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Helmut Dorra: Den Menschen verstehen

Rezensiert von Prof. Dr. Eckart Riehle, 21.12.2023

Cover Helmut Dorra: Den Menschen verstehen ISBN 978-3-8379-3266-9

Helmut Dorra: Den Menschen verstehen. Existenzielle Perspektiven für Theorie und Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 196 Seiten. ISBN 978-3-8379-3266-9. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.

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Thema

Besprechung und Überblick über ein Buch, das eine stark philosophisch grundierte Beratungspraxis in Theorie und Praxis darstellt.

Autor

Der Herausgeber Rene Märtin lebt und arbeitet seit 2000 in Osnabrück, Dr. Georg Martensen ist Logotherapeut, Existenzialanalytischer Berater und Coach, er betreibt zusammen mit Rene Märtin den Blog „Existenzielle Führung“.

Entstehungshintergrund

Es sind 10 Autoren und Autor:innen, Weggefährten, Kollegen und Schüler von Helmut Dorra, die zu dessen siebzigstem Geburtstag dieses Buch gemacht haben. Es handelt sich mit Helmut Dorra, um den Leiter des Hamburger Institutes für Existenzanalyse und Logotherapie, Ausbilder und Lehrsupervisor der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, tätig in der Fort- und Weiterbildung.

Der Titel des Buches „Den Menschen verstehen“, mit dem Untertitel „Existenzielle Perspektiven für Theorie und Praxis“, macht deutlich, was Dorra im Wesentlichen leitet und bewegt. Existenz, Dialog und Phänomenologie, sind die Themenfelder, die ihn auch mit seinen Wegbegleitern, Schülerinnen und Schüler verbindet. Damit ist ein breites Feld der Philosophie abgedeckt, von der Existenzphilosophie, zu dem breiten und vielfachen Gebiet der Phänomenologie und zu einem Dialogbegriff, in welchem der Lehrende immer auch Lernender und Fragender bleibt.

Zur Entstehung des Werkes ist damit zugleich alles Notwendige gesagt. Offensichtlich, dass alle an dem Werk Beteiligten ein gemeinsames Erkenntnisinteresse haben, eine gemeinsame Art, diesen Weg zu gehen.

Inhalt

Sieht man von einem Dialog von Helmut Dorra mit Christoph Kolbe ab (sein Podcast trägt den Titel „Fragen des Menschseins“), sind es 10 Beiträge, die den Band füllen.

Nicht alle 10 Beiträge können besprochen werden. Ich wähle daher drei aus, nicht ohne die Autoren/​Autorinnen der restlichen Beiträge zu erwähnen:

  • Stefan Wagener und Mariola Niedzielska-Wagener – Singen als Heilmittel,
  • Daniel Rumel – Von der Schwebe des Lebendigen,
  • Emmanuel J. Bauer - Überfordernde Freiheit,
  • Christoph Kolbe - Psychotherapie und Religion,
  • Daniela von Heyl - Zwischen Sein und Sollen,
  • Rahel Dorra - Wenns nicht mehr funktioniert.

Beiträge, welche schon mit der Überschrift anzeigen, dass jeweils zusätzliche Wege eröffnet werden.

Drei Beiträge stehen im Mittelpunkt:

Eingeleitet wird das Buch durch einen der Quantität nach umfassenden Beitrag bzw. Dialog von Helmut Dorra und Christoph Kolbe, überschrieben Weggefährten im Dialog. Ist die Person Dorra in den einzelnen Beiträgen, wie formuliert wird oft nur vermittelt erkennbar, so bietet dieser Dialog den direkt Zugriff auf ihn, er ist unterteilt in vielfache Unterkapitel, an denen ich mich weitgehend orientiere.

