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Heribert Blass (Hrsg.): Zeit und Zeiterleben

Rezensiert von Dr. Georg Singe, 27.12.2023

Cover Heribert Blass (Hrsg.): Zeit und Zeiterleben ISBN 978-3-8379-3265-2

Heribert Blass (Hrsg.): Zeit und Zeiterleben. Psychoanalyse im Dialog mit Neurobiologie, Physik und Geschichtswissenschaft. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 142 Seiten. ISBN 978-3-8379-3265-2. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Herausgeber und Autor:innen

Herausgeber des Buches ist der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Heribert Blass, derzeitiger Präsident der Europäischen psychoanalytischen Föderation (EPF). Das Buch enthält die Beiträge aus einem Symposium der EPF im Jahr 2022 zum Verständnis der Dimension der Zeit aus psychoanalytischer und naturwissenschaftlicher Sicht. Psychoanalytiker:innen und Mediziner:innen wie Leopoldo Belger, Katy Bogliatto, Charlotta Björklind, Joëlle Picard, Bernd Nissen, Jasminka Šuljagić, der Neurowissenschaftler und Neurochirurg Arnoldo Benini, der Physiker Gernot Münster und der Historiker François Hartog bilden ein fachkundiges interdisziplinäres Autor:innenteam. Zum Ende des Bandes ist ein Beitrag des bereits verstorbenen Psychoanalytikers Jorge Canesteri aus dem Jahr 2015 zum Thema „Der komplexe Dialog zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse“ aufgenommen.

Thema

Blass erläutert in dem einleitenden Kapitel ausführlich die Hintergründe des Werdeganges der Themenfindung für den EPF Kongress 2022 und gibt so einen inhaltlichen Einstieg in den interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse, Neuro- und Naturwissenschaften, den Jorge Canestri vorangetrieben hat. Das Thema ist seit Freuds unterschiedlichen Zeitkonzepten auf dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Relativität von Zeit und Raum sehr relevant, da auch die Psychoanalyse Vorstellungen einer „historischen Wahrheit“ Blass, S. 12) in psychoanalytischen Prozessen aufgeben muss.

Aufbau und Inhalt

Das Symposium in Brüssel war geprägt von vier Hauptvorträgen zum Thema Zeit aus neurobiologischer, physikalischer, historischer und psychoanalytischer Sicht, zu denen dann jeweils aus psychoanalytischer Sicht eine Replik im Mittelpunkt der Diskussion steht. 

In dem einleitenden Kapitel stellt Blass (S. 7 - 25) die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Zeit für die Psychoanalyse dar und gibt einen Überblick über die einzelnen Beiträge des Buches. Die langjährigen konzeptionellen Überlegungen, die Freud zum Thema Zeit und Zeiterleben in seinen Werken ausgeführt hat, sind bis heute für die Diskussion sehr relevant, da Freud in seinem späten Konzept der Zeit als historische Wahrheit sowohl biologische als auch psychische Determinanten diskutiert hat. Es besteht eine Notwendigkeit für den psychoanalytischen Diskurs, das Gespräch mit den Naturwissenschaften auf dem Hintergrund der Aufhebung des absoluten Raum- und Zeitbegriffes durch die Physik und die Neurobiologie zu führen. 

Der Einleitung schließt sich der Beitrag von Bleger (S. 27 - 35) an, der in seinen Ausführungen auf Freud verweist, wie er sich in den Entwicklungen seiner Konzepte immer wieder auf die Ergebnisse anderer Wissenschaften bezogen hat. Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Strömungen in der Psychoanalyse, sich einerseits auf das Besondere und Einmalige zu konzentrieren und sich andererseits von der Öffnung auf andere Wissenschaftsbereiche wie insbesondere die der Neurowissenschaften eine vertiefende Neubegründung der Psychoanalyse zu erhoffen, stellt Bleger die Leistung von Jorge Canestri heraus, den aktuellen Diskurs ermöglicht zu haben.

