Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Thea Bauriedl: Auch ohne Couch

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Gerspach, 29.11.2024

Cover Thea Bauriedl: Auch ohne Couch ISBN 978-3-8379-3258-4

Thea Bauriedl: Auch ohne Couch. Psychoanalyse als Beziehungstheorie und ihre Anwendung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 400 Seiten. ISBN 978-3-8379-3258-4. D: 49,90 EUR, A: 51,30 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

 In den letzten 25 Jahren hat sich die Psychoanalyse endgültig von einer Ein-Personen-Psychologie verabschiedet, wie sie dereinst von Sigmund Freud begründet worden war, und sich sowohl in ihrer theoretischen Fundierung der Persönlichkeitsentwicklung als auch in der methodischen Ausrichtung ihrer klinisch-psychotherapeutischen Anwendung zunehmend dem interaktiven Geschehen zugewandt. Intrapsychische und interpsychische Wirkfaktoren werden fortan als dialogisch wie dialektisch verknüpft angesehen. Ansätze zu dieser Perspektivenausweitung lassen sich schon in der markanten Formulierung des Objektbeziehungstheoretikers Donald Winnicott „There is no such thing as a baby“ finden, mit der er auf den unumstößlichen Umstand hinwies, dass der Säugling ohne die empathische Fürsorge der Mutter und anderer bedeutsamer Menschen nicht existieren könnte. In den 1980er Jahren haben Jay Greenberg und Stephen Mitchell diesen Gedanken weitergetragen und daraus ihre Idee einer relationalen Psychoanalyse entworfen, nicht zuletzt, um der aus frühen Interaktionen erwachsenden innerpsychischen Konfliktdynamik und der damit gegebenen Nachhaltigkeit sozialer Beziehungen den ihnen gebührenden Platz einzuräumen.

Nun liegt hier ein Buch vor, dass dieser Tradition folgend sehr ausführlich und umsichtig die Psychoanalyse als Beziehungstheorie kenntlich macht. Es ist die Wiederauflage eines bereits 2004 erschienenen Bandes, und in der so schnelllebig gewordenen Zeit, die gerne der Verblendung aufsitzt, alles bereits Gedachte, das älter als zwanzig Jahre ist, für überholt zu erklären, erscheint dieses Unterfangen wahrlich nicht als überflüssig. Den ursprünglich emanzipativen Geist wie die ergo veränderungsmächtige Kraft der Psychoanalyse sollte man sich also wieder ins Bewusstsein holen dürfen, wo doch nur mehr schnöde Anpassungsrituale im Sinne hochglanzgetrimmter Selbstinszenierungen im Dienste der Verwertbarkeit der menschlichen Ressource zu obsiegen drohen. Gerade die Tatsache, dass die Psychoanalyse gesellschafts- und kulturkritische Wissensbestände maßgeblich zu beeinflussen vermag und ihr – wenn vielleicht auch nicht immer auf den ersten Blick evident – eine dezidiert politische Couleur zu eigen ist, mit der sie den Umschlag von objektiven gesellschaftlichen Widersprüchen in subjektives Leid nachzuzeichnen und zu bearbeiten weiß, spricht für die Plausibilität dieser Schrift. Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass die Psychoanalyse auch neue Formen der Psychotherapie, wie Paar-, Familien- und Gruppentherapie, für sich erobert und zudem Eingang in viele Praxisfelder der Sozial- und Humanwissenschaften gefunden hat, in denen sie – „auch ohne Couch“ – für eine verbesserte Gestaltung und Reflexion professioneller Beziehungen gesorgt hat. All das spricht dafür, diese Landnahme präziser auszuleuchten und zu konzipieren.

Autorin

Leider ist Thea Bauriedl (1938 – 2022) noch vor der Veröffentlichung ihres Werkes verstorben. Sie war Psychoanalytikerin in eigener Praxis und lehrte Klinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem fungierte sie als Lehranalytikerin, Supervisorin und Dozentin in der psychoanalytischen Ausbildung von Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut*innen sowie von Erwachsenenpsychotherapeut*innen an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München e.V. Sie zählte zu den prominentesten Repräsentant*innen der Psychoanalyse, die sich gesellschaftspolitisch engagierten, war Mitherausgeberin der Zeitschrift für Politische Psychoanalyse, im Beirat der Humanistischen Union und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac.