So erfährt man, woher beide kommen, was ihnen wichtig war und wichtig ist. Dorra berichtet von der Begegnung mit einem Be-gegner bei der Zimmersuche. Der Vermieter war offensichtlich philosophisch bestens grundiert und überraschte Dorra mit immer neuen Frage, er beendete dann plötzlich das Gespräch „So junger Mann, sie wissen viel, aber sie haben nichts verstanden.“ Aus dieser Begegnung ging Dorra verändert hervor, er wollte jetzt nicht nur Kenntnisse erwerben, sondern Erkenntnisse gewinnen (18). 

Eine weitere Begegnung: Er hatte, um das Abitur nachzumachen, einen Philosophielehrer, einen ehemaligen Bultman Schüler, ein Philosoph und evangelischer Theologe.

Dieser hatte ihm zu seinen Hausarbeiten mitgeteilt, „Ich gebe Dir eine Eins, aber eigentlich ist es eine Fünf“ (19). Eine 5, für eine Hausarbeit, in der alles richtig war, er aber „Dorra nicht erkannt“ hatte. Auch das zeichnete Spuren bei ihm. Das waren zwei Begegnungen, die sein Erkenntnisinteresse und Lernverhalten erheblich geprägt haben, aber auch sein Studieninteresse. Statt Theologie studierte er Philosophie, auch um immer je eigene Antworten zu finden, prägende Erfahrungen, Selbsttreue, Wahrheit und Wahrhaftigkeit als Leitlinien, die Dorra, wie seinen Weggefährten, miteinander verbinden.

Auch im dialogischen Denken, so Dorra, wird das Selbstverständnis nicht in einem reflexiven Verhältnis begründet, sondern in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit, in einer Ich-Du-Beziehung ethisch fundiert. (33)

Es ist für Dorra im Kern die Phänomenologie, die uns einen Zugang zum Verstehen unserer Daseins- oder Alltagsthemen ermöglicht. Sie kann aufweisen, wie wir unsere Person im Horizont der Zeitlichkeit vollziehen, während von einer existenziellen Zeitstruktur her sich nur existentielle Einzelphänomene unseres alltäglichen Lebens erschließen. (35)

Dorra unterscheidet streng zwischen der ontologischen Struktur, die ontologische Differenz, die Unterscheidung von Existenzial und existentiell, von Sein und Seiendem, was schon in der Scholastik ein Thema war. (36). So kann der Konflikt betrachtet werden in der ontologischen Dimension als Existential, den Grundstrukturen unseres Daseins und, in der ontischen Dimension des Seienden als existentiell, in den konkreten Möglichkeiten, die wir verwirklichen. Diese aus der Philosophie bekannte Differenz ist bei der Diagnostik und Analyse zu beachten. Für Dorra sind beide Ebenen nicht zu trennen. Infrage steht, wie weit sich eine ontologische Thematik hinter einer existentiellen verbirg und wirksam ist (30). In jedem Existentiellen, so fasst er zusammen, zeigt sich Ontologisches. Es sind die Existentialien, die Dorra für seine Beratungspraxis in Anspruch nimmt, der sich als Berater sieht, pragmatisch und alltagsbezogen. Die onotologischen Phänomene gelten allen Menschen. Sie zu erhellen, ist Aufgabe einer hermeneutischen Phänomenologie. (29) Es geht darum, die existentielle Sinnfrage nicht von der ontologischen zu trennen.

Elisabeth Kohrt (173-190), geht in ihrem Beitrag „Trauer als existenzieller Verarbeitungsprozess beim Verlust eines geliebten Menschen“ der Frage nach, wie angesichts von Tod, Leid und Verlust noch ein gelingendes Leben gestaltet werden kann, aus ihrer Sicht ist das eigene Person Sein in zweierlei Realitäten herausgefordert. Im Angefragt-Sein angesichts unmittelbaren Verlustes eines geliebten Menschen und zum anderen in einer zukünftig gelingenden Lebensgestaltung angesichts eigener Sterblichkeit. (173)

Sie kam durch eigene Erfahrungen zur Hospizarbeit. In der Ausbildung bei und mit Helmut Dorra war dies ein ständiges Thema. Die Autorin bezieht sich bei ihren Überlegungen auf Verena Kast, eine tiefenpsychologische Psychotherapeutin, für die der Verlust eines nahestehenden Menschen eine besondere Krise auslöst.

