Catherine Liu: Die Tugendpächter
Rezensiert von Peter Flick, 04.08.2023
Catherine Liu: Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2023. 128 Seiten. ISBN 978-3-86489-397-1. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Das Buch Catherine Lius ist eine polemische Auseinandersetzung mit der Ideologie einer Dienstleistungsklasse, die sie „Professional Managerial Class“ (kurz: „PMC“) nennt. Die Vorstellung dieser Klasse von Kreativität, sozialem Aufstieg und moralischen Tugenden, die auf den kleinbürgerlichen Lebensstil der Arbeiterklasse herabsieht, ist der Autorin ein Dorn im Auge. Das gilt insbesondere für die Wertorientierungen eines linksliberalen akademischen Milieus der USA. Statt den Prinzipien einer universellen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen, folgt sie zu sehr ihren eigenen Obsessionen für Fragen der kulturellen Identität, der „Identitätspolitik“ und der „Wokeness“.
Autorin und Entstehungshintergrund
Catherine Liu (*1964) lehrt als Professorin für Film- und Medienwissenschaft an der University of California, Irvine. In ihrem Buch verarbeitet sie ihre Enttäuschung über die vorsichtige Haltung eines linksliberalen Milieus, das im Wettbewerb um die Präsidentschaftskandidatur für die schwammigen Positionen Hillary Clintons und Barack Obamas optiert hat, statt die radikalreformerische Politik eines Bernie Sanders zu unterstützen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist eine lockere Folge von sarkastischen Betrachtungen zur moralischen Heuchelei einer liberalen Mittelschicht, die sich vorwiegend auf Beispiele aus dem akademischen Umfeld der USA stützt, in dem sie arbeitet.
Vorwort Ketch’up Germany
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe spricht Liu von ihren Eindrücken bei Deutschlandbesuchen. Sie registriert eine befremdliche Begeisterung der Deutschen für die US-amerikanische Wettbewerbskultur, die manchmal bizarre Züge eines Nachahmungsverhaltens annimmt, wenn sich z.B. deutsche Universitäten „als Boutique-Trainingsgelände für die Start-up-Kultur und/oder den Identitätspluralismus (…)“ (16) präsentierten.
Einführung
In der folgenden Einführung erläutert die Autorin ihre Hauptthese, dass die zeitgenössische akademische Mittelklasse der USA mit ihrem Aufstieg den Sinn für die Sprache der Gerechtigkeit und Solidarität verloren hat.
Sie beruft sich dabei auf zwei ältere, marxistisch inspirierte Texte, denen sie wesentliche Anregungen verdankt. Das ist einmal Siegfried Kracauers soziologischer Klassiker „Die Angestellten“ (1930), der die Physiognomie geschmeidiger Anpassung an kapitalistische Lebensformen am Beispiel der neuen Angestelltenkultur im Berlin der 20er Jahre thematisiert; das ist zum andern eine soziologische Abhandlung zur „Professional Managerial Class“ (kurz PMC) von Barbara und John Ehrenreich aus den 1970er Jahren, in der beide schon früh auf einen signifikanten politischen Mentalitätswandel der neuen Dienstleistungsschicht hinweisen. Hatten sich diese Klasse noch in den 1960er Jahren als Träger und Bündnispartner einer sozialliberalen Reformpolitik in den USA verstanden, ließ sie in den siebziger Jahren die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates wie eine „heiße Kartoffel“ fallen. Der elementare Verlust eines Solidaritätsbewusstseins setzt sich für die Autorin in der Ära Clintons und Obamas-fort.
Das folgende Abschnitte des Buchs beschäftigen sich mit verschiedenen ideologischen Aspekten eines liberalen PMC-Konsenses.
„Die »Überschreitung« der Grenzen der Professionalität“
Das Kapitel spielt auf die kulturalistische Wende in den Sozial- und Kulturwissenschaften an. In der Begeisterung für die konstruktivistische „Idee eines gleitenden Signifikanten“ (46) entdeckt Catherine Liu auffällige Affinitäten zwischen der poststrukturalistische Affirmation des „antinormativen Geistes der Grenzüberschreitung“ (49) und der schöpferischen Kreativität radikalliberaler Finanzmarktexperten, die es möglich machte, faule Kredite in angeblich soliden Anleihen zu „verstecken“. Liu kritisiert die Erosion bislang gültiger professioneller Maßstäbe und Standards im wissenschaftlichen Diskurs der Experten. Das macht sie an zwei Beispielen exemplarisch deutlich. Dem Physikers Alan Sokal konnte es gelingen, ein offensichtlich abstruses Essay über den Zusammenhang von Quantenphysik und der Entdeckung eines „neuen matriarchalischen Multiversums“ ohne Beanstandungen in einer angesehenen kulturwissenschaftlichen Zeitschriften der USA unterzubringen (38 ff.). Dann verweist sie auf ein vom „Pulitzer Center“ und dem „New York Times Magazine“ mit viel Getöse angeschobenes Forschungsprojekt, das sog. „1619 Project“ über die USA und die Sklaverei. In seiner „ersten Fassung“ wurde der Anspruch formuliert, die Geschichte der amerikanischen Revolution umzuschreiben, indem man zeigt, „dass die USA (..) nur gegründet wurden, um die Institution der Sklaverei zu verteidigen“ (51), was auch in Teilen der Fachwelt anfangs mit Beifall aufgenommen wurde.
„Die PMC hat Kinder“
Bei aller Freude an intellektuellen Grenzüberschreitungen, wenn es um die eigenen Kinder geht, hört für die linksliberale PMC der Sinn für Gemeinsamkeit auf: für die eigenen Kinder ist nur die beste Schule gut genug, was immer sie kosten mag. So wird die Diskrepanz zwischen Unterstützungsangeboten in der Mittelschicht und dem ärmsten Segment der Gesellschaft immer größer. Wo „22 Prozent der amerikanischen und 38.8 Prozent der afroamerikanischen Kinder“ (66) dauerhaft in Armut leben müssen, wird die Rede von „Familienwerten“ und vom „Reichtum“, den Kinder für die Gesellschaft darstellen, zur Farce.
„Die PMC liest ein Buch“
Liu ironisiert in diesem Kapitel Obamas mediale Inszenierung als empathischer Leser, der Reformen des öffentlichen Schulwesens unter den Slogans „No Child Left Behind“ und „Race To The Top“ durchgesetzt hat. Obamas Ambitionen stehen für sie im schreienden Kontrast zur Unterfinanzierung des US-amerikanischen Schulsystems, die sich auch unter seiner Administration fortgesetzt hat. Desgleichen die Praxis, die finanzielle Zuwendungen an Schulen vom Erfolg standardisierter Leistungstests abhängig zu mchen, was die Verantwortung für desolate Bildungsergebnisse auf die Lehrkräfte abwälzt.
„Die PMC hat Sex“
An prominenten Einzelfällen wird aufgezeigt, wo eine nach Ansicht Lius begrüßenswerte Sensibilisierung gegenüber sexuellen Übergriffen in eine puritanische „Sexualpanik“ umkippt. Sie vermutet, dass die Studierenden auch an den US-amerikanischen Universitäten angesichts steigenden Kosten für höherer Bildung und fallender „Bildungsrenditen“ heute eher von sozialen Ängsten als von Fragen der Sexualmoral umgetrieben werden.
Schlussteil
Hier appelliert die Autorin direkt an ihre Leser:innen der Professional Managerial Class (PMC). Sie sollen ihren Klassendünkel abstreifen und sich „dem Klassenkampf von unten“ (110) anschließen. Dazu müssten sie sich allerdings zur Erkenntnis durchringen, dass sie als lohnabhängig Beschäftigte in einem erweiterten Sinn auch zur „Arbeiterklasse“ gehören.
Diskussion
Die Botschaft Catherine Lius, sich „dem Klassenkampf von unten“ anzuschließen sollte, hört der deutsche Leser ihres Buchs mit Sympathie, allein es fehlt auch hier der „rechte Glaube“. Der deutsche Beamtenstatus wird sich wohl auch in Zukunft als zuverlässige Stütze einer PMC-Ideologie erweisen. Wie sonst ist es zu erklären, dass es an den deutschen Universitäten, im schulischen Bereich, aber auch in der außerschulischen Bildung mühelos gelungen ist, prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu etablieren, ohne dabei auf nennenswerten politischen Protest zu stoßen?
Um solche Zustände zu skandalisieren, müssten ja Linksliberale nicht gleich zu „sozialistischen Intellektuellen“ (112) konvertieren. Es würde schon genügen, wenn sich Liberale wieder an die eigenen Traditionen eines Sozialliberalismus erinnern, die von John Stuart Mill bis zu John Rawls reichen. Dann verstehen sie vielleicht auch, dass die Suche nach einer lohnenden Arbeit, die ein sinnvolles Leben in Würde und wirtschaftlicher Sicherheit ermöglicht, nicht auf die Schultern der Einzelnen abgewälzt werden kann.
Fazit
Das Buch Catherine Lius ist ein Appell an das linksliberale akademische Milieu, sich nicht weiter in verbissene Tugenddiskurse über „Wokeness“ und Identitätspolitik verwickeln zu lassen, sondern sich den relevanten sozialen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zuzuwenden.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 04.08.2023 zu:
Catherine Liu: Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät. Westend Verlag GmbH
(Neu-Isenburg) 2023.
ISBN 978-3-86489-397-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31154.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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