Agathe Israel, Cecilia Enriquez de Salamanca (Hrsg.): Vom phantasmatischen Kind zum realen Baby
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 28.12.2023
Agathe Israel, Cecilia Enriquez de Salamanca (Hrsg.): Vom phantasmatischen Kind zum realen Baby. Pränatale Erfahrungen, Geburt und postnatales Erleben.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
100 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3273-7.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Jahrbuch für teilnehmende Säuglings- und Kleinkindbeobachtung.
Thema
Schwangerschaft und Geburt werden medizinisch, ethisch, gesellschaftlich und rechtspolitisch unter ganz unterschiedlichen Aspekten erörtert. Das Buch befasst sich schwerpunktmäßig mit zwei Spezialfragen. Es geht um die Reaktionen und Empfindungen, zu denen ein Fetus schon vor der Geburt in der Lage ist, sowie um die menschlich sensible Betreuung und Begleitung von Säuglingen, die aufgrund einer Frühgeburt unter schweren gesundheitlichen Lasten leiden und intensivmedizinisch versorgt werden müssen.
Autor
Die Beiträge des Buches sind von Autor*innen verfasst, die fachärztlich in der Psychotherapeutischen Medizin und in der Kinder- und Jugendpsychotherapie tätig sind.
Entstehungshintergrund
Bei dem Band handelt es sich um das Jahrbuch für teilnehmende Säuglings- und Kleinkindbeobachtung für das Jahr 2023.
Aufbau
Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich mit pränataler Psychologie und mit dem Einschnitt, den der Vorgang der Geburt für das Kind und für die Mutter mit sich bringt. Sodann werden Erfahrungen und Einsichten wiedergegeben, die aus der Beobachtung frühgeborener Kinder resultieren.
Inhalt
Einleitend unterstreichen die Herausgeberinnen Agathe Israel und Cecilia Enriquez de Salamanca, dass die Geburt für das Kind und die Frau eine tiefgreifende Trennungserfahrung bedeute. Vor seiner Geburt werde ein Kind von seinen Eltern möglicherweise idealisiert und zum Gegenstand ihrer Fantasien, sodass es zu einem „phantasmatischen“ oder „imaginierten Kind“ werde (S. 15). Die Geburt bringe mit sich, dass sie sich nun mit seiner realen Existenz auseinandersetzen müssten.
Grundlegende Gesichtspunkte zur pränatalen Psychologie fasst der Aufsatz zusammen, den der Psychotherapeut Ludwig Janus unter die Überschrift „Das Kind vor der Geburt und sein Weltenwechsel zum Kind nach der Geburt“ gestellt hat. Er erinnert daran, dass sich die pränatale Psychologie geistesgeschichtlich den Impulsen verdankt, die der Sigmund Freud nahestehende Psychoanalytiker Otto Rank und der Psychologe Gustav Hans Graber mit ihren 1924 erschienenen Schriften „Das Trauma der Geburt“ und „Die Ambivalenz des Kindes“ gesetzt haben. Seit den 1970er Jahren habe sich verstärktes akademisches Interesse an pränataler Psychologie ausgebildet. Als zentrale Einsicht hebt Janus hervor: „Die Zeit vor der Geburt […] hat Einfluss darauf, ob wir uns in der Welt zu Hause oder allein und verlassen fühlen. […] Ein vor der Geburt abgelehntes oder auch vital bedrohtes Kind ist eben für entsprechende Erfahrungen und Auslöser sensibilisiert und hat umgekehrt keine ausreichenden Antennen für Möglichkeiten von Vertrauen und Zuwendung“ (S. 27). Daher sei es geboten, Schwangerschaft und Geburt „beziehungsorientiert“ zu verstehen (S. 28). Breiter ausgreifend weist der Aufsatz zudem darauf hin, dass das Thema „Geburt“ quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte eine große Rolle gespielt habe. Außerdem zieht er Vergleiche zwischen dem krisenhaften Einschnitt, den die Geburt im Leben des einzelnen Menschen ausmache, einerseits und geschichtlichen sowie gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen andererseits. Als Beispiele für geschichtliche Transformationsprozesse, die analog zur Dramatik der Geburt interpretiert werden könnten, nennt er die Entstehung einer religiös befriedeten Gesellschaftsordnung nach dem Dreißigjährigen Krieg oder das Zustandekommen einer demokratischen Mentalität in der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Kaiserreichs im Jahr 1918 (S. 32).
