Helmwart Hierdeis (Hrsg.): Mechanismen der Unterwerfung
Rezensiert von Dr. Edwin Petek, 08.09.2023

Helmwart Hierdeis (Hrsg.): Mechanismen der Unterwerfung. Perspektiven auf den Autoritarismus.
Asanger Verlag
(Kröning) 2023.
192 Seiten.
ISBN 978-3-89334-662-2.
D: 19,00 EUR,
A: 19,60 EUR.
Interdisziplinäre Schriftenreihe - 44.
Thema
Der Band thematisiert Facetten des Autoritarismus, seine Wurzeln, Wirkungen und Mechanismen. An historischen Beispielen, z.B. bezüglich der NS-Zeit und einzelnen konkreten sozialen Handlungsfeldern, z.B. der Polizeiarbeit und der Wohnungslosenhilfe werden autoritaristische Strukturen diskutiert. Grundlegendere, u.a. psychoanalytische und aktualitätsbezogene Betrachtungen runden den Sammelband ab.
Herausgeber und Autoren
Herausgeber Helmwart Hierdeis, Prof. Dr. phil., ist Psychoanalytiker und Erziehungswissenschaftler. Als Erziehungswissenschaftler war er an den Universitäten Bamberg, Erlangen-Nürnberg, Innsbruck und Bozen-Brixen tätig. Neben der Einleitung findet sich im Band auch ein Beitrag zur „Anbetung der Unterwerfung“ vom Herausgeber.
Das Spektrum der professionellen Kompetenzen der Autoren reicht vom medizinisch-psychoanalytischen und psychologischen Bereich bis zu naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen oder philosophischen Hintergründen. Spezialkenntnisse, z.B. zu Informatik oder Ökonomie, und praktische Erfahrungen ergänzen im Einzelfall die Expertise der Autoren.
Folgende Autoren sind neben dem Herausgeber H. Hierdeis mit ihren Beiträgen beteiligt: Till Bastian (Dr. med., Arzt, Schriftsteller und Journalist), Andreas Beinsteiner (Dr. phil., Background Informatik, Philosophie, Medienwissenschaften), Josef Berghold (Priv.-Doz., Dr. phil., Sozialpsychologe), Kai Hauprich (Dr. phil., M.A. Sozialarbeit), Siegfried Kreibe (Dr. rer. nat., Diplomchemiker und examinierter Krankenpfleger, Vorsitzender der Interdisziplinären Studiengesellschaft), Marschel Schöne (Prof. Dr., Kriminologe, berufl. Erfahrungen im Polizeidienst), Wolfgang Schroeter (Dr. phil., Experte zu Albert Speer), Sören E. Schuster (Forschungsschwerpunkte Wirtschaftsphilosophie und Friedrich Nietzsche), Hans-Jürgen Wirth (Prof. Dr. habil., Psychologe, Psychotherapeut und Professor für Soziologie u.a.), Achim Würker (Dr. Dr., beruflicher Background Germanistik und Polit. Bildung, Fokus Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie u.a.).
Entstehungshintergrund
Der Band ist Jahresband der Interdisziplinären Studiengesellschaft (ISG) und präsentiert die Ergebnisse der Leipziger Jahrestagung 2022 der ISG unter dem gleichnamigen Titel.
Die aktuellen beobachtbaren Unterwerfungsbereitschaften und -prozesse in Politik, Gesellschaft und auf privater Ebene werden thematisiert und analysiert. Damit spannte die ISG zu ihrem 75. Jubiläum auch inhaltlich einen Bogen zu ihren Anfängen 1947. Nach der NS-Zeit wollte man das Engagement für Toleranz, Pluralität und Humanität stärken. Diese Zielsetzung ist heute wieder so wichtig wie damals.
Inhalt
Kapitel 1
In seiner Einführung zu „Mechanismen der Unterwerfung“ geht S. Kreibe auf die Gründungsmotive der ISG nach dem zweiten Weltkrieg und die beunruhigenden Bezüge zur heutigen gesellschaftlichen Situation ein. Unter Rückgriff auf politologische, psychologische und soziologische Theorien (u.a. von Th. W. Adorno und Erich Fromm) umreißt er die Begriffe Autoritarismus und autoritäre Persönlichkeit bzw. autoritärer Charakter. Die Spannung zwischen der Bereitschaft, sich zu unterwerfen und dem Streben, selbst Autorität zu sein, die in den Beiträgen des Bandes mehrfach zu finden sein wird, stellt S. Kreibe gleich zu Beginn als wesentlich für den Autoritarismus in seinen vielfältigen Formen vor. Als wichtige Faktoren für die mögliche Entwicklung autoritaristischer Herrschaft nennt er Diktatoren als Anführer, willige Gehilfen als Vollstrecker der Herrschaft, die Anhängerschaft als Fundament der Herrschaft und ein geeigneter politisch-sozialer Nährboden für den Autoritarismus. Am Beispiel Deutschlands illustriert er in knapper Form die gesellschaftliche Gemengelage, die förderlich für solche unguten Entwicklungen sein kann.
