Marcus Heyn: Sexualpädagogik im Kreuzfeuer
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Sielert, 06.11.2023

Marcus Heyn: Sexualpädagogik im Kreuzfeuer. Der Sexualkunde-Atlas 1969 und die Kritik an schulischer Aufklärung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
563 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3193-8.
D: 64,90 EUR,
A: 66,80 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 34.
Autor
Dr. Marcus Heyn ist Sexualpädagoge und Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Biologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gender, Sexualität, Queer Theory und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in pädagogischen Settings.
Entstehungshintergrund
Wie viele in der Sexualpädagogik und sexuellen Bildung engagierten Akteure war auch Marcus Heyn anlässlich der heftigen politisch-ideologischen Debatten um Konzepte und Materialien zur sexuellen Bildung in den zurückliegenden Jahren daran interessiert, den argumentativen Mustern der medialen Repräsentation auf die Spur zu kommen. Auf der Suche nach einem markanten Beispiel entschied sich der Autor für eine Analyse der ausführlich dokumentierten und heftig geführte Auseinandersetzung um den Sexualkunde-Atlas von 1969, der zu Recht als Anfang der diskursiven Auseinandersetzungen um schulische Aufklärungsmaterialien in der BRD bezeichnet werden kann. Dieser „Objektwahl“ liegt die Hypothese zugrunde, dass das historische Beispiel bei der Bewertung gegenwärtiger Debatten um aktuelle schulische Aufklärungsmaterialien eine nicht zu unterschätzende Hilfe sein kann. Dem Buch liegt die 2020 an der Universität Hildesheim eingereichte Dissertation zugrunde.
Aufbau
Der Aufbau sexualpädagogischer Studien wird gern in metaphorischer Analogie zum klassischen „Geschlechtsakt“ gestaltet, zumindest Vor- und Nachspiel fehlen begrifflich selten, in der Mitte wird es dann meist unübersichtlicher, die Erregungs-, Plateau- und Orgasmusphase werden beim Lesen sehr individuell nachempfunden, wie im realen Sexualleben schließlich auch. Los geht es im Buch jedenfalls mit der Klärung wichtiger Grundlagen zum Themenbereich und methodologischen Herangehen, medientheoretischen Betrachtungen, der Korpusbildung und den gewählten Analyseschritten und -instrumenten. Der mit „Corpus Delicti“ bezeichnete Sexualkundeatlas wird im 2. Teil historisch eingeordnet und ausführlich beschrieben. Die insgesamt über 270 Seiten lange Feinanalyse der zentralen bundesdeutschen Printmedien (Teil3) bildet im wahrsten Sinne eine gewisse Plateauphase mit geringem Erregungslevel beim genauen Nachlesen. Nach dieser – für wissenschaftliche Studien notwendige – ausführliche Deskription der Feinanalyse kommt das Werk zu seinem analytischen Höhepunkt, der Interpretation des Mediendiskurses im 4. Teil, dessen Essentials im Nachspiel (Teil 5) mit den Unterabschnitten Rückblick, Weitblick und Ausblick bis in die gegenwärtigen Diskurse hineinreichen.
Inhalt
Es geht zentral um denThemenbereich der Sexualpädagogik mit seinen herausfordernden und die Öffentlichkeit regelmäßig erregenden Facetten, die sich insbesondere um die Figur des ‚unschuldigen Kindes‘ drehen, das von sexueller Beeinflussung ferngehalten werden müsse. Von Moralpaniken, Hyperventilationen und Katastrophismen ist die Rede, die sich zuvörderst an didaktischem Material für die Schule entzünden und mit gewisser Regelmäßigkeit zyklisch alle paar Jahrzehnte die Öffentlichkeit beschäftigen.
Exemplarisch wird von Marcus Heyn der 1969 vom Bundesfamilienministerium veröffentlichte Sexualkunde-Atlas anhand der Berichterstattung und Kommentare in den zentralen Leitmedien FR, FAZ, Welt, Zeit, SZ, Spiegel und BamS umfassend diskursanalytisch beschrieben und analysiert. Die narrativen und argumentativen Muster der Akteur*innen dieser Medien werden fokussiert um dadurch deutliche zu machen, „wie in der Öffentlichkeit Wahrheit und Wissen konstruiert werden, wie die Problematisierung von Sexualität und sexualpädagogischen Konzepten inszeniert und auf welche Kollektivsymboliken, Topoi und Narrative zurückgegriffen wird“ (S. 42).
Mit Hilfe dieses historischen Beispiels und im Vergleich mit ähnlich skandalisierten und kontrovers diskutierten später veröffentlichten Materialien zeigt der Autor, dass die sexualpolitischen ‚Lager‘ sich kaum verändern und sich zum Teil auch heute in denselben Leitmedien wiederfinden. Die Kontinuität der argumentativen und rhetorischen Figuren ist beachtlich anlässlich der von Marcus Heyn im „Weitblick-Kapitel“ des 5. Teils kürzer, aber dennoch nachvollziehbar skizzierten Diskurse um die Materialien „Muß-Ehen muss es nicht geben“, „betrifft: Sexualität“ „Let’s talk about Sex“, „Körper, Liebe, Doktorspiele“ und „Sexualpädagogik der Vielfalt“.