Aufbau und Inhalt

 In ihrem Vorwort bekennt die Autorin, dass eigentlich eine veränderte Neuauflage geplant war, sie aber von diesem Gedanken wieder Anstand nahm, da sich, wie sie bekennt, inzwischen um sie herum und bei ihr selbst so viel verändert hatte. Viele neuere Beiträge zum innerpsychoanalytischen Diskurs fokussieren sich nicht mehr auf therapeutische Techniken, sondern auf die Austauschprozesse zwischen Psychoanalytiker*innen und ihren Analysand*innen, wie sich exemplarisch an der Betrachtung des dynamischen Zusammenspiels von Übertragung und Gegenübertragung in der therapeutischen Beziehung zeigen lässt.

Der sehr umfängliche Band ist in sieben Kapitel unterteilt. Kapitel 1 ist überschrieben mit „Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse“ und kann als eine Einführung in die Psychoanalyse für jene angesehen werden, die in der Materie nicht gut bewandert sind. Dieser Vorsatz ist in der vorgetragenen Dichte wie Verständlichkeit ausdrücklich zu loben, setzt er sich doch eindeutig von den gescheiterten Versuchen jener Autor*innen ab, die sich in ihren Handbuchartikeln aus Unkenntnis wie Unverstand mit einer mechanistischen Aufzählung metatpsychologischer Versatzstücke von Phasen- und Strukturmodell jenseits allen Verstehens unbewusster psychodynamischer Prozesse begnügt haben, so wie sie es von ihrer positivistischen Berufssozialisation her gewohnt sind. Hier nun aber wird in der gebotenen Verdichtung der Kern der Psychoanalyse referiert: Es geht um eine Konflikttheorie, die sich um die Kompromissbildung aus Wunsch und Abwehr herum ansiedelt, welche, ganz zentral, mit inzestuösen Regungen innerhalb der Familie in Verbindung steht, so wie es im Konzept des Ödipuskomplexes exemplarisch ausbuchstabiert ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist hier die Ausbildung eines falschen Selbst, welches das versteckte Überleben des wahren Selbst ermöglicht. Im Fortgang werden die methodischen Besonderheiten der klinischen Arbeit wie die psychoanalytischen Grundregeln von freier Assoziation oder gleich schwebender Aufmerksamkeit beschrieben, um über ein Durcharbeiten der unbewusst gewordenen Konfliktthemen eine Emanzipation davon im Sinne einer wiedergewonnenen psychischen Flexibilität zu erlangen. Auch hier wird betont, dass dieser Erfolg abhängt von den Veränderungsmöglichkeiten beider am therapeutischen Prozess beteiligten Personen.

Im 2. Kapitel „Psychoanalyse ohne Couch – ein Widerspruch“ werden diese Gedanken weiter ausdifferenziert. Hier legt sich die Autorin zugleich mit allen möglichen dogmatischen Vertreter*innen der Psychoanalyse als einer ausschließlich hochfrequenten und lang andauernden Behandlungsform – dem „reinen Gold der Psychoanalyse“ (Freud) – an. Bauriedl ist aber nicht so blauäugig, eben dieses Setting als unabdingbar für die Behandlung bestimmter schwerwiegender Symptomatologien anzusehen. Zumal sie betont, wie schwer es für sie selbst als Psychoanalytikerin ist, in einem Setting ohne Couch die multiple Identifikation mit allen beteiligten Personen, einschließlich sich selbst, aufrechtzuerhalten. Allerdings hält sie nicht von einer „abstinenten Vorsicht“, den Patient*innen gegenüber nicht erkennbar zu werden. Im Gegenübersitzen, so ihre Auffassung, vermag der Patient/die Patientin die Gefühle und Reaktionen des Analytikers/der Analytikerin viel realistischer zu sehen. Um also Veränderungen in den Beziehungsstrukturen der Patient*innen zu erreichen – und das heißt zuallererst, die verschmolzenen Beziehungsstrukturen des Gegenübers zu erkennen – bedarf es der Abstinenz als eines therapeutischen Eingriffs in dieses unbewusste Beziehungsgeschehens. Abstinenz als eine Form der Beziehung kann das aktive Durcharbeiten einer Double-Bind-Situation als auch das passive Überlassen des therapeutischen Raums bedeuten.

