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Hans Zulliger, Reinhard Fatke (Hrsg.): Umgang mit dem kindlichen Gewissen

Rezensiert von Prof. Dr. Ariane Schorn, 25.03.2025

Cover Hans Zulliger, Reinhard Fatke (Hrsg.): Umgang mit dem kindlichen Gewissen ISBN 978-3-8379-3297-3

Hans Zulliger, Reinhard Fatke (Hrsg.): Umgang mit dem kindlichen Gewissen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 170 Seiten. ISBN 978-3-8379-3297-3. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Reihe: Psychoanalytische Pädagogik.

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Thema

Im Zentrum der unter dem Titel „Umgang mit dem kindlichen Gewissen“ zusammengeführten Artikel Zulligers steht das „Erforschen des Gewissens, seines Aufbaus, seiner Entwicklung und Fehlentwicklung“ (S. 17). Anders als vielfach heute rezipierte Ansätze zur Moralentwicklung geht es Zulliger dabei gerade auch um ein vertieftes Verständnis der innerpsychischen und interaktionellen Prozesse und Dynamiken, die im Zusammenhang der Gewissensbildung sowie bei Gewissenskonflikten relevant sind.

Autor

Hans Zulliger (1893-1965) war ein bekannter und bedeutender Schweizer Psychoanalytiker. Ihm kommt eine zentrale Rolle bei der Etablierung der psychoanalytischen Pädagogik und Kinderpsychotherapie zu. Er arbeitete als Lehrer an einer Dorfschule, als Erzieher und Kinderpsychotherapeut sowie als Gutachter in Fürsorge- und Jugendstrafprozessen. Psychoanalytische Konzepte der damaligen Zeit machte er für den Kontext Schule fruchtbar und setze sie erfolgreich in Schule und Erziehungsberatung ein. Seine zahlreichen Publikationen wurden in 13 Sprachen übersetzt und machten ihn weit über die Schweiz hinaus bekannt.

Entstehungshintergrund

Die in „Umgang mit dem kindlichen Gewissen“ zusammengeführten Beiträge stützen sich auf Gastvorlesungen, die Zulliger 1952 u.a. an der Universität Heidelberg gehalten hat und 1953 (Erstauflage) unter besagtem Titel zusammengeführt wurden.

Aufbau und Inhalt

Das vorliegende Buch umfasst 162 Seiten im Taschenbuchformat. Es gliedert sich in acht Kapitel, denen eine Einführung, ein Vorwort zur ersten und dritten Auflage vorausgestellt sowie eine Zusammenfassung und ein Editionsbericht nachgestellt sind.

Im ersten Kapitel („Erster Überblick über die Probleme der Gewissensanlage und -bildung“) nähert sich Zulliger seinem Gegenstand, indem er Fragen aufwirft: Entfaltet sich das Gewissen oder ist es uns als Anlage/Keim mitgegeben? Inwiefern spielen Erziehung und die sozialen Umstände eines Kindes hierbei eine Rolle? Wie tragen Identifikationsprozesse zur Gewissensbildung bei und wie wirken unbewusste Anteile des Gewissens?

Das zweite Kapitel („Erziehungsfaktoren bei der Gewissensbildung“) setzt sich mit den Anfängen bzw. dem Prozess der Gewissensbildung auseinander. So fußt Zulliger zufolge das primitive Gewissen auf Strafangst und dem Wunsch nach Liebesgewinn. Das weiter entwickelte Gewissen beschreibt er als innere Stimme mit dem „Ton einer überpersönlichen Macht“ (S. 46), als ein Gefühl für das, was Recht und Unrecht ist. Wird diesem inneren Kompass zuwidergehandelt, drohen Gewissenskonflikte, sanktionieren Schuld- und Schamgefühle das Individuum. Eingeführt werden hier weiterhin die Problematik eines überstrengen Gewissens sowie eines Gewissens „mit allzu weiten Maschen“ (S. 50).

„Liebe, Identifikation und Ödipuskomplex – und ihr Beitrag zur Gewissensbildung“ (Kapitel drei) beleuchtet die Gewissensangst als eine soziale Angst; genauer als Angst vor Isolierung und Ausschluss. Zugleich zeigt Zulliger an Fallvignetten auf, dass und wie die gelingende Verinnerlichung moralischer Forderungen ein liebevoll zugewandtes Gegenüber voraussetzt, an das sich Kinder und Heranwachsende positiv binden können.

In Kapitel vier („Anzeichen eines unbewussten Moralischen im Menschen: der Geständniszwang“) führt Zulliger den im psychoanalytischen Bezugsrahmen gebräuchlichen Begriff des „Über-Ich“ als eine teils bewusste, teilweise unbewusste seelische Instanz ein, die all die höheren Ansprüche (Werte, Normen, Ideale) enthält, die wir an uns selbst stellen. So wie das Über-Ich eine teilweise unbewusste Instanz ist, so ist auch ein Teil des Gewissens unbewusst, dessen Wirken ihm zufolge sich besonders deutlich am Geständniszwang und dem Strafbedürfnis zeigt. Das fünfte Kapitel („Die Selbstbestrafungstendenz“) vertieft diese Thematik. Zulliger zufolge ergibt sich diese aus dem Umstand, dass sich – ein intaktes Gewissen vorausgesetzt – bei der Übertretung eines Gebots von der Gemeinschaft (der Guten) isoliert bzw. abgetrennt gefühlt werde. Um dieses schmerzhafte Gefühl zu tilgen, empfinde der/die schuldig Gewordene eine innere Nötigung zum Geständnis und nehme somit die zu erwartende Strafe auf sich, um sich zu entlasten und wieder als Teil der Gemeinschaft zu erleben. 

