Christoph Kasinger, Ayline Heller et al.: Das Nachbeben der deutschen Vereinigung
Rezensiert von Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann, 14.03.2024
Christoph Kasinger, Ayline Heller, Elmar Brähler: Das Nachbeben der deutschen Vereinigung. Psychologische und soziologische Perspektiven.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
350 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3220-1.
D: 44,90 EUR,
A: 46,20 EUR.
Reihe: Forschung psychosozial.
Thema
Die deutsche Vereinigung hat ein besonderes Licht auf sich, aus sowohl wissenschaftlicher als auch politisch motivierter medialer Darstellung hinterlassen. Oft, so scheint es, blieb dabei ein bitterer Beigeschmack von aberkanntem biografischem Erleben und Einengung auf einen totalitär geprägten Überwachungsstaat, mitunter unvereinbar mit den Erlebensperspektiven Ostdeutscher. Gleichzeitig fanden die Orientierungs- und Anpassungsleistungen, insbesondere der Ostdeutschen, hierbei wenig Beachtung und vor allem Würdigung. Zudem sieht es so aus, als wären die Rückwirkungen der Vereinigung auf Westdeutsche bisher ebenfalls weniger untersucht. So wird es spannend zu sehen sein, was mit der Ankündigung eines „Nachbebens“ verknüpft und diskutiert und vor welchem Hintergrund dieses Phänomen gesehen und analysiert wird.
Herausgeber
Christoph Kasinger, ist zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsmedizin in Mainz im Projekt: DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit.
Elmar Brähler, ist als Professor Gastwissenschaftler an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, wo er das Projekt: DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit leitet.
Ayline Heller, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Beraterin bei GESIS -Leibnitz-Institut für Sozialwissenschaften beschäftigt. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie e.V. und ebenfalls am Projekt: DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit beteiligt.
Entstehungshintergrund
Die Veröffentlichung entstand vor dem Hintergrund sich angleichender Lebensbedingungen zwischen Ost- und Westdeutschland und der bereits bestehenden neuen Generation, die die deutsche Teilung nur aus Erzählungen der Eltern kennt, sodass sich die Frage stellte, wie relevant Kategorien wie Ost und West noch sind. Gleichzeitig wurde nach der Vereinigung, für die an Analysen beteiligten Wissenschaften klar, dass es sich hier um eine einmalige Grundlage und Gelegenheit handelte, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, im Rahmen einer 40ig jährigen antagonistischen Entwicklung einerseits und der Orientierungsprozesse andererseits, nach der Vereinigung und für die Ostdeutschen, verbunden mit einem Systemwandel, zu untersuchen. Zudem wurde konstatiert, dass die enormen Herausforderungen bei der Orientierung und Anpassung der Ostdeutschen kaum gewürdigt wurden. So bildete sich schon bald nach der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland eine eigenständige Forschungsrichtung an der Schnittstelle von Soziologie, Psychologie, Geschichte und Medizin, die es sich zum Ziel machte, Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, aus verschiedenen Perspektiven disziplinübergreifend zu beforschen. Vor diesem Hintergrund ist es Anliegen dieses Buches: 1. …zentrale Forschungsergebnisse der letzten 30 Jahre zusammenzubringen, 2. …zu einem besseren beiderseitigen Verständnis für die Lebensrealitäten und Phänomene, jenseits der ehemaligen Mauer beizutragen und 3. …zur weiteren Diskussion über anhaltende Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Ost und West einzuladen und dabei der Frage nachzugehen: In welcher Form die Vergangenheit in aktuelle Geschehnisse und deren Bewertung mit einfließt und „(…) wie wir aus dem vielschichtigen, heterogenen Erfahrungsschatz zu einer gemeinsamen, wertschätzenden Zukunft gelangen können.“
Aufbau und Inhalt
Das Vorwort würdigt insbesondere die wissenschaftlichen Leistungen von Elmar Brähler, neben weiteren Persönlichkeiten, als Mitherausgeber der Publikation und seinen Werdegang im Rahmen der „Gießener Schule“ für psychosomatische Medizin. Die Publikation selbst untergliedert sich in insgesamt sechs Teile: In einem Einstieg wird, in zwei Beiträgen, die Relevanz des Themas dargestellt. Im zweiten Teil sind drei Übersichtsarbeiten, zum siebten, zehnten und zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit nachzulesen, die sich mit psychischen und sozialen Aspekten des Transformationsprozesses befassen. Dann folgt im dritten Teil eine Auseinandersetzung mit Aspekten der Familienkonstellationen und – gründung, der sich über drei Beiträge erstreckt. Der vierte Teil beschäftigt sich, ebenfalls mit drei Beiträgen, mit dem Thema Kindheit. Auswirkungen und Wahrnehmungen von Recht und Unrecht werden im fünften Teil, im Rahmen von vier Beiträgen diskutiert. Der letzte und sechste Teil ist der Binnenmigration mit insgesamt vier Beiträgen gewidmet. Dabei sind das benannte Vorwort und ein Editorial vorangestellt, welches die Orientierung im Rahmen der zahlreichen verglichenen Studien erleichtert. Jeder Beitrag endet mit einer kritischen Diskussion zum Forschungsdesign sowie zur Ergebnisinterpretation.