Im 3. Kapitel „Psychoanalyse als Beziehungsanalyse – das systemtheoretische Verständnis der Psychoanalyse“ werden aktuelle Querverbindungen zum systemtheoretischen Diskurs hergestellt, wobei Bauriedl zufolge bereits in Freuds beziehungsanalytischer Konzeptionierung des Ineinanders von Übertragung und Gegenübertragung eine systemische Perspektive aufscheint. Den Unterschied zwischen Psychoanalyse und Systemtheorie bringt sie prägnant auf den Punkt: Die psychoanalytische Frage „Wie entsteht das?“ zielt auf ein prozesshaftes Verstehen, das sich an Entwicklung und Veränderung intrapsychischer als auch interpsychischer Beziehungsstrukturen orientiert. Die systemtheoretische Frage „Wie ändert man das?“ führt dagegen zu einem technischen Verständnis mit dem Veränderungswillen „dysfunktionaler“ Phänomene. In dieser Hinsicht erscheint es überaus plausibel, Wert auf den psychoanalytischen Habitus zu legen, alles Erleben ausschließlich aus der Perspektive der Dialektik zwischen Wünschen und Ängsten zu verstehen. In diesem Kontext erfolgt auch eine Klarstellung zur Bedeutung der nicht zu vernachlässigenden Metapsychologie, mit deren Hilfe sich dynamische, topische und ökonomische Prinzipien des innerpsychischen Geschehens, die hinter der direkten Erfahrung wirksam werden, beschreiben lassen. Aber anders als die eingangs von mir gescholtenen naturwissenschaftlich ausgerichteten Biograph*innen der psychoanalytischen Ideengeschichte, die sich, wenn überhaupt, auf solche nicht-spekulativen Gesetzmäßigkeiten zu beschränken suchen, argumentiert Bauriedl, dass solche Bebilderungen unserer Innen- und Außenwelt nicht in Stein gemeißelt sind, sondern sich immer wieder verändern, weil sich das allgemeine Bewusstsein ändert. Und doch bleibt unsere Wahrnehmungs- und Denkstruktur auf solche Bilder angewiesen. Die sich bereits bis hierhin andeutende fundamentale Differenz zu naturwissenschaftlichen als auch systemischen Vorstellungen unserer Psyche wird im Fortgang der Überlegungen zur Psychoanalyse als einer Beziehungsanalyse weiter geschärft.

Über einen ausführlichen Exkurs zur Genese der Persönlichkeit werden die Gefährdungspotenziale maligner Interaktionsformen benannt. Bereits die frühen dyadischen Erfahrungen offenbaren die große Abhängigkeit des Säuglings von seinen primären Objekten. Es geht gar nicht anders – was Fluch und Segen zugleich sein kann –, als dass er sich so fühlt, wie er von seinen Bezugspersonen erlebt wird. Wenn hier Grenzen fehlen, bleibt die weitere Identitätsentwicklung unklar, mit allen Folgen des narzisstischen Dilemmas wie Machtkämpfen, Spaltungen oder Schuldübernahme in der Verwechslung von Täter- und Opferrolle. Die zentrale Anforderung an eine spätere psychoanalytische Therapie ist es, mit der nachgelassenen Angst des Patienten/der Patientin fragend und die Angst respektierend umzugehen. Denn jede Angst und jedes Gefühl sind erst einmal richtig und wichtig. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, Abschied zu nehmen von der Vorstellung einer idealen Objektivität der Analyse. In der interaktiven Theorie betritt der Analytiker/die Analytikerin selbst die Bühne und er/sie kann sich nicht länger mit einem Spiegel verwechseln. Selbst im Schweigen liegt Handeln. Folglich gilt es, die Struktur des interaktiven Beziehungsfeldes genau in den Blick zu nehmen. Wie damit die Rolle des Analytikers/der Analytikerin als Container inhaltlich zu füllen sei, wird im Folgenden kleinteilig erläutert. In diesem familientherapeutischen Konzept tauchen indessen interessante Unterschiede zu jenen bei Klein, Winnicott oder Bion auf: Jetzt ist es nicht mehr der Säugling, der für sich allein Gefühle von Angst und Schrecken empfindet. Sie korrespondieren jenen der Eltern, die selber ihr Kind als „Mülleimer“ für ihre „Abfälle“ benützen.