Der nachfolgende Aufsatz, verfasst von Antje Netzer-Stein, steht unter der Überschrift „Vom Präkonzept zur Realisierung – Geburt als Caesura“. Der Beitrag spricht an, dass Föten im Mutterleib unterschiedliches Verhalten zeigen und dass sich somatische oder psychische Befindlichkeiten der Mutter auf den Fötus übertragen. Die Geburt sei für das Kind sowie für die Mutter ein tiefer Einschnitt, „sowohl ein Ende wie auch ein Neuanfang“, und könne „katastrophale Ängste“ auslösen (S. 45).
Anschließend wird über Erfahrungen berichtet, die der Frühgeborenenbeobachtung entstammen. Psychologisch geschulte Personen beobachten auf methodisch reflektierter Basis Säuglinge, um vertiefte Einsichten über das Verhalten, die Beziehung und die Entwicklung neugeborener Kinder zu gewinnen. Die hier abgedruckten Beiträge konzentrieren sich auf die Beobachtung von Kindern, die auf intensivmedizinische Versorgung angewiesen sind, weil sie vorzeitig geboren worden sind. Eine solche Frühgeborenenbeobachtung erfolgt auf der Intensivstation und endet mit der Entlassung des Kindes (S. 56). Vor allem bei extremer Frühgeburtlichkeit ist es ungewiss, ob das Kind überhaupt am Leben erhalten werden kann. Sofern Frühgeborene überleben, muss damit gerechnet werden, dass sie später unter gesundheitlichen Einschränkungen und Belastungen leiden werden (S. 82), wobei es – wie zu ergänzen ist – medizinisch oft nicht möglich ist, das Ausmaß der künftigen Belastungen des Kindes im Einzelfall genau zu prognostizieren [1]. Das Erkenntnisinteresse der Frühgeborenenbeobachtung wird von Agathe Israel wie folgt umschrieben: „Wir erhalten einen Einblick in die früheste psychische Entwicklung, in einer Lebensphase, in der das unreife unvollendete Frühgeborene mit dem extrem raschen Wechsel seiner Befindlichkeit zwischen Überleben und Sterben kämpft, weil es seine beschützende Mutterwelt zu früh verloren hat“ (S. 57).
Hierzu enthält das Buch zwei Dokumentationen. Der erste Bericht, verfasst von Cecilia Enriquez de Salamanca, bezieht sich auf ein in der 32. Schwangerschaftswoche geborenes Kind (S. 59–72), der zweite Bericht auf vier extrem frühgeborene Säuglinge, unter ihnen ein Kind, das schon in der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt kam (S. 73–109). Im zweiten Fall fand die Frühgeborenenbeobachtung eine Woche lang in der Universitätsklinik von Turku/​Finnland statt. Die Autorin des Beitrags Agathe Israel begründet ihr Interesse an der finnischen Klinik damit, dass im Vergleich mit anderen Ländern die Frühgeborenenversorgung in Finnland medizinisch und pflegerisch besonders gut qualifiziert sei. Abgesehen vom hohen Standard der intensivmedizinischen Betreuung lege man dort großen Wert auf die Dimension menschlicher Beziehung. Ungeachtet der hochtechnisierten Rahmenbedingungen der Intensivstation, der Sondenernährung des Kindes und der den Säugling stark belastenden medizinischen Untersuchungen oder Operationen solle die Mutter zu dem Kind eine persönliche Beziehung und, soweit möglich, Körperkontakt aufbauen können. Dies sei wichtig, weil schon frühgeborene Kinder „aktiv den Anderen suchen, mit dem Blick oder kleinen Gesten einen Dialog beginnen“ (S. 101). In Turku seien die architektonischen Gegebenheiten, die Arbeitsabläufe und das Betreuungs- und Pflegekonzept zielgerichtet darauf zugeschnitten, eine persönliche Eltern-Kind-Beziehung zu ermöglichen, um hierdurch die seelische Stabilität des Kindes zu stärken (S. 83).