Der Trauerprozess ist für Kohrt eine Art Übergangszustand zwischen dem Wissen, dass ein nahestehender Mensch gestorben ist und der Akzeptanz dieses Verlustes (178) „bei dem es um die neuerliche Beziehungsaufnahme zum Leben“ geht (183).

Trauerbegleitung ist dabei nicht einfach Therapie oder Beratung, was ihr wichtig ist, sondern eine Begleitung von Mensch zu Mensch. (183) Ein anwesend sein.

Die Existenzanalyse umfasst nach ihrer Darstellung vier Dimensionen: den Weltbezug, den Lebensbezug, den Selbstbezug und den Zukunftsbezug (179). Zumeist, so Kohrt sei beim Trauern, der Selbstbezug am stärksten betroffen. Immer wieder verdeutlicht sie, dass Trauern nicht nur ein Prozess ist, der sich auf den Betrauernden als Trauernden bezieht, vielmehr ein Prozess, der sich immer auch auf meine Welt bezieht, also auch auf den Trauernden, der insgesamt zu dieser Welt gehört. Darin ist dann zugleich die Möglichkeit einer Veränderung des Trauernden, nicht anders, als eine Resonanz angelegt.

Julia Werner will in ihrem Beitrag „Von der Solidarität, dem Fremden und dem Eigenen, Philosophie und Lebenspraxis“ (81-94), dem Wissen um unsere Sterblichkeit als einer elementaren Solidarität nachgehen. Anlass gab ihr eine Bemerkung von Dorra zur Solidarität der Sterblichen.

In der philosophischen Tradition ergibt sich dies für sie nicht als selbstverständlich. Dem will sie nachgehen. In dem klassisch griechischen Weltbild liegt, so Werner, das Ideal der Harmonie, das Fremde bleibe deshalb außerhalb. Die dominierende Haltung gegenüber dem Fremden sei, dessen Auflösung in zwei Formen, Aneignung und Enteignung. Unter fremd sei dabei jeder zu verstehen, der anders ist.

Eine Problematisierungsschwelle im Umgang mit dem Fremden liegt für Werner dennoch im 18. Jh. (82).

Es gibt Schritte zu einem „Universalismus der Vernunft“, zu einer grundsätzlichen Anerkennung jedes anderen Menschen. Aber sie merkt auch an, dass die Werte der Aufklärung, das Fortführen der Kolonialisierung, der Sklaverei nicht verhindern, dass weiterhin das Fremdartige außereuropäischer Kulturen domestiziert wird, dass die Erfahrung, dass wir die Welt mit anderen teilen, nicht zu einem humanen oder gar solidarischen Umgang mit dem Fremden führt.

Hegels Kampf zwischen Herr und Knecht, so Werner, beinhalte die Möglichkeit, das Andere als Gegenpart zur Vernunft zu begreifen (84). Alterität sei in dieser Sicht stets mit Macht und Anerkennung verquickt. Das gilt, wie man bemerken kann, nicht nur für Foucault.

Zur Jahrhundertwende, sei, so wieder die Autorin, dann manches im Umbruch, Lebens- und Existenzphilosophie, Phänomenologie und Hermeneutik ermöglichten neue Zugänge zur Welt. Zunehmend rücke eine dialogische Beziehung zwischen Ich und Du in den Fokus und löse die traditionelle Subjekt-Objektkonstellation ab. Verwiesen wird auf Martin Buber, dessen Miteinander als Grundkategorie seiner dialogischen Ethik (85) und noch mehr bei Emmanuel Levinas mit seinem Konzept von Andersheit (85).

