Eva Kubitza: Warum sexualisierte Gewalt nicht angezeigt wird
Rezensiert von Franziska Weiser, 16.10.2024
Eva Kubitza: Warum sexualisierte Gewalt nicht angezeigt wird. Eine kognitionspsychologische Untersuchung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
114 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3252-2.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 35.
Thema
In ihrer Veröffentlichung „Warum sexualisierte Gewalt nicht angezeigt wird“ widmet sich Eva Kubitza einer hochaktuellen Fragestellung: dem Anzeigeverhalten nach sexualisierter Gewalt. Die Autorin untersucht, warum viele Betroffene trotz des Erlebens von Gewalt keine Anzeige erstatten. Kubitza verbindet dabei kognitionspsychologische Theorien mit empirischen Ergebnissen und beleuchtet individuelle sowie gesellschaftliche Faktoren, die zur Entscheidung gegen eine Anzeige beitragen. Sie macht deutlich, dass die Thematik nicht allein auf das individuelle Verhalten von Betroffenen beschränkt ist, sondern strukturell tief in gesellschaftliche Normen und institutionelle Praktiken eingebettet ist.
Autorin
Eva Kubitza ist Sexualwissenschaftlerin und schreibt derzeit ihre Dissertation zur digitalen Informationslandschaft zum Schwangerschaftsabbruch am erziehungswissenschaftlichen Institut der Europa-Universität Flensburg. Außerdem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Merseburg und forscht hierbei im Rahmen des Teilprojekts des Verbundvorhabens „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“ (ELSA) Mit der vorliegenden Publikation leistet Kubitza einen wesentlichen Beitrag zur Debatte über das Anzeigeverhalten und die systemischen Barrieren, die Betroffene davon abhalten, sexualisierte Gewalt anzuzeigen.
Aufbau & Inhalt
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert und umfasst einen theoretischen sowie einen empirischen Teil. Im Folgenden werden die Inhalte der einzelnen Kapitel rezensiert und zusammengefasst.
In der Einleitung arbeitet Kubitza die Problematik der geringen Anzeigenbereitschaft bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung als gesellschaftliches und individuelles Dilemma heraus, welches von vielfältigen Faktoren geprägt ist.
Im zweiten Kapitel „Theoretische Grundlagen: Forschungen zum Hell- und Dunkelfeld und zum Anzeigeverhalten“ erläutert Kubitza die Begriffe „Opfer“ bzw. „Betroffene“, „Täter“ sowie die relevanten Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Auch wird eine Verortung im Hinblick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik, Hellfelderhebungen sowie Dunkelfeldforschung zum Anzeigeverhalten vorgenommen. Besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die subjektiven Theorien, die Betroffene und ihr Umfeld bezüglich sexualisierter Gewalt und des Anzeigeprozesses entwickeln. Hier zeigt sie eindrucksvoll, wie gesellschaftliche Erwartungen an „ideales“ Opferverhalten und stereotype Vorstellungen von Tathergängen das Anzeigeverhalten beeinflussen. Gegen Ende des Kapitels extrahiert sie folgende Forschungsfrage: „Welche subjektiven Theorien über sexualisierte Gewalt nutzen davon betroffene Frauen, um den Verzicht auf eine Anzeige zu begründen?“ (Kubitza, 2023, S. 38).
Im darauffolgenden Kapitel „Forschungsmethodisches Vorgehen“ wird die empirische Basis der Arbeit dargelegt. Die vorliegende Publikation nutzt Aussagen von betroffenen Frauen aus der Studie „PARTNER 5 Erwachsene“ aus dem Jahr 2020 erhoben von der Hochschule Merseburg. Kubitza wertet Antworten zur Frage nach anzeigebeeinflussenden Faktoren mittels einer Sekundäranalyse aus. Sie beschreibt anschließend ausführlich die Entwicklung eines Kategoriensystems zur Analyse dieser Daten.
In Kapitel vier „Auswertung der Untersuchungsergebnisse“ stellt Kubitza ihre Ergebnisse vor, darunter zentrale Determinanten wie die Abweichung vom „typischen“ Tathergang oder „idealem“ Verhalten von Betroffenen. Besonders prägnant ist die Herausarbeitung der Täterentlastung und des Mangels an Unterstützung, der Betroffene davon abhält, eine Anzeige zu erstatten. Zudem beschreibt sie die Dynamik von Selbstermächtigung und den Schutz des sozialen Umfelds als zentrale Faktoren im Entscheidungsprozess. Zur übersichtlicheren Darstellung verwendet Kubitza anschauliche Balkendiagramme.