Diskussion
Der erste Teil des Buches konzentriert sich auf die pränatale Psychologie. Der von L. Janus verfasste Aufsatz eröffnet dabei einen sehr weiten Themenhorizont, indem er – wie oben wiedergegeben – aus der pränatalen Psychologie generelle Schlussfolgerungen für geschichtliche Abläufe und für die Gesellschaftsdeutung abzuleiten versucht. Er konstruiert Analogien zwischen Schwangerschaft und Geburt einerseits, der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft als Ganzer andererseits, um dann zu beklagen, solche „kulturpsychologischen“ oder „psychohistorischen“ Gedankengänge der Pränatalpsychologie seien „in der Gesellschaft und in der Politik“ noch zu unbekannt und würden „nicht genutzt“ (S. 31). Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, wenn der Autor den Erkenntnisgewinn, der sich seines Erachtens aus der Pränatalpsychologie für die Gesellschaftsdeutung und -gestaltung als Ganze ziehen lassen soll, präziser und sachlich besser nachvollziehbar zur Sprache gebracht hätte.
Im Kern geht es der pränatalen Psychologie indessen nicht um derartige Geschichts- und Gesellschaftsdeutungen, die offenkundig spekulativ bleiben, sondern um einzelne Menschen. Sie möchte aufzeigen, wie sich vorgeburtliche Erfahrungen und vorgeburtliches Erleben auf das Lebensgefühl und auf das Werden von Menschen nach ihrer Geburt auswirken. Diesen individualpsychologischen Gesichtspunkt betont auch L. Janus (S. 25 ff.). Dabei erwähnt er in einer Seitenbemerkung, dass inzwischen auch die Neurobiologie erhellende Einsichten zum vorgeburtlichen Werden beisteuert (S. 27). Dies ist aus Sicht des Rezensenten ein überaus wichtiger Punkt. Die Überzeugungskraft pränatalpsychologischer Argumentationen ließe sich erhöhen, wenn sie an den heutigen neurologischen Erkenntnisstand über die vorgeburtliche Entwicklung von Gehirnfunktionen, z.B. über die pränatale Ausbildung von Schmerzbewusstsein, gezielt und differenziert anknüpfen würden.
Ferner wäre es aus Sicht des Rezensenten inhaltlich interessant, wenn sich die pränatale Psychologie eingehender mit bestimmten medizinethischen Problemstellungen beschäftigen würde, die soziokulturell und medizinisch in der Gegenwart zur Diskussion anstehen. Konkret ist z.B. an die Leihmutterschaft zu denken, also an den Sachverhalt, dass eine Frau ihren Uterus neun Monate lang zur Verfügung stellt, um ein Kind auszutragen, das sie dann an die Bestelleltern abgibt [2]. Zumindest hierzu liegt eine entwicklungspsychologische Untersuchung vor, die der Frage nachgeht, ob das Heranwachsen des Fetus im Uterus einer fremden Frau für sein nachgeburtliches Wohl abträglich sein könne. Die Studie gelangt zu dem Ergebnis, Leihmutterschaften unter dem Aspekt der Entwicklungspsychologie des Fetus für prinzipiell akzeptabel zu halten [3]. Seit 2014 werden darüber hinaus Uterustransplantationen durchgeführt. In diesem Fall trägt eine Frau, der eine eigene Gebärmutter fehlt, ein genetisch eigenes Kind in einem Uterus aus, der ihr von einer Dritten gespendet und ihr selbst implantiert worden ist [4]. Zwischen dem Körper der austragenden Frau und dem ihr eingepflanzten Uterus, in dem der Fetus heranwachsen soll, fehlen Beckennervenverbindungen. Weitere gravierende Besonderheiten kommen hinzu. Wie ist eine solche Fallkonstellation, d.h. das Aufwachsen eines Kindes in einem transplantierten Uterus, hinsichtlich seines Wohlergehens vor und nach seiner Geburt zu beurteilen? Soweit ersichtlich hat die pränatale Psychologie hierzu bislang noch nicht Stellung genommen. Für die medizinethische und -rechtliche Debatte wäre es nützlich, wenn sie sich in Zukunft vermehrt auch mit solchen Themen befassen würde.