Einen zentralen Beitrag liefert Arnoldo Benini zum Thema „Neurobiologie der Zeit“ (S. 37 - 50), der im Gegensatz zu verschiedenen Ansätzen der theoretischen Physik und Philosophie aus neurowissenschaftlicher die Realität der Zeit in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt. Zunächst gibt er einen Überblick über die Zeitforschung ausgehend von den Überlegungen Kants in seiner Kritik der reinen Vernunft, dass die Kategorie der Zeit nicht zur Erfahrung der Außenwelt gehört, sondern a priori eine angeborene innere Dimension der physischen Existenz des Menschen ist. Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen auf, dass der Zeitsinn „ein wechselreiches und anpassungsfähiges Geflecht von Rationalität, Gedächtnis, Affektivität und Sinn des eigenen Körpers“ (S. 42) darstellt. Dabei bleibt festzuhalten, dass es auf dem Hintergrund der Forschungen von Helmholtz zur Reaktionszeit und der Ergebnisse der Experimente von Libet keinen konstanten Wert zwischen einem Ereignis und seiner bewussten Wahrnehmung gibt und der Mensch somit immer in der „Vergangenheit“ lebt. Diesen Aspekt hebt Katy Bogliatto (S. 51 – 54) in ihrem Kommentar zu Benini als sehr bedeutsam für die Konzepte der Psychoanalyse hervor und betont, dass die Reflexion der Zeitlichkeit auf kognitiver und emotionaler Ebene in jedem psychoanalytischen Modell allgegenwärtig ist.

Im Weiteren erläutert nun Gernot Münster (S. 55 - 67) das Phänomen der Zeit aus physikalischer Sicht. Dabei betont er, dass die physikalische Zeit nicht im Widerspruch zur phänomenologischen, subjektiv erlebten Zeit steht. Seine Ausführungen zurzeitmessung, zur Relativitätstheorie und zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geben einen umfassenden Überblick in diese Wissenschaftsdisziplin. Dabei stellt er die Differenz zwischen der absolut gedachten Zeit bei Newton und der Abhängigkeit der Zeit von den Dimensionen Raum und Bewegung bei Einstein mit der „Konsequenz der Relativität der Gleichzeitigkeit“ (S. 66) heraus.

Im Kommentar zu Münster stellt Charlotta Björklind (S. 69 – 76) heraus, dass es immer schon ein Anliegen der Psychoanalyse gewesen ist, die äußere mit der inneren Realität in der Reflexion des Bewussten und des Unbewussten zu vermitteln. Dabei stellt sie verschiedene Analogien zu den Ergebnissen der Physik in den Mittelpunkt, die das interdisziplinäre Gespräch bereichern. „Münster zeigt, wie die Gegenwart nur in der subjektiven Erfahrung existiert, aber für uns ist dieses (illusionäre) Jetzt die einzige tatsächliche Öffnung zurzeitlosigkeit der psychischen Realität…“ (S. 73).

Der Franzose Hartogh (S. 77 – 96) erläutert in seinem Beitrag „Begegnungen mit Chronos“ aus historischer Perspektive den Wandel der Betrachtung der Zeit hin zu einem dynamischen Verständnis aus der jeweiligen Gegenwart heraus. Dieser Präsentismus relativiert jegliche Konzepte, Zeit objektiv zu verstehen. Geschichte ist immer auf dem Hintergrund des jeweiligen „Historizitätsregime“ (S. 81) zu erfassen. Er beschließt seine Ausführungen mit lesenswerten Gedanken zu aktuellen Krisen und dem jeweiligen Kairos, der in diesen Momenten aufscheint, Zukunft zu gestalten. 

Der Anthropologe und Psychoanalytiker Joëlle Picard betont in seiner Replik zu diesen Ausführungen (S. 97- 103), dass die historischen Variationen des Zeiterlebens, die Regime der Historizität „kulturelle, nicht bewusste Variationen“ (S. 99) darstellen und betont die Chancen der Aufarbeitung kollektiver Traumata, durch die Psychoanalyse. Dabei ist er sich der zahllosen Paradoxien bewusst, die die Frage nach der Zeit für den Psychoanalytiker aufwirft.