Im fünften Kapitel mit der Überschrift „Reflexion der Ergebnisse und Limitationen“ reflektiert die Autorin ihre Ergebnisse kritisch und benennt Begrenzungen der Studie, insbesondere hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere soziale Kontexte. Sie macht deutlich, dass das Anzeigeverhalten nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern immer in einem komplexen Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Strukturen steht.
Nachfolgend diskutiert Eva Kubitza in einem weiteren Kapitel „Grenzen des forschungsmethodischen Vorgehens“ die Limitationen bezüglich ihrer Methodenwahl. Hier hebt sie vor allem hervor, dass mittels des Instruments des Fragebogens oft nur stichwortartige Antworten gegeben worden sind und diese sich kaum zur Identifizierung subjektiver Theorien eignen und sogar Raum für Fehlinterpretationen bieten.
Abschließend formuliert Kubitza praxisnahe Empfehlungen und regt im letzten Kapitel „Schlusswort und Empfehlungen für die sexualwissenschaftliche Praxis“ dazu an, Strukturen zu schaffen, die es Betroffenen erleichtern, Anzeige zu erstatten. Sie fordert eine Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden, eine spezialisierte Ausbildung von Polizeibeamt*innen und einen offeneren gesellschaftlichen Diskurs über sexualisierte Gewalt. Sie legt besonders viel Wert auf eine informierte Entscheidungsfindung für oder gegen eine Anzeige, wobei die Informationen durch Präventions- und Sensibilisierungsangebote den Frauen und Mädchen am besten bereits vor einer Tat zur Verfügung stehen.
Diskussion
Kubitza gelingt es, eine differenzierte Analyse des Anzeigeverhaltens nach sexualisierter Gewalt zu liefern. Besonders hervorzuheben ist die Verknüpfung kognitionspsychologischer Ansätze mit den realen Erfahrungen von Menschen, denen sexualisierte Gewalt angetan wurde. Ihr Grundgedanke, subjektive Theorien in den Vordergrund zu stellen, bietet einen tiefen Einblick in die inneren und äußeren Hürden, die Betroffene davon abhalten, den strafrechtlichen Weg zu beschreiten. Kubitzas Untersuchung zeigt eindrucksvoll, dass die Entscheidung gegen eine Anzeige häufig eine bewusste Schutzmaßnahme ist – gegen erneute Traumatisierung oder gesellschaftliche Stigmatisierung.
Besonders wertvoll ist ihr Hinweis auf die Notwendigkeit einer strukturellen Veränderung in der polizeilichen und gesellschaftlichen Reaktion auf sexualisierte Gewalt. Diese Forderung wird durch praxisnahe Vorschläge unterstrichen, wie z.B. die Einführung spezifischer Unterstützungsangebote für Betroffene, die sich mit der Idee einer Anzeige auseinandersetzen.
Ein Kritikpunkt könnte sein, dass Kubitza den kognitionspsychologischen Aspekt besonders stark in den Vordergrund rückt und andere relevante Theorien, wie etwa gendertheoretische Perspektiven, nicht ausführlicher behandelt. Dennoch liefert die Autorin mit ihrer präzisen Analyse und den praxisorientierten Empfehlungen einen wertvollen Beitrag zur Debatte über sexualisierte Gewalt und die strukturellen Hindernisse, die das Anzeigeverhalten betreffen.
Fazit
Eva Kubitza beleuchtet in ihrer wichtigen Arbeit das Anzeigeverhalten von Betroffenen sexualisierter Gewalt aus einer innovativen kognitionspsychologischen Perspektive. Ihre fundierte Analyse zeigt die komplexen Hürden auf, die Betroffene davon abhalten, eine Anzeige zu erstatten, und liefert wertvolle Einsichten für Praxis und Forschung. Kubitzas Buch ist ein relevanter Beitrag zur Verbesserung des gesellschaftlichen Verständnisses und der institutionellen Reaktionen auf sexualisierte Gewalt.
Rezension von
Franziska Weiser
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Es gibt 3 Rezensionen von Franziska Weiser.
Zitiervorschlag
Franziska Weiser. Rezension vom 16.10.2024 zu:
Eva Kubitza: Warum sexualisierte Gewalt nicht angezeigt wird. Eine kognitionspsychologische Untersuchung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3252-2.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 35.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31111.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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