Das Primat des transzendentalen Ich bei Kant, weiche, so Werner, dem Primat des Anderen.(85)

Das hat für Werner möglicherweise mit jüdischer Geistestradition zu tun, mit der Idee eines personalen Gottes 86, Werner sieht in Levinas Konzept Anregung dazu, einen Zugang zu einem ethisch verantwortlichen Umgang auch mit anderen Lebewesen zu finden.

Dann verweist sie wieder auf das Ideal der Harmonie im antiken Denken, auf die Rolle der Freundschaft. Diese Zwiespältigkeit führt sie zu der Frage, ob eine Ethik der Begegnung mit dem Fremden und die Autonomie des Menschen, d.h. die Fähigkeit zu einem verantwortlichen Denken und Handeln in einem Begriff von Solidarität aufgehoben oder enthalten sei, der auf eine solidarische Praxis zielt, welche die Differenzen überbrückt und nicht nur die eher blasse Verbundenheit im Gleichen beinhaltet. (88)

Werner verweist hier auf Kristeva, dass wir erstmals in der Geschichte gezwungen seien, mit gänzlich verschiedenen und verschiedenem zu leben aufgrundlage unserer persönlichen Moralgesetze „ohne dass irgendein unsere Besonderheit umschließendes Ganzes dieses transzendieren kann“ (90). Wie soll das möglich sein; wir sollen solidarisch leben, angesichts der globalen Entwicklungen, eine Solidarität, die auch die Natur umfasst, nicht nur uns.

 Hier bezieht sie sich Werner wieder auf Dorra, der Blochs Prinzip Hoffnung zu einem Weg für das Sein des Menschen gemacht habe. Aber ist das mehr als Hoffnung, ist das eine Möglichkeit?

Sie schließt dann mit dem rätselhaften Satz ab, der verschiedene Deutungen zulässt. „Wir wissen als Sterbliche um unsere beschränkte Perspektive, und wir wissen um unsere beschränkte Perspektive als Sterbliche.“ (92)

Diskussion

Das Buch behandelt ein sozialpädagogisch und philosophisch weites Feld, bezieht dabei ein Beratungskonzept ein, das in der Regel, nach Wissen des Rezensenten, weniger im Mittelpunkt steht. Das wird etwa im Fazit des hier nicht erwähnten Beitrags des Mitherausgebers Martensen deutlich, wenn er resümiert, „Berater und Therapeuten, die sich von der Phänomenologie leiten lassen, (werden) die therapeutische Beziehung als ein Feld für die Erweiterung des gelebten Raums des Patienten nutzen“ (160), das bedeutet auch, diesen in seiner Vereinseitigung und Besonderheit zu verstehen und ihn damit zu konfrontieren. Das muss notwendig ab und an zu Vereinfachungen und Auslassungen führen, wenn zugleich ein informativer Überblick über Jahrhunderte, etwa von der Achsenzeit oder Antike, bis in die nach metaphysische Neuzeit gegeben wird.

Fazit

Im Rückblick würde ich sagen, für die meisten Leser dürfte das Buch nicht ohne Mühe und einige philosophische Grundkenntnisse zu bewältigen sein, aber eine Mühe, die sich lohnt, gewinnt man daraus Fragen, die zwar ohne Antwort bleiben, aber zur Weiterbeschäftigung einladen.

Rezension von
Prof. Dr. Eckart Riehle
em. Professor für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Fachhochschule Erfurt. Rechtsanwalt, Karlsruhe
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Es gibt 55 Rezensionen von Eckart Riehle.

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Zitiervorschlag
Eckart Riehle. Rezension vom 21.12.2023 zu: Helmut Dorra: Den Menschen verstehen. Existenzielle Perspektiven für Theorie und Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. ISBN 978-3-8379-3266-9. Reihe: Forum Psychosozial. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31100.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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