Die folgenden drei Abschnitte nehmen einen Positionswechsel vor und fokussieren sich jetzt auf die unmittelbare therapeutische Arbeit. Im 4. Kapitel „Der Veränderungsprozess in der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie aus beziehungsanalytischer Sicht“ werden die klassischen psychoanalytischen Vorgehensweisen wie Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten an Hand paar- und familientherapeutischer Settings durchdekliniert. Über weite Strecken ähneln die Ausführungen jenen aus traditionellen psychoanalytischen Lehrbüchern. Etwa, wenn es um das Moment der Triangulierung – fußend auf der ubiquitären Erfahrung, als Dritter in eine Beziehungskonstellation hinein geboren zu werden – geht. Erfrischend selbstkritisch sind aber jene Bekenntnisse gehalten, die aus der therapeutischen Beziehung herrührenden eigenen Phantasien und Assoziationen selbstreflexiv zu beleuchten. Zu sehen, wo Veränderung nötig ist, heißt nicht, sogleich der Größenphantasie zu erliegen, kleine Schritte verhindern zu wollen, weil man die Angst der Patient*innen und die eigene nicht berücksichtigt. So kann es auch nicht darum gehen, die Realität erfahrener Misshandlungen umzudeuten, sondern darum, die intrapsychische Unterscheidung von Opfer und Täter zu fördern. Hier nun offenbart Bauriedl die an ihr schon immer hochgeschätzte Fähigkeit, konkret vorzuführen, wie zu verfahren sei. Und sie entkommt der Versuchung, zu konkretistisch zu werden und selbst zu entscheiden, wer nun wirklich Opfer und wer Täter ist.

Ähnlich problematisch wäre es, wie im 5. Kapitel über die Therapie von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern beschrieben, den Gedanken der Spaltung in gute und böse Väter oder Mütter aufrecht zu erhalten und das über ein entgegengesetztes Verhalten zu korrigieren zu suchen, was die Eltern „falsch“ gemacht haben. Geradezu schonungslos geht die Autorin mit sich selbst ins Gericht, wenn sie offenbart, in welches innere Dilemma sie in dem Moment gerät, wenn Eltern ihr Kind mit Vorwürfen bombardieren. Entweder sie verspürt den Impuls, in die Anklage der Eltern einzustimmen oder umgekehrt, genau entgegengesetzt zu reagieren. Gleichzeitig wird eindrücklich belegt, wie erst die Auflösung der Spaltung in der Beziehung der Eltern zueinander zur Überwindung der kindlichen Symptomatik führen kann. Dabei geht es nicht darum, wer recht hat, sondern ob eine Relativierung der Ansichten im gemeinsamen Bemühen um eine schrittweise Annäherung an Gefühle und Phantasien, die bisher unter einer gewalttätigen Starre der verklammerten Beziehungen verborgen blieben, ermöglicht wird.

Konsequenterweise wird im 6. Kapitel der Beitrag der psychoanalytischen Perspektiven zur Supervision behandelt. In ihrem bahnbrechenden Buch „Beziehungsanalyse“ hatte Bauriedl die psychodynamischen und soziodynamischen Grundprinzipien von Beziehungsstörungen dargelegt. Hier nun überträgt sie diese primär auf innerfamiliale Interaktionsstrukturen gemünzten Erkenntnisse auf das Praxisfeld professioneller Deformationen, wobei sie die gesellschaftlichen, hier implizit wirksam werdenden Beziehungsmatrices nicht außeracht lässt. Schließlich wirkt sich die Unbewusstheit vorgegebener Normstrukturen auf die Ebene der Institutionen aus, wie es bereits Mentzos in seinem Konzept interpersonaler und institutioneller Abwehr dargetan hat. Die Suche nach dem Verstehen der unbewusst gewordenen Gefühle und Wünsche in der Supervisionsgruppe setzt voraus, sich auf eine Verunsicherung der bisherigen Sicherheitsstrukturen einzulassen, was nur gelingen will, wenn der Supervisor/die Supervisorin auch selbst zu diesem Schritt der Selbstvergewisserung bereit ist.

Im Abschlusskapitel „Politische Psychoanalyse als angewandte Psychoanalyse – Probleme und Möglichkeiten“ wird die Fülle der zuvor gelieferten Erkenntnisse noch einmal paradigmatisch zurückgebeugt auf prinzipielle gesellschaftskritische Problemstellungen. Sehr erfreulich erscheint das kompromisslose Bekenntnis zu einer Psychoanalyse, deren Wesen es sei, ideologische Verfestigungen in Frage zu stellen. Dieser Anspruch betrifft nicht nur den innerpsychoanalytischen Diskurs, sondern auch den Auftrag zu Kulturanalyse im Sinne der Kritischen Theorie. Es gilt Abschied zu nehmen von der Schimäre, als sei der Psychoanalytiker/die Psychoanalytikerin in der Lage, besser über die Patient*innen Bescheid zu wissen als diese selbst. Vielmehr geht es um die vor dem Hintergrund eigener analytischer Selbsterfahrung gewonnene Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammen abgewehrte Anteile in der Einzelperson wie in allen zwischen menschlichen Beziehungen wieder bewusst werden zu lassen. Damit, so könnte man es als probates Schlusswort deuten, verliert die Psychoanalyse das Monopol für die Erkenntnis des Unbewussten. Aber auch ihre fachspezifische Betriebsblindheit.

