdischen Mächten erfolgte durch das einer Bild- und Wortsprache.
- Kinder durchlaufen in ihrem Entwicklungsprozess einer geistigen „Embryogenese“, die mit diesem religiösen Material in „rekapitulierender Verbindung“ (356) steht.
- In der heutigen, modernen Welt finden sich „Relikte der Bikameralität“ (ein Begriff der ein duales Persönlichkeitsbild meint mit einem Bereich der reale Weltbezüge beinhaltet und einem mystischen Bereich mit Bezug zu einem „Jenseits“, Haas beschreibt diese Bikameralität als Vorphase späterer Persönlichkeitstheorien, etwa die mit Freud etablierte Trippel-Struktur von Es, Ich und Über-Ich). Ausdrucksformen dafür sind psychopathologische Phänomene wie z.B. Psychosen, aber auch „Liebe, Glaube und Kunst haben ebenfalls archaische Dimension“ (356)
Die kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen, vor allem vorangetrieben durch technische Entwicklung, Globalisierung und Digitalisierung hat den modernen Menschen von den archaischen Wurzeln seiner Geschichte entfernt, besteht allerdings als „bisherige kollektive mentale Architektur“ (357) weiter. Als Ausblick bzw. Perspektive benennt Haas die voranschreitende Technisierung („digitale Revolution“ [358]) als Epochenwechsel, der einerseits völlig neue Strukturen und Dynamiken entwickelt bzw. noch entwickeln wird, der andererseits „auch gelegentlich einen komischen Wiedererkennungswert hat“ (359). Hauptmotor dieser Entwicklung ist die zu erwartende (Über-)betonung der kognitiven Anteile menschlicher Existenz, möglicherweise zum Nachteil dessen Emotionalität und Intuition. Gefühle drohen, so Haas, zugunsten verallgemeinerter Gefühlssymbole (gemeint sind hier Emojis und Smileys) verdrängt zu werden, was mit dem Verlust von Spiritualität und Kontakt zum frühen kollektiven Menschheitserbe assoziiert sein wird. Ausgehend von dieser Prognose fragt Haas danach, welche Bindungskräfte in den zukünftigen, hoch technisierten Lebenswelten wirken werden, um Gesellschaften zusammenzuhalten. Wenig optimistisch schreibt der Psychoanalytiker zum Schluss: „Skepsis gegenüber den Heilsversprechungen einer schönen neuen Welt ist immer wieder geboten, denn bislang haben sich alle irdischen Glücksverheißungen als Wege ins Unglück erwiesen“ (363).
Zielgruppe des Buches
Das Buch ist für keine spezielle Leserschaft geschrieben, wendet sich an alle, die einen psychoanalytisch orientierten Zugang im Verständnis um die Mentalitätsentwicklung der Menschheit als wertvollen Diskussionsbeitrag verstehen.
Diskussion
Eberhard Haas legt mit „Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens“ eine gründliche Analyse der Mentalitätsentwicklung des Menschen vor. Die Lektüre erweist sich als anspruchsvoll, der Autor tauch tief in kulturelles und künstlerisches Material ein und abstrahiert die auf der Oberfläche der Betrachtung gefundenen Stücke zu einem elaborierten Entwicklungsverständnis. Das Ergebnis: die Wurzeln unserer heutigen modernen Lebensform(en) werden offengelegt und ein tieferes Verständnis -auch zu den aktuellen Konfliktlinien- wird möglich. Voraussetzung dafür ist ein Mindestverständnis psychoanalytischer Gesellschaftsbetrachtung und eine gewisse Orientierung im Kulturgut der Menschheit. Haas betrachtet sein gesamtes schriftstellerisches Schaffen -rückblickend- als Vorarbeiten zu diesem Buch. Sein Zugang ist der Psychoanalyse und deren Entwicklung. In diesem Kontext ist sein 2012 erschienener Band „100 Jahre Totem und Tabu. Freud und die Fundamente der Kultur“ und der schon 2009 erschienene Band „Das Rätsel des Sündenbocks. Zur Entschlüsselung einer grundlegenden kulturellen Figur“ zu sehen. Wichtige Denkfiguren daraus finden sich, diesmal im größeren Zusammenhang einer Mentalitätsgeschichte wieder, werden dabei nicht einfach zitiert, sondern in einen größeren Zusammenhang gestellt, der seinen Höhepunkt in den zusammenfassenden fünf Grundannahmen zur Mentalitätsgeschichte findet. Offen bleibt dabei die Frage, ob die in dieser Geschichte auftauchenden Götter und mystischen Sphären bloße menschliche Erfindungen sind (so wie Haas auch von der „Erfindung des europäischen Denkens“ spricht), oder tiefergehende spirituelle Erfahrungsinhalte abbilden, die uns in der modernen Welt mehr und mehr verloren gehen. An dieser Stelle abschließend ein Zitat aus einem Lied Konstantin Weckers „Komm wir brechen morgen aus und dann stellen wir uns gegen den Wind. Nur die Götter geh'n zugrunde, wenn wir endlich gottlos sind“. (Wecker 1977).
Fazit
Ausgehend von in der frühen Menschheitsgeschichte angesiedelten naturhaft-mystischen Sichtweisen auf die Welt und deren Bedeutung, den Epochenwechsel hin zu einem sich emanzipierenden europäischen Geist untersucht der Autor die Herausforderungen im digitalen Epochenwechsel der Gegenwart. Dabei geht es auch um die Frage, welchen Platz unser archaisches Erbe in Ritualen, Kunst und mystischem Erleben in einer sich stetig und rasch verändernden Welt einnehmen kann. Ein Muss für alle, die sich mit der Entwicklung der Menschheit, der Entwicklung der individuellen und kollektiven Psyche auseinandersetzen wollen und ein reiches Quellenwerk, das aus dem Fundus der Kulturtheorie, der Religionsphilosophie und der Bewusstseinspsychologie schöpft.
Literatur
Freud, S. (1941). Ergebnisse, Ideen, Probleme. GW XVII, S. 149–152. Frankfurt: Fischer.
Haas, E. Th. (2009). Das Rätsel des Sündenbocks. Zur Entschlüsselung einer grundlegenden kulturellen Figur. Gießen: Psychosozial.
Haas, E. Th. (2012). 100 Jahre Totem und Tabu. Freud und die Fundamente der Kultur. Gießen: Psychosozial.
Wecker, K. (1979). Genug ist nie genug. Berlin: Fanfare Musikverlag.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
Website
Mailformular
Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 20.06.2024 zu:
Eberhard Th. Haas: Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens. Entwurf einer psychoanalytischen Mentalitätsgeschichte. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3302-4.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31095.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.