Ebenso bedeutsam ist das zweite Thema des Buches, die Frühgeborenenbeobachtung. Frühgeborene Kinder sind eine besonders vulnerable Patientengruppe. Häufig ist unsicher, ob sie überhaupt überleben werden. Die in dem Buch abgedruckten Fallschilderungen zeigen, dass Frühgeborene neben den intensivmedizinischen Maßnahmen, die für ihr Überleben unerlässlich sind, auf mitmenschliche Zuwendung angewiesen sind. Letztlich berührt die Säuglingsbeobachtung Grundsatzfragen der Anthropologie. Philosophisch und ethisch war der hohe Stellenwert, den die Interpersonalität, die mitmenschliche Begegnung für die menschliche Existenz besitzt, im Jahr 1923 durch die von Martin Buber verfasste Schrift „Ich und Du“ ins Licht gerückt worden. Bubers grundlegende Einsicht, dass das Ich-Werden bzw. die Ich-Bildung jedes Menschen auf das Gegenüber des begegnenden Mitmenschen angewiesen ist, hat seit den 1920er Jahren vielfache Resonanz gefunden – auch in der Pädagogik, der Psychologie und der Medizinethik [5]. Aktuell veranschaulichen die Säuglingsbeobachtung und speziell die Frühgeborenenbeobachtung, in welch hohem Maß schon der neugeborene Mensch vom konkret begegnenden Mitmenschen abhängig ist, um zu einem „Ich“ werden zu können. Was konkrete Schlussfolgerungen anbelangt, lenkt der vorliegende Band – im Einklang mit anderen Stimmen [6]- zu Recht das Augenmerk darauf, dass in der Neonatologie zusätzlich zu der sehr anspruchsvollen intensivmedizinischen Versorgung auf die Qualität der Beratung und Begleitung der Eltern und im Übrigen auch auf eine beziehungsfreundliche architektonische Klinikgestaltung zu achten ist.
Fazit
Das Buch behandelt ausgewählte Fragen des Umgangs mit vorgeburtlichem Leben und mit Neugeborenen. Es bekräftigt zwei wichtige Einsichten. 1. Schon vor der Geburt, während der Schwangerschaft, werden für die Entwicklung eines Kindes nach seiner Geburt entscheidende Weichen gestellt. 2. Sofern ein Kind vorzeitig geboren wird und es für seine Lebenserhaltung auf intensivmedizinische Versorgung angewiesen ist, sollte neben der hochaufwändigen medizinisch-technischen Betreuung eine beziehungsorientierte Pflege und Begleitung gewährleistet werden.
[1] Vgl. Christoph Bührer u.a., Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024/019, 4. Aufl. 2020, S. 8 f., online https://gnpi.de/wp-content/​uploads/2020/07/024-019l_S2k_Fruehgeburt_Grenze_Lebensfaehigkeit_2020-06.pdf (Abruf 4.12.2023).
[2] Informationen zu diesem Thema: vgl. Hartmut Kreß, Leihmutterschaft, 23.6.2022, online https://www.socialnet.de/lexikon/​Leihmutterschaft (Abruf 4.12.2023).
[3] Vgl. Axel Schölmerich, Entwicklungspsychologische Aspekte der Leihmutterschaft, in: Edward Schramm/​Michael Wermke (Hg.), Leihmutterschaft und Familie, Berlin 2018, S. 209–219.
[4] Vgl. Hartmut Kreß, Leihmutterschaft, 23.6.2022, Abschnitt 8.4.: „Zum Vergleich: Uterustransplantationen“, online https://www.socialnet.de/lexikon/​Leihmutterschaft#toc_8_4 (Abruf 4.12.2023).
[5] Vgl. z.B. Heinz-Horst Schrey, Dialogisches Denken, Darmstadt 1970.
[6] Vgl. z.B. Lars Garten, Kerstin von der Hude (Hg.), Palliativversorgung und Trauerbegleitung in der Neonatologie, Berlin 2. Aufl. 2019.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Hartmut Kreß. Rezension vom 28.12.2023 zu:
Agathe Israel, Cecilia Enriquez de Salamanca (Hrsg.): Vom phantasmatischen Kind zum realen Baby. Pränatale Erfahrungen, Geburt und postnatales Erleben. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3273-7.
Reihe: Jahrbuch für teilnehmende Säuglings- und Kleinkindbeobachtung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31139.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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