Diskussion

Als selbst Teil der Student*innen-Bewegung und ihrer Ausklänge nach 1968 sollte es nicht verwundern, dass ich diesem gewaltigen Werk von bald 400 Seiten meine ganze Sympathie entgegenbringe. In jenen erfrischend unruhigen Tagen wurde die Psychoanalyse nach ihrer Zerschlagung durch den Nationalsozialismus wieder neu entdeckt. Vor allem ihre Verknüpfung mit den Denkfiguren der Kritischen Theorie bescherte eine nachgerade revolutionäre Kehrtwendung jeder Erkenntnistheorie über menschliche Angelegenheiten. Leider erlosch dieses Feuer aus Enttäuschung über die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Umsetzung in gelebte Praxis vielerorts wieder recht schnell, nicht zuletzt ausgelöst durch eine diffuse Angst vor dem eigenen Unbewussten, die über den Vorwurf an die Psychoanalyse, sie sei eine bürgerliche Wissenschaft, rationalisiert wurde. Inzwischen ist der Prozess des Verschwindens der Psychoanalyse aus den sozialwissenschaftlichen Diskursen, sowie aus Psychologie und Medizin quasi abgeschlossen.

Vor diesem Hintergrund spiegelt dieses Buch nicht nur eine alte Diskussions- und Erkenntniskultur, sondern bietet auch Möglichkeiten an, noch stets auf die besondere Form des psychoanalytischen Verstehens vertrauen zu können, um das unbewusste Einsickern gesellschaftlicher Entfremdungsprozesse in die Subjektgenese sichtbar zu machen und Wege zur (gemeinschaftlichen) Emanzipation von eigenen innerseelischen Blessuren aufzuzeigen. Dabei gelingt es Thea Bauriedl auf unnachahmlich schlichte, niemals besserwisserisch daherkommende Weise, die Zugänge zum Leiden des Einzelnen zu veranschaulichen, ohne eine kühle Distanz zwischen sich als Psychoanalytiker*in und ihren Patient*innen entstehen zu lassen. Mit der Ausformulierung eines dialogischen Interaktionsgeschehens beugt sie der Pathologisierung von Störungsbildern wie der Hoffnung auf ‚Heilung‘ davon gleichermaßen vor. Und sie öffnet auf diese Weise den Raum zu übergreifenden Bedeutung von Beziehungen in der Familie, der Institution, am Ende der Gesellschaft. Psychoanalyse ist wieder so politisch wie damals.

Fazit

Mit dieser Schrift hat Thea Bauriedl posthum der einmaligen Bedeutung der Psychoanalyse als dem Paradigma einer kritischen Theorie des Subjekts einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Ihr Ausgangspunkt ist ein dialektisch-emanzipatorisches Prinzip, das sie nicht nur in der klassischen psychoanalytischen Therapiesituation verwirklicht sieht. Für viele nichtklinische Settings beschreibt sie sehr ausführlich und penibel, wie das tief gründende Potenzial der Psychoanalyse auch jenseits der Couch wirksam werden kann. So beschreibt sie die Veränderungsprozesse in der Psychotherapie, der Paar- und Familientherapie, in der Therapie von Kindern, Jugendlichen und ihrer Eltern sowie in der Supervision. Schließlich beleuchtet sie noch die Chancen einer politischen Psychoanalyse, die gewillt ist, sich aller Felder gesellschaftlicher Erosionen anzunehmen.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Gerspach
lehrte bis 2014 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalyti­sche Pädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt.
Mailformular

Es gibt 37 Rezensionen von Manfred Gerspach.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Manfred Gerspach. Rezension vom 29.11.2024 zu: Thea Bauriedl: Auch ohne Couch. Psychoanalyse als Beziehungstheorie und ihre Anwendung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. ISBN 978-3-8379-3258-4. Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31119.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht