Wolfgang Mertens, Timo Storck et al. (Hrsg.): Psychoanalytische Kompetenz
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 26.11.2024
Wolfgang Mertens, Timo Storck, Herbert Will, Johannes Ehrenthal, Antje Gumz et al. et al. et al. et a (Hrsg.): Psychoanalytische Kompetenz.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
140 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3275-1.
D: 22,90 EUR,
A: 23,60 EUR.
Reihe: Interdisziplinäres Psychoanalytisches Forum.
Thema und Autoren
Die klassische Psychoanalyse muss trotz Kassenzulasssung und Psychotherapeutengesetz immer wieder um ihre berufspolitische Anerkennung ringen: Gegenüber der Medikamenten-gestützten somatischen Psychiatrie, gegen konkurrierende Psycho-Therapien, insbesondere Verhaltens- und System-therapeutische Ansätze, sowie intern gegen das ausufernde Bündel Schulen-bedingter Abkömmlinge. Ein Effizienz-Nachweis, den man ‚wissenschaftlich‘ üblicherweise durch kontrollierte Erfolgs-Vergleiche zu führen versucht, wie dies nach dem Zweiten Weltkrieg 1965 Annemarie Dührssen, und E. Jorswieck und in unserer Zeit 2011 Jonathan Shedler unternahmen. Doch haben solche Kontroll-Untersuchungen ihre grundsätzlichen Probleme: Vergleichbare Fälle, kontrollierter Zeitablauf, Mess-Variablen und anzustrebende Erfolgsziele.
Es lag deshalb nahe, auf die aktuelle Kompetenz-Diskussion zurückzugreifen, zumal Krankenkassen und vor allem Auszubildende – etwa im Rahmen der neuartigen universitären Therapeutenausbildung (PsychThGAusbRefG und Muster-Weiterbildungsordnung MWBO von 2021) – zu Recht immer wieder fragen, was denn eigentlich den wahrhaften Psychoanalytiker ausmache, worin seine spezifische ‚Kompetenz‘ bestehe.
In ihrer neuen Reihe Interdisziplinäres Psychoanalytisches Forum, Band 1, lassen die beiden Herausgeber Wolfgang Mertens und Timo Storck nach einer Einführung zunächst in einem Hauptartikel das Kompetenz-Modell von Herbert Will, emeritierter Lehranalytiker und ehemaliger Mitherausgeber der Psyche, zu Wort kommen, das dann von 6 ausgewiesenen Expert*innen kommentiert, von Will repliziert und von den beiden Herausgebern in einer sehr kurzen Synopse zusammengefasst wird.
Aufbau und Inhalt
In seinem Hauptartikel ‚Haltung und Kompetenzen. Das kompetente Subjekt in der Psychoanalyse‘ versammelt Will, ähnlich wie zuvor Tuckett oder, zeitgleich, Israelstam, 10 in seinem MMPK erfasste Einzel-Kompetenzen, die er ‚bottom-up‘, induktiv auf der Basis von „30 schriftlichen Stellungnahmen fachlich anerkannter und erfahrener Supervisor*innen“ gewinnen konnte. Sie reichen etwa von der „Fähigkeit mit der Gegenübertragung zu arbeiten“ bis hin zur „Fähigkeit, in förderlicher Weise zu deuten“; sie seien ihrerseits in einem komplexen ‚Kompetenz-Netzwerk‘ miteinander verbunden: „Die Knoten dieses Netzwerks sind miteinander verknüpft und können nur um den Preis der methodischen Reduktion isoliert betrachtet werden.“ (S. 25). Hiervon unterscheidet er eine – auch literarisch begründete – der Psychoanalyse eigene ‚Psychoanalytische Haltung‘ als ‚übergreifende Metakompetenz‘, „darauf ausgerichtet, in der analytischen Begegnung den Zugang zum Unbewussten ohne Vorannahmen oder Zielsetzungen zu ermöglichen.“ Sie würde „Rezeptivität, Nichtstun und eine ungerichtete Offenheit umfassen, die jedoch psychoanalytisch gerahmt sein müssen […] bis hin zur Anerkennung des unbekannten und deshalb ängstigenden Unbewussten.“ (S. 36). Unter explizitem Verzicht, auf die empirische Psychotherapieforschung (S. 19), warnt er davor „Überschneidungen mit anderen Psychotherapieverfahren oder eine verfahrensübergreifende Konzeptualisierung zu erreichen.“ (S. 27).
In den Kommentaren
- betont Jutta Kahl-Popp (VAKJP, ISCPP, SPR, DPVV) die Notwendigkeit der von Will angezielten Professionalisierung, doch möchte sie die Frage der Kompetenz nicht allein vom analysierenden Subjekt aus beantworten, sondern im Rahmen eines ‚kommunikativen‘ Ansatzes auch das analysierte Subjekt und – ggf. als drittes Subjekt – auch die Kandidaten in das psychoanalytische Ausbildungskonzept mit einbeziehen: „Kultivierte und zu entwickelnde psychoanalytische Könnerschaft besteht in dieser Sichtweise darin, sublime Mitteilungen (die eigenen und die der Interaktionspartner) wahrzunehmen, sie in eine manifeste Mitteilung zu übersetzen und als Feedback zur gemeinsamen Arbeit und für die eigene Entwicklung aufzunehmen.“ (S. 56).
- Rolf-Peter Warsitz, Kasseler Professor (em.) für soziale Therapie, Philosophie und Psychoanalyse, fragt kritisch nach der Überprüfbarkeit der Will’schen Metakompetenz, die eine „emanzipatorisch selbstreflexive Subjektivität voraus[setzt]. Diese ist nicht beobachtungswissenschaftlich operationalisierbar“ (S. 63); während die Schärfung der Einzelkompetenzen „den Anspruch aufgegeben [habe], auch zu einem Instrument der vergleichenden Kompetenzüberprüfung von Psychotherapeuten beizutragen.“ (S. 68).
- Johannes C. Ehrenthal, Jun.-Prof. für klinische Psychologie und empirisch quantitative Tiefenpsychologie, propagiert „aus der Position eines erfahrungsbasierten Lernens,“ unter Bezug auf entsprechende Modelle aus der Medizinaldidaktik, die Notwendigkeit übungsbasierter Lernkonzepte, die mithilfe von Rollenspielen ein unmittelbares emotionales und kognitives Involviertsein ermöglichen und als Teil einer kompetenzorientierten Lehre eingesetzt werden sollten.‘ (S. 72, 78).
- Antje Gumz, ‚Professorin für Psychosomatik und Psychotherapie, Psychoanalytikerin, tiefenpsychologisch fundierte und systemische Therapeutin, ausgebildet z.B. in Katathym-imaginativer Therapie, tiefenpsychologisch fundierter Psychodrama-, Analytische Körper-, Hypnose-, Gesprächspsychotherapie‘ (S. 99), unterstreicht – auf der Basis dieser breitgefächerten eigenen Ausbildung – „Bemühungen, eine verfahrensübergreifende oder integrative Psychotherapie zu entwerfen.“ (S. 83). Praxis-nah verweist sie auf die Rolle der Therapeuteneffekte und interpersoneller Kompetenzen. Sie konkretisiert die Will’schen Kompetenzen (S. 87) und betont die Bedeutung von Rollenspielen, Videoaufzeichnungen und Teilnahme an Supervisions-Sitzungen: „Genau das ist für mich ein Kernmerkmal psychodynamischer Kompetenz: anzuerkennen, dass wir als Therapeutinnen und Therapeuten stets unwillkürlich und zwangsläufig Teil eines für die jeweilige Dyade spezifischen Beziehungsmusters sind.“ (S. 96).
- Roland Reifenbach, Züricher Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft, kritisiert nicht nur den ‚heutigen (unterkomplex politisierten und behaglichen) Kompetenzdiskurs‘ (S. 109) aus der Sicht eines Bildungs-Theoretikers recht grundsätzlich, sondern weist zugleich darauf hin, dass sich zwar „Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Systemtheorie in mancher Hinsicht fundamental unterscheiden. Möglicherweise haben sie aber in Bezug auf ‚therapeutische Kompetenz‘ wiederum viele Gemeinsamkeiten.“ Die beiden von Will vorgestellten Kompetenzkataloge [Will und Israelstam] „könnten aus meiner Sicht mit wenigen Änderungen auch für andere Therapiekonzepte übernommen werden […]. Es könnte sich um Kompetenzen handeln, die nicht nur in der Psychoanalyse bedeutsam sind. Das ist sogar sehr wahrscheinlich.“ (106). Im Hinblick auf Will’s Metakompetenz unterstreicht er die darin doch auch eingeschlossene Urteilsbildung, die sich im Deuten niederschlage: „Beim Urteilen sind wir letztlich auf die Zustimmung von anderen angewiesen.“ (105).
- Eine Kritik, die Christoph Türcke, Prof. (em.) für Philosophie, ‚Erster Träger des Sigmund-Freud-Kulturpreises‘ (S. 123), noch grundsätzlicher fasst: „Umgangssprachliche Kompetenzskizzen sind unerlässliche Notbehelfe. Wahnhaft hingegen der Glaube, man könnte aus ihnen wissenschaftliche Präzisionsgebilde machen und den gesamten Bildungsbetrieb effizient auf sie umstellen.“ (S. 113). Dies gelte sowohl für die ‚tayloristische Zerlegung‘ in Einzelkompetenzen: „Die in ständiger Professionalisierung befindliche Zerlegungsmethode griff von der industriellen Produktion auf das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen über“ (S. 112). Wie auch für die Will’sche Metakompetenz: „Was sich als Kompetenz nicht einfügt, wird als Metakompetenz vereinnahmt.“ (S. 122). Selbst wenn die Psychoanalyse „die Kompetenzterminologie berufspolitisch wohldosiert zur Sicherung des eigenen klinischen Arbeitsbereichs einsetzt, sozusagen als Schutzimpfung gegen ihre Übermacht“ wäre sie auch dann „‘Identifizierung mit dem Angreifer‘, wenn sie im Modus Freud’scher Verneinung geschieht.“ (S. 122).
In seiner Replik geht Will – so die Herausgeber (S. 13) – „mit den Anregungen, Einwänden, kritischen Fragen umsichtig, gelassen und mit konzentrierter Achtsamkeit um und entwirft schlussendlich ‚Konturen einer psychoanalytischen Kompetenztheorie‘.“ In dieser betont er den Druck der ‚gegenwärtigen Umweltbedingungen‘,konsistente Kompetenzkataloge‘ zu erstellen, wobei er – insbesondere im Rahmen ‚konzeptueller und empirischer Forschung – einerseits das Moment der ‚anschließenden Urteilsbildung‘ à la Reichenbach und andererseits die ‚kommunikative Dimension‘ à la Kahl-Popp berücksichtigen will.
Diskussion
Den Herausgebern ist es gelungen, auf kleinem Raum das zurzeit in der psychoanalytischen Diskussion aktuelle Kompetenz-Thema überzeugend darzustellen. Deutlich werden berufspolitische und wissenschaftliche Aspekte, die Sicht universitär-‚elitärer‘ wie Praxis- und Forschungs-orientierter Teilnehmer, deren disziplinärer Hintergrund, Verbände-Orientierung und Ausbildungs-Erfahrungen; was eine eigene Professionalisierungs-(Kompetenz)-Studie naheläge.
Nimmt man die klinische Funktion der Psychoanalyse ernst – neben ihren erklärenden, bildenden und Selbsterkenntnis fördernden Funktionen – dann bestünden wohl ihre Einzel-Kompetenzen wie ihre Metakompetenz, ähnlich wie beim Hausarzt, Priester oder Trainer, zunächst darin, das ‚Problem‘ zu erkennen, ‚diagnostisch‘ einzuordnen und es dem Klienten so überzeugend zu deuten, dass man gemeinsam seinen Heilungsprozess sinnvoll darauf aufbauen kann; entsprechend dem – nicht abfällig zu interpretierenden – Placebo- bzw. (dort wie hier auch möglichenn) Nocebo-Modell. Eine Feed-back-Interaktions-Funktion, die im psychoanalytischen Konstrukt ‚kommunikativ‘-prozessual – also nicht: autoritativ-kompetent, neutral interpretierend ‘ (Bohleber 2013) – in der Übertragung-Gegenübertragung, Deutung und Widerstand ‚erlebt‘ und interpretiert wird. Psychismen, die unter anderen Namen, mehr oder weniger spezialisiert, fokussiert und professionalisiert für alle humanen Interaktionen – etwa im Sinne des ‚to take the role of the other‘ – in entsprechender Weise wirksam werden. Weswegen für deren Analyse und Erforschung der Rückgriff auf die speziell damit arbeitenden psychoanalytischen Kompetenzen mitsamt ihrer Metakompetenz besonders fruchtbar sein könnte.
Fazit
Der kleine Forum-Band diskutiert auf hohem theoretischen Niveau das aktuelle berufspolitische Thema einer psychoanalytischen Kompetenz, ohne bisher eine theoretisch eindeutige oder empirisch abgesicherte Lösung anbieten zu können.
Literatur
Bohleber, Werner (2013): Kultureller Wandel in der Psychoanalyse. Vortrag im Rahmen der 63. Lindauer Psychotherapiewochen 2013 (https://www.lptw.de/archiv/​vortrag/2013/bohleber-kultureller-wandel-in-der-psychoanalyse-lindauer-psychotherapiewochen2013.pdf)
Dührssen, A.; Jorswieck E. (1965): Eine empirisch-statistische Untersuchung zur Leistungsfähigkeit psychoanalytischer Behandlung. Nervenarzt 36: 166 - 169
Israelstam J. (2020): Das Schema interaktiver Kategorien zur Beurteilung der Kandidatenkompetenz: eine australische Erfahrung. Psyche – Z psychoanal, 74(29): 83–117
Shedler, Jonathan (2011): Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie. Psychotherapeut, Vol. 56: 265 - 277
Tuckett, D. (2005): Does anything go. Towards a framework for the more transparent assessment of psychoanalytic competence. Int. J. Psychoanal, 86(1): 31–49
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
Jurist und Kriminologe
Mailformular
Es gibt 79 Rezensionen von Stephan Quensel.
Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 26.11.2024 zu:
Wolfgang Mertens, Timo Storck, Herbert Will, Johannes Ehrenthal, Antje Gumz et al. et al. et al. et a (Hrsg.): Psychoanalytische Kompetenz. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3275-1.
Reihe: Interdisziplinäres Psychoanalytisches Forum.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31148.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.