Kapitel 2
H. Hierdeis greift in seiner knappen, doch profunden Einleitung zur Thematik zu Beginn die sog. „Autoritarismus-Studien“ auf, die seit 2002 alle zwei Jahre publiziert werden. Die Kontinuität autoritaristischer Anfälligkeiten in Deutschland seit den ersten Studien der „Frankfurter Schule“ aus den 1930er und 1940er Jahren und die Aktualität des Forschungsansatzes angesichts der Entwicklungen von Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit wird deutlich. Knapp, gleichwohl differenziert umreißt H. Hierdeis die thematische Problematik zwischen der großen Bandbreite autoritärer Konstellationen in unserer Gesellschaft und legitimen vertikalen Beziehungsmustern in einem demokratischen System. Als einen zentralen Faktor nennt Hierdeis die Kontrollmöglichkeit der oberen Ebenen durch die unteren. Auch auf den evolutiven Aspekt eines Lebens in hierarchischen Ordnungen geht Hierdeis ein. Das Hinterfragen von Machtansprüchen mit Beginn der Aufklärung, ebenso wie die schon damals aufkommende Erkenntnis von der offenkundigen Wirkungslosigkeit aufklärerischer Bemühungen für eine individuelle Mündigkeit wird vom Autor in einem kurzen Bogen von Kant bis Georg Simmel skizziert. Im zweiten Teil seiner Einleitung stellt Hierdeis kurz die einzelnen Beiträge des Bandes vor.
Kapitel 3
Die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit stellt Helmwart Hierdeis ausführlich in seinem Text über die „Anbetung der Unterwerfung“ vor. Unterwerfungsszenarien werden beispielhaft vorgebracht, auf soziologische und historische Untersuchungen zu gewaltsamen Zivilisationsprozessen wird verwiesen. Ähnlich anschaulich greift Hierdeis Befreiungsprozesse in ihrer Begrifflichkeit und als Realität auf. Eine wesentliche Rolle wird dabei seit der Neuzeit der Wissenschaft zugeschrieben. Hierdeis stellt die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vor, die die negativen Folgen einer aufklärerischen Selbstzufriedenheit begrifflich anspruchsvoll dargelegt haben. Ergänzend greift der Autor u.a. Sigmund Freud mit seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur“ und die “Traumdeutung“ auf. Das Dilemma zwischen Freiheit und Unfreiheit bleibt in jedem Fall bestehen. Die Menschen müssen lernen, damit umzugehen, so Hierdeis. Anhand einiger Bibelstellen, kirchlicher, politischer und der Literatur entnommener Unterwerfungsszenen geht Hierdeis nochmals dezidierter auf dieses Spannungsverhältnis und die Möglichkeiten ein, es in positiver Weise aufzulösen.
Kapitel 4
Hans-Jürgen Wirth stellt den Narzissmus-Begriff von seiner psychoanalytischen Einführung bis zur gegenwärtigen sozialpsychologischen Verwendung vor. Er erläutert den Zusammenhang von Macht und Narzissmus, beides als ambivalente Begriffe. Wirth verweist darauf, dass Narzissmus mit Egoismus assoziiert wird. Hörigkeit oder Unterwerfung seien aber eindeutig negativ bewertet. In einer individualistischen Kultur liegen aber Omnipotenzfantasien recht nahe, so Wirth. Der Autor skizziert moderne psychoanalytische Konzepte mit ihrem etwas anderen Narzissmus-Begriff. Bei der „relationalen Psychoanalyse“ etwa wird man Narzissmus eher allgemein als „das Selbst betreffend“ definieren. Ähnlich ausführlich zeichnet der Autor Macht aus sozialpsychologischer Perspektive. Demnach ist Macht nicht nur durch unerwünschte Auswirkungen bestimmt, sondern sie ist auch elementarer Bestandteil menschlichen Zusammenlebens. Es gibt natürlich auch Machtmissbrauch und eine humanitär bedenkliche Gehorsamsbereitschaft, auf die Wirth näher eingeht. Der Autor schließt seinen Text ab mit Ausführungen zur Abhängigkeit eines narzisstischen Mächtigen von der Bewunderung der Gruppe.
Kapitel 5
Till Bastian beschäftigt sich in seinem Beitrag in eindringlicher Weise mit der ausgeprägten Brutalität und dem strikten Unterwerfungswillen des Nationalsozialismus. Mit Blick auf den nationalsozialistischen Massenmord identifiziert er einen ausgeprägten Vernichtungswunsch als zentrales Merkmal der NS-Diktatur, dem hauptsächlich, aber nicht nur Juden zum Opfer fielen. Bastian breitet in Kürze, aber drastisch und prägnant die ganze Bandbreite der perversen Vernichtungsbereitschaft aus, die die NS-Herrschaft kennzeichnete. Auch die eigene Bevölkerung war betroffen, zum Beispiel die eigenen Soldaten. Gründe für das breite und unleugbare Einverständnis eines großen Teils der damaligen Bevölkerung mit der NS-Herrschaft, für uns Heutige vielfach nicht nachvollziehbar, sieht Bastian in der „religiösen“ Dimension der nationalsozialistischen Weltanschauung. Mit der – geforderten – Bereitschaft, sich bedingungslos zu unterwerfen, war