Im ersten Teil „Einstieg“ geht es zunächst um die Frage, „wie bedeutsam Ost-West-Unterschiede“ sind. Hierzu wird eine Analyse von Ost-West-, Geschlechts- und Nord-Süd-Unterschieden bei psychologischen Testverfahren, aus dem Jahr 2002 herangezogen. Die dabei herausgestellten Unterschiede – vor allem zwischen OST – West und bei den Geschlechtern – zeigen auch nach über 10 Jahren Vereinigung, ihre Relevanz. Im zweiten Einstiegstext „Alltagskulturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen“ handelt es sich weniger um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern eher um, einen persönlichen und Erfahrungsblick eines westdeutschen Professors (Brähler – der Autor dieses Textes). Dafür stehen die gewählten Überschriften, über den einzelnen und kurz dargelegten Beobachtungen, wie z.B. „Wir telefonieren oder ich komme vorbei“ oder „Die Frau steht ihren Mann?“
Im zweiten Teil wird in drei Beiträgen, mit der Überschrift „Übersichtarbeiten“ auf drei zeitliche Abschnitte, nach der Vereinigung, Bezug genommen. Dabei geht es im ersten Beitrag „Psychische Befindlichkeiten in Ost- und Westdeutschland im siebten Jahr nach der Wende“ um die Darstellung und Diskussion der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Vor dem Hintergrund der Zeit, werden hierbei die Veränderungen im Selbsterleben der Ost-und Westdeutschen verdeutlicht. Im zweiten Beitrag „Ost-und Westdeutsche zehn Jahre nach der Wende“ steht eine bevölkerungsrepräsentative Befragung aus dem Jahr 1999 im Mittelpunkt, die mit anderen repräsentativen Befragungen verglichen wird, so z.B. mit einer Ost-Westbefragung aus dem Jahr 1994. Im Mittelpunkt stehen dabei, neben einer Bewertung verschiedener Lebensbereiche und der Lebenszufriedenheit, Aspekte der erinnerten Erziehung durch die Eltern, soziale Unterstützung sowie Bindungsstile in der Partnerschaft. Abgeschlossen wird dieser zweite Teil mit der Übersichtsarbeit „20 Jahre wiedervereintes Deutschland: Angst und Zuversicht in Ost & West.“ Unter Bezugnahme auf verschiedene Studien wird hier ein differenziertes Bild von Realängsten, Angststörungen und Traumata als Folge von politischer Inhaftierung erzeugt. Dabei werden die ersten beiden Punkte vergleichend auf Ost- und Westdeutschland bezogen, während der letzte Punkt (Traumata…) ausschließlich für Ostdeutschland betrachtet wird.
Auch der dritte Teil: „Familiengründung“ umfasst drei Themenkapitel. Auf der Basis mehrerer Datenquellen werden im ersten Beitrag „Demografische Veränderungen in den neuen Ländern zwischen 1989 und 2013“ u.a. Geburtenentwicklung und Familiengründung, Kinderlosigkeit, Eheschließungen und -scheidungen, Lebenserwartungen, Binnenmigration und Bevölkerungswachstum untersucht. Sinkende Geburtenzahlen zwischen 1990 und 1995 in Ostdeutschland waren auslösend dafür, im zweiten Beitrag „Persönliche Kinderwunschmotive und Einstellungen zum Kinderwunsch in Ost-und Westdeutschland“ zu befragen und dabei besonders der Rolle und Bedeutung von sozialer Unterstützung, Persönlichkeitsaspekten und sozialdemografischen Variablen bei Kinderwunschmotiven nachzugehen. In der dritten Untersuchung „Sozialisationsaspekte und Rollenbilder zur Vereinbarkeit von Familie und weiblicher Berufstätigkeit sowie Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland“ weisen die Autor:innen nach, dass die unterschiedliche Sozialisation auch große Unterschiede in der Einstellung zur Berufstätigkeit von Frauen und der Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch prägt(e).
Im vierten Teil „Kindheit“ geht es dann, in drei Beiträgen um erinnerte elterliche Erziehung, Selbst- und Familienaspekte und Auswirkungen von Krippenbesuchen auf psychische und Einstellungsfaktoren im Erwachsenenalter. Im ersten Beitrag „Das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten im OST-West-Vergleich und seine Beziehung zur aktuellen Befindlichkeit“ zeigen die Autor:innen, mittels einer repräsentativen Untersuchung, dass Ostdeutsche, die zum Zeitpunkt der Erhebung 1994 in den neuen Bundesländern lebten, elterliches Erziehungsverhalten als besser, weniger ablehnend und kontrollierend und Väter als emotional wärmer einschätzten, als Befragte aus den alten Bundesländern. Allerdings werden in einer Metabetrachtung auch Möglichkeiten und Probleme der retrospektiven Erfassung elterlichen Erziehungsverhaltens diskutiert und dargestellt, die das Momentum, also die aktuelle Stimmungslage und Situation und einen möglichen Selbstreferenz-Effekt (genauere Erinnerung bei Übereinstimmung mit aktuellen Überzeugungen, Einstellungen, Meinungen) beinhalten. Der zweite Beitrag „Das Polaritätsprofil zur Erfassung der Stellung des Individuums im sozialen Raum aus subjektiver Sicht“ diente der Erfassung der Stellung des Individuums im sozialen Raum aus seiner subjektiven Sicht und fundiert bzw. erklärt Ergebnisse zu Ost-West-Unterschieden, in Bezug zu erinnertem familialem Verhalten, des ersten Beitrages. Der dritte Beitrag mit der Fragestellung „Hat der Besuch einer Kinderkrippe Auswirkungen auf psychische und Einstellungsfaktoren im Erwachsenenalter?“, endet mit dem Ergebnis, dass die Annahme, dass frühkindliche Krippenbetreuung negative Folgen habe, nicht bestätigt werden konnte.
Im fünften Teil „Recht und Unrecht“ geht es in vier Beiträgen um Neid, Menschenrechte in Deutschland und posttraumatische Belastungssymptome bei Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland. Die ersten beiden Beiträge „Neid und Neidbewältigung in Deutschland“ und „Neid und soziale Gerechtigkeit“ beschäftigen sich mit Neid bzw. Neidformen, Gerechtigkeitsformen und ihren Untersuchungen vor dem Hintergrund von Gesundheit, Geschlecht, Bildungsgrad und Bildungsstatus sowie der Wohnregion Ost und West. Der damit auch untersuchte Zusammenhang von Neid und Gerechtigkeit erfolgt mittels soziologischer, psychologischer und empirischer Erkundung. Der dritte Beitrag „Menschenrechte in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft“ vergleicht zwei repräsentative Studien hinsichtlich des Wissens über Menschenrechte, hinsichtlich der Wichtigkeit von Menschenrechten und im Hinblick auf die Handlungsbereitschaft, sich dafür stark zu machen bzw. sich dafür einzusetzen. Dabei werden Ost und West verglichen und einführend der Hintergrund zu den Vereinten Nationen und zur Entstehung und Ratifizierung der Menschenrechte dargestellt. Der letzte Beitrag „Ängstlichkeit, Depressivität, Somatisierung und Posttraumatische Belastungssymptome bei den Nachkommen ehemals politisch inhaftierter Personen in Ostdeutschland (1945 – 1989)“ verfolgte, mittels einer Studie, das Ziel, quantitative Daten zur psychischen Belastung bei Kindern ehemals politisch inhaftierter Personen in der SBZ/DDR, in Abhängigkeit vom Geschlecht zu präsentieren. Im Rahmen selbstkritischer Anmerkungen und bei einer Beteiligtenzahl von 45 Personen sowie dem Bestehen unberücksichtigt gebliebener Einflussvariablen, wird die vorsichtige Annahme der Interpretationen und Ergebnisse angemahnt.
Der sechste Teil „Binnenmigration“ greift in vier Beiträgen, das Phänomen, besonders der Ost-Westbewegungen, vergleichend mit einigen Westbewegungen im vereinten Deutschland auf und untersucht Erfahrungen, psychische Befindlichkeit und seelische Gesundheit der Migrierenden. Im ersten Beitrag „Binnenmigration in Deutschland zwischen den alten und neuen Bundesländern“ wird den Migrationsmotiven: beruflich oder privat und sowohl als auch sowie Motivationserfahrungen nachgegangen, bevor nach den psychischen Befindlichkeiten der Ost-West MigratInnen gefragt wird. Der zweite Beitrag „Innerdeutsche Migration und psychisches Befinden“ definiert zunächst Migration bevor er sich einer gezielten Untersuchung der Befindlichkeit von innerdeutschen Migrierenden zuwendet. Neben soziodemografischen Rahmendaten wurden hier Daten zum körperlichen Wohlbefinden, wie z.B. Belastbarkeit, Vitalität, Genussfähigkeit, innere Ruhe… erfasst. Ein weiterer Beitrag „Innerdeutsche Migration und seelische Gesundheit“ präsentiert die Ergebnisse aus der Sächsischen Längsschnittstudie von 2014. Dabei wurde sich mit Fragen des gegenwärtigen Lebensschwerpunktes und dem Bleibe- oder Wegzugwunsch auseinandergesetzt, bevor diese Daten mit der Messung der allgemeinen psychischen Belastung aus der sächsischen Längsschnittstudie verglichen worden sind. Hierbei wurden Aspekte und Gefühle wie z.B. Mutlosigkeit, Ratlosigkeit, Sinn des Lebens – Fragen, Angst vor Zukunft… usw. erhoben. Im letzten Beitrag „Migration in die Depression?“ werden ähnliche Ergebnisse wie im zweiten Beitrag beschrieben. Demnach legen diese Ergebnisse nahe, dass die innerdeutsche Migration mit psychischer Belastung einhergehe, wobei aber auch darauf verwiesen wird, dass es weiterer Forschung und Bezugnahmen auf weitere Faktoren bedarf, um die Zusammenhänge sicher herausstellen zu können.
Diskussion
Die vorliegende Publikation wagt die vornehmlich quantitativ ausgerichtete Annäherung an ein hoch komplexes, über dreißig Jahre währendes Phänomen des Zusammenwerdens zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher, aber gleichsprachiger Systeme, unter Berufung auf das im Titel aufgemachte „Nachbeben“ der deutschen Vereinigung. Dabei war eines der Anliegen, zur Diskussion beitragen zu wollen. Als besonders, darf hier hervorgehoben werden, dass der Versuch unternommen wurde, soziodemografische Daten mit Motiven, Einstellungen, psychischen, und Gesundheitsfaktoren zusammenzudenken bzw. zusammenzuführen. Gleichwohl ist das Anliegen, zur Diskussion beitragen zu wollen dahingehend aufgegangen, dass sich eine Reihe von Fragen zur Publikation stellen. Wie die AutorInnen in Ihren abschließenden Diskussionen, nach den Beiträgen, oft (selbst)kritisch feststellen, führen Zahlen nicht zwangsläufig zu hieb- und stichfesten Fakten, sondern unterliegen, perspektiv- und evtl. interessendeterminiert, Interpretationen. Gleichzeitig können nicht alle möglichen und potenziellen Einflussfaktoren eines Phänomens berücksichtigt werden. Wenn demnach Forschende, zu einem Teil des Forschungssystems werden und persönliche Erfahrungshintergründe mitbringen, ergibt sich die Frage, wie viele der beteiligten AutorInnen tatsächlich im Osten aufgewachsen sind? An wen richtet sich demnach genau das Buch? Wer soll am Ende diskutieren und mit welcher Absicht? Ferner stellt sich die Frage, wie die erhobenen und verwendeten Daten, wovon die aktuellsten von 2014 sind, die aktuelle Diskussion im Jahr 2024 beflügelt? Inwiefern vermögen es Schnittmengenbildungen, von denen dann leider auch nicht alle repräsentativ sind, Qualitäten von Phänomenen zu beschreiben oder anders gefragt, was sagen Durchschnitte am Ende aus? Was war, was ist demnach das Ziel hinsichtlich der generierten Ergebnisaussagen? Z.B. wurden sowohl im 2. Teil psychische und Trauma-Folgen aus politischer Inhaftierung als auch im 5. Teil bei den Auswirkungen politischer Inhaftierung der Eltern auf die Kindergeneration, lediglich Daten aus Ostdeutschland herangezogen. Gab es keine Daten dazu aus dem Westen? Was impliziert, was produziert eine solche und dann nicht einmal repräsentative Auswahl, hinsichtlich der vergleichenden Einschätzung von Ost- und Westdeutschland? Ist das nicht das Gegenteil von Mehrdimensionalität und Multiperspektivität? Verwirrend und irritierend erscheinen zudem die Beiträge zu Neid und zur Neidbewältigung im 5. Teil und Beiträge zur Binnenmigration im 6. Teil dahingehend, dass sich – besonders aber im 5. Teil – z.T. seitenweise Passagen wortgleich wiederholen. Ist hier schlecht redigiert worden oder steht dahinter ein bestimmtes Anliegen? Im 6. Teil Binnenmigration geht es um den physischen Vollzug dieser. Was passiert jedoch, wenn ein Mensch quasi über Nacht ein anderes Land, mit anderen Normen und Gesetzen, veränderten monetären Gegebenheiten, mit anderen Besitzverhältnissen etc. vorfindet und nicht er in dieses Land gegangen ist, sondern das Land zu ihm kam? Welche Anpassungsherausforderungen und -leistungen liegen dem zugrunde? Und wie beeinflusst eine fehlende Wahlmöglichkeit dieses Phänomen? Wäre die Publikation eine andere, wenn sie z.B. Studien zu Assimilations- und Akkomodationstypen beleuchtet und danach gefragt hätte, wie sich diese Typen im Verlaufe der Jahrzehnte verändert haben und wie sie im Kontext statistischer Erhebungen, gesellschaftlich als relevant einzustufen sind? Und zum Schluss, für wen ist hier wo das Nachbeben? Was wird damit verknüpft? Am aufschluss- und lehrreichsten und auch am wertvollsten waren demnach die am Ende jedes Beitrages geführten (Meta-)Diskussionen, die sowohl die methodologischen Herangehensweisen als auch die Ergebnisse kritisch reflektierten, etwas, was nicht immer selbstverständlich erscheint und erheblich zur Transparenz beiträgt, wie die entstandenen Ergebnisse zu bewerten sind.
Fazit
Die Publikation liefert einen breiten Überblick über Forschungsergebnisse der letzten 30 Jahre zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Sie inspiriert zudem, durch die kritisch zu betrachtenden Aspekte, in der Umsetzung, Ergebnisdarstellung und -bewertung, zu neuen Fragen, Denkansätzen und ggf. Forschungswegen.
Rezension von
Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann
Ausgebildete systemische Therapeutin / Familientherapeutin, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Arbeitet als Akademische MA an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus/Senftenberg (BTU CS)
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Zitiervorschlag
Oda Baldauf-Himmelmann. Rezension vom 14.03.2024 zu:
Christoph Kasinger, Ayline Heller, Elmar Brähler: Das Nachbeben der deutschen Vereinigung. Psychologische und soziologische Perspektiven. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3220-1.
Reihe: Forschung psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31126.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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