Bernd Nissen (S. 105 - 120) erläutert in seinem Beitrag „Kairos und Chronos“ anhand praktischer Beispiele aus der psychoanalytischen Praxis verschiedene Dimensionen der Zeit. Die bei Freud beschriebene Zeitlosigkeit des Unbewussten bedeute nicht, dass keinerlei Zeitdimensionen wahrzunehmen sind. Er geht in Bezug auf die Theorien von Bion und Winnicott von einem Modell der Präsenz aus, bei dem die Dichotomie von Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Subjekt und Objekt, von Selbst und Welt aufgehoben werden. Die Aufarbeitung der Situationen, die Winnicott als „Breakdown“, bezeichnet hat, bildet eine zentrale Grundlage für die psychoanalytische Behandlung, bei der das Ich, „das sich aus den Abgründen des Breakdown erhebt, sich selbst, das Objekt und die Beziehung denken“ (S. 118) kann. In diesen Prozessen ist das Zeiterleben im Hinblick auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft präsent.

Im Kommentar zu den Ausführungen von Nissen würdigt die Psychoanalytikerin Jasminka Šuljagić (S. 121 – 120) die Ausführungen von Nissen im Hinblick auf die Verknüpfungen der Zeitlosigkeit des Unterbewusstseins mit der psychoanalytischen Praxis, in der das Zeiterleben eine wesentliche Voraussetzung der Bearbeitung psychischer Störungen darstellt. Das Erleben verschiedener Zeitdimensionen bedeute auch eine „Zeittransformation“ (S. 126), in der die Zeitlosigkeit traumatischer Erfahrungen bearbeitet und bewältigt werden könne.

Zum Abschluss des Bandes ist ein Beitrag von Jorge Canestri aus dem Jahr 2015 aufgenommen (S. 129 – 142), in dem schon damals die Bedeutsamkeit des Dialogs zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse für die Zukunft psychoanalytischer Theorie und Praxis postuliert wurde. Dabei reflektiert Canestri grundlegende erkenntnistheoretische Fragestellungen und kommt zur Schlussfolgerung, „dass das Prinzip der Anomalie des Geistigen einen ontologischen Monismus und einen erkenntnistheoretischen Dualismus – einen deskriptiven, methodischen und begrifflichen Dualismus – fordert.“ (S. 142)

Diskussion

Die Vorträge und Diskussionsbeiträge in diesem Sammelband stellen eine umfassende Einführung und Vertiefung in das komplexe Feld der Reflexion der Dimension der Zeit unter psychoanalytischer, neurobiologischer, historischer und physikalischer Sicht dar. Die Vielfalt der fachlichen Beiträge öffnet das zentrale Thema der Zeit für einen interdisziplinären Diskurs, der für alle Beteiligten einen großen Gewinn darstellt.

Angesichts der Herausforderungen, unter denen die psychologische Psychotherapie im Zuge der Reformen des Gesundheitswesens steht, sind die einzelnen psychotherapeutischen Schulen – besonders auch die Psychoanalyse – herausgefordert, interdisziplinär zu denken und in ihren Konzepten naturwissenschaftliche, vor allem neurobiologische Ansätze, zu berücksichtigen. In diesem Kontext ist die Publikation der Vorträge und Diskussionen des EPF – Symposium eine große Bereicherung für die Praxis der Psychotherapie als auch für die Weiterentwicklung der theoretischen Konzepte.

Fazit

Die Vielfalt der Anregungen in den unterschiedlichen Beiträgen der Publikation sind für Fachkräfte der Psychotherapie, der Beratung und vieler anderer Disziplinen höchst relevant, da der Umgang und die Reflexion der Dimensionen von Zeit und Zeiterleben eine zentrale Kategorie in der Bearbeitung und Gestaltung bewusster und unbewusster Prozesse der Lebensgestaltung bildet. Vor allem Leser:innen anderer Psychotherapieansätze werden vor den Ideen der psychoanalytischen Sichtweisen großen Nutzen haben. 

Rezension von
Dr. Georg Singe
Dipl.-Sozialarbeiter, Dipl.-Theologe, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF)
Dozent an der Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta
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Es gibt 26 Rezensionen von Georg Singe.

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ISSN 2190-9245