Irina Bühler: Als Forschende in der Partizipativen Forschung
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 21.12.2023

Irina Bühler: Als Forschende in der Partizipativen Forschung. Rollenperformanz und Rollenkonflikt.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
260 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3231-7.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR.
Reihe: Dialektik der Be-Hinderung.
Thema
Irina Bühler zeigt mit ihrer Publikation auf, wie verschiedene Menschen an einem partizipativen Projekt forschen „und wie sich die gemeinsame Tätigkeit auf die forschende Person und ihre Rolle auswirkt“ (S. 27).
Autorin
Irina Bühler lehrt als Professorin Inklusive Didaktik und Heterogenität am Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.
Entstehungshintergrund
Bei der Publikation handelt es sich um eine Dissertation, die über ein Forschungsprojekt am Lehrstuhl Sonderpädagogik: Gesellschaft, Partizipation und Behinderung an der Universität Zürich angefertigt wurde.
Inhalt
In seinem Vorwort setzt sich Georg Feuser kritisch mit der Forschungspraxis auseinander, die nicht unbedingt partizipativ ist, denn „es wird erforscht, was finanziert wird, und das ist leider oft nicht das, dessen das Fach im Allgemeinen und die Inklusion im Besonderen hinsichtlich des Erkenntnisgewinns für Theoriebildung und Praxis bedürfen“ (S. 12). Wenn Vorgenannter von einer „Integration in die Segregation“ oder „selektierenden Inklusion“ (S. 13) spricht, ist Partizipation nicht erreicht.
Das Erkenntnisinteresse resultiert aus der Biographie der Autorin, die zwei Rollen von ihr vereint:
- die Rolle der Mutter;
- die Rolle der Forscherin.
In der deutschsprachigen Sonderpädagogik hat die partizipative und inklusive Forschung verzögert eingesetzt. Es wird vorwiegend immer noch über behinderungserfahrene Menschen geforscht und nicht mit ihnen.
„In dieser Arbeit wird aufgezeigt, wie es ist, Forscher*in […] in einem partizipativen Projekt zu sein und gemeinsam mit verschiedenen Menschen zu forschen, und wie sich die gemeinsame Tätigkeit auf die forschende Person und ihre Rolle auswirkt“ (S. 27).
Für die partizipative Forschung im Feld Behinderung ist der Behinderungsbegriff, der in der Forschung verwendet wird, bedeutsam. Bühler erkennt Behinderung als Unterscheidungsleistung der Gesellschaft. Diese zeigt sich in zwei Formen, Behinderung 1 und Behinderung 2:
- als Erwartungsverletzung
- als Kontext, den die Erwartungsverletzung eröffnet.
Für die partizipative Forschung nutzte Irina Bühler die Ethnografie, um so den Fragen
- wie Forschung zum Themenfeld Behinderung produktiv erfolgen kann;
- wie ganzheitlich über Behinderung bzw. Inklusion geforscht werden kann
nachzugehen.
„Einen unmittelbaren und möglichst unverstellten Zugang zum Alltagsgeschehen können Forschende erhalten, wenn sie sich aktiv ins Feld begeben, wie dies bei ethnografischer Forschung der Fall ist“ (S. 103).
Das Forschungsfeld wurde durch die Mitarbeit der Autorin in einem partizipativen Forschungsprojekt am Lehrstuhl Sonderpädagogik: Gesellschaft, Partizipation und Behinderung an der Universität Zürich hergestellt. Die Forschungsgruppe war die gesamte Projektlaufzeit über heterogen aufgestellt und partizipativ organisiert.
Im Ergebnis stellt Bühler fest, dass es der Partizipativen Forschung darum geht, Vielfalt zuzulassen und dabei zu erkennen, was an Inhalten auftaucht, „was durch die Anwendung der Operativen Gruppe ermöglicht wird“ (S. 250). Wichtig ist ihr dabei, mit einer offenen Haltung die Forschung zu betreiben und „nicht mit einer vorgefassten Meinung an das Thema heranzugehen und Assoziationen, die auftauchen, nicht sogleich zu bewerten oder auszuschließen“ (ebd.).
Diskussion
Immer wieder werden Menschen mit Behinderung mit einer gewissen Skepsis zur partizipativen Forschung konfrontiert. Nicht selten werden partizipative Forschungsvorhaben verwehrt, weil ihnen für die Forschung die notwendige Distanz zum Forschungsobjekt fehlt. Diese Skepsis ist aber unbegründet. Mit einer ähnlichen Skepsis begegnete man in früheren Zeiten Frauen, die partizipative Frauenforschung durchführten. Auch diese Skepsis konnte z.B. Ulrike Schildmann durch ihre Frauenforschung in der Behinderten- und Inklusionspädagogik beseitigen.
Aus diesem Grund ist partizipative Forschung, wie sie von Irina Bühler in dieser Publikation erforscht wurde, ist längst überfällig. Partizipative und somit betroffenenkontrollierte Forschung führt – erfahrungsgemäß zu exakteren Forschungsergebnissen, als dies durch die – nicht betroffenenkontrollierte Forschung – der Fall ist. Publikationen aus den Disability Studies (vgl. z.B. die Beiträge in Waldschmidt 2022) belegen dies.
Fazit
Die Publikation ein unentbehrlicher Bestandteil der sonder- bzw. förderpädagogischen Bibliotheken. Es wird in ihr, u.a. mit Bezug auf die Biographie der Autorin, die Vielfältigkeit des partizipativen Forschungsprozesses aufgezeigt.
Literatur
Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Handbuch Disability Studies. Wiesbaden 2022.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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