Kapitel sechs („Die ‚Banden‘-Bildung als Gewissensreaktion“) zeigt eine besondere Form der Gewissensreaktion bzw. Gewissensbesänftigung: die Bandenbildung. Charakteristisch hierfür sei die Leitung durch einen faszinierenden Führer auf den die Geführten ihr Ich-Ideal projizieren. Besagte Person werde so zum Maßstab der Dinge, das eigene Urteil trete in den Hintergrund. Entlastet werde das Gewissen auch insofern, als sich eine Gemeinschaft Gleichschuldiger geschaffen werde: „eine kollektive Schuld ist beinahe keine Schuld mehr“ (S. 114). Dem Gewissen werde so vorgetäuscht, der „Fehlbare“ habe sich durch seine Delikte nicht isoliert.

In Kapitel sieben („Pseudodebilität als fehlgeleitete Gewissensreaktion“) wird eine weitere Fehlreaktion des Gewissens dargelegt. Herausgearbeitet werden hier am Beispiel der Fallvignette „Nora“ die möglichen Folgen eines überstrengen Über-Ichs: Affekte, die für das Über-Ich nicht akzeptabel sind, werden verdrängt, wirken jedoch im Unbewussten weiter. Neugier und Interesse werden zurückgenommen, um Gewissensängste zu vermeiden; kleinste mögliche Verfehlungen mit beißenden Schuldgefühlen und Selbstbestrafungstendenzen sanktioniert. 

Kapitel acht („Charakterveränderungen als Folge fehlgeleiteter Gewissensreaktion“) schließlich beschreibt, wie sich ein ursprünglich „guter Charakter“ infolge unbewusster Gewissensreaktionen in sein Gegenteil verwandeln kann.

Diskussion

Zulliger wendete sich mit seinen Vorträgen und Texten an ein breites Publikum. Er wollte Menschen erreichen, die in ganz unterschiedlichen beruflichen Kontexten mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben (ErzieherInnen, ÄrztInnen, Strafvollzugsbeamte, Geistliche, TherapeutInnen u.a.m.), aber auch Eltern, Kinder und Jugendliche ansprechen. Möglicherweise speist sich auch aus diesem Grund sein methodisches Vorgehen: Zulliger geht von (Fall-)Beispielen aus dem Alltag aus, die er nachzeichnet, um dann daraus nachvollziehbar seine entwicklungspsychologischen Überlegungen und Befunde abzuleiten.

Warum aber sollte man ein Buch lesen, das zwischen 1952 und 1953 geschrieben wurde? Ein Buch, dessen entwicklungspsychologischen Ansätze und Befunde ausgehend von Beispielen entwickelt wurden, die sich auf Lebenswelten der ländlichen Schweiz beziehen, die es so gar nicht mehr gibt? Lesenswert machen Zulligers Texte zunächst seine oben skizzierte Vorgehensweise: Die Leserin/der Leser kann ihm bei der Reflexion der Fallbeispiele gewissermaßen über die Schulter gucken. Zulliger mentalisiert, macht sich Gedanken darüber, welche seelischen Vorgänge möglicherweise hinter bestimmten Verhaltensweisen stehen, die die Kinder und Jugendlichen zeigen. Er wirft eben nicht einfach ein Netz metapsychologischer Konstruktionen über seinen Gegenstand, sondern entwickelt seine entwicklungspsychologischen Erkenntnisse nachvollziehbar am Material. Es gelingt ihm auf diese Weise, ein vertieftes Verständnis für psychische Prozesse und kindliche Problemlagen zu eröffnen, die nicht auf der Hand liegen, sondern eben erschlossen werden müssen. Die Leserin/der Leser wird dadurch in das tiefenpsychologische Denken eingeführt und erwirbt ein Verständnis für dynamische Prozesse im Unbewussten. Die Fallbeispiele sowie Zulligers mitunter überraschende und originelle Interpretationen regen an, seine Erkenntnisse anhand von Beispielen zu befragen, die der eigenen beruflichen Praxis oder auch dem Privatleben (Erziehungsaufgaben) entstammen.

Zulliger geht es darum, das zu erschließen, was in der Traumapädagogik, „das Prinzip des guten Grundes“ genannt wird:

„Es genügt nicht, dass wir, wenn wir Kinder verstehen wollen, einzelne isolierte psychologische Daten an ihnen feststellen. (…) Wir müssen den dynamischen Ablauf erkennen können. Dynamische Psychologie ist nötig, nicht statistische, wenn wir Kinder verstehen wollen. Entwicklungspsychologie ist dynamische Psychologie.“ (Einführung in die Kinderseelenkunde: Nachgelassene Vorlesungen, Bern: Huber 1967)

Fazit

Ein empfehlenswertes Buch für all diejenigen, die mehr über die seelische Instanz wissen wollen, die wir Gewissen nennen, und ein tieferes Verständnis für die Prozesse suchen, die mit der Gewissensbildung, mit Gewissenskonflikten und Fehlentwicklungen des Gewissens verbunden sind.

Rezension von
Prof. Dr. Ariane Schorn
Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Psychosoziale Beratung und Supervision, Psychoanalyse in der Sozialen Arbeit, Angewandte Entwicklungspsychologie, Qualitative Sozialforschung
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Es gibt 1 Rezension von Ariane Schorn.

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ISSN 2190-9245