Potentielle Verschiebungen und Veränderungen der Auseinandersetzungen können allerdings nur entdeckt und analysiert werden, wenn auch die Resonanz auf diese Materialien ähnlich akribisch untersucht wird. Auf dem Hintergrund dieses Forschungsbefundes müssen manche der aktuellen Narrative überdacht werden, die einen grundsätzlichen „Roll-Back“, Backlash oder eine „konservative Wende“ in der gesellschaftspolitischen Beurteilung sexualpädagogischer Materialien behaupten.
Diskussion
Sexualpädagogische Materialien, die für die Verwendung im öffentlichen Erziehungs- und Bildungssektor erstellt werden, sind stets ein Auslöser für heftige sexual- und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen. Ihre Wirklichkeit gestaltende Macht ist nicht zu unterschätzen, wie Marcus Heyn mit seiner Studie sowohl methodologisch als auch inhaltlich überzeugend darlegt. Medial gestaltete Diskurse rund um Sexualität verschränken sich mit weiteren Bildungs- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und setzen sie gleichsam ‚unter Strom‘, indem sie manche ideologisch nüchternere Themen emotional befeuern. Der politisch-aufklärerische Gehalt der sorgfältigen Analyse besteht vor allem darin, die Mechanismen freizulegen, die insbesondere in diesen politischen Kämpfen angewandt werden und wirksam sind: Die Auswahl spezifischer Textpassagen, der Metapherngebrauch, Wortfelder der Abscheu, dramatisierende, vereinfachende und verallgemeinernde Argumentationsstrategien, Einbettung sexueller Aussagen in selektiv gewählte Topoi und Narrative, Diskurse der Natürlichkeit und Sittsamkeit, die Entsexualisierung der Kinder, Jugendgefährdungsbehauptungen und das Lächerlichmachen bis zur Kriminalisierung der Akteure, die mit dem sexualpädagogischen Material verbunden werden. Das alles ist in der Expert*innenszene längst bekannt, wird aber durch Heyn’s Studie noch einmal empirisch nachgewiesen und sollte immer wieder öffentlich gemacht werden.
Zuzustimmen ist dem Autor, dass sich trotz mancher Wiederholungen der Diskurspositionen bei neuen Erregungsanlässen Veränderungen in den Argumentationsstrategien ergeben können. Das gilt auch für sexualpädagogisch-professionelle Entwicklungen durch Diskursverflechtungen; und zwar auch solche, die vom Autor noch nicht in Augenschein genommen wurden. So endet der Bericht Heyns über den Diskurs zur Materialmappe Betrifft: Sexualität mit der Aussage: „Angesichts der vorangegangenen positiven Würdigung der Materialmappe in der Presse erscheint die Untersuchung der narrativen und argumentativen Strukturen, mit denen die Delegitimierung des Materials 1983 erfolgte, lohnenswert“ (441). Lohnenswert wäre auch, den Umgang des verantwortlichen Ministeriums mit den Nachfolgematerialien zu untersuchen, die in den Jahren 1984–1988 vom Institut für Sozialpädagogik der Universität Dortmund unter Federführung der Leitung (Prof. Dr. Dr. Keil und PD Dr. Sielert, anfangs Prof. Dr. Süßmuth) erarbeitet wurden. Die umfangreichen und in enger Zusammenarbeit mit den Jugendverbänden erarbeiteten didaktischen Materialien wurden zwar vom Auftraggeber nicht angenommen, erfreuten sich in der Praxis jedoch großer Beliebtheit. Sowohl das Material als auch die Projektgruppe und mit ihr viele Referent*innen der Verbände bildeten die Grundlage für das Institut für Sexualpädagogik (isp), das viel zu einer breitenwirksamen Professionalisierung der sexuellen Bildung in Deutschland beigetragen hat.
Fazit
Die Studie von Marcus Heyn kann als Meilenstein in der medien- und sexualpädagogischen Diskursforschung bezeichnet werden. Sie kontextualisiert den Sexualkunde-Atlas von 1969 in der damaligen sexualpolitischen Auseinandersetzung und kann als methodologisch anspruchsvolles Beispiel für weitere Analysen der gesellschaftlichen Resonanz sexualpädagogischer Materialien in der Öffentlichkeit dienen.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Sielert
Uwe Sielert, arbeitete bis 2017 als Professor für Pädagogik mit den Schwerpunkten Sozial- und Sexualpädagogik an der Christian- Albrecht-Universität zu Kiel. Zurzeit als Dozent tätig an der Medical School Hamburg und Mitarbeit im Modellvorhaben der PKV und des WIR Bochum zur Implementation einer positiven Sexualkultur zur Förderung sexueller Gesundheit in Einrichtungen des Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesens.
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Es gibt 11 Rezensionen von Uwe Sielert.
Zitiervorschlag
Uwe Sielert. Rezension vom 06.11.2023 zu:
Marcus Heyn: Sexualpädagogik im Kreuzfeuer. Der Sexualkunde-Atlas 1969 und die Kritik an schulischer Aufklärung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3193-8.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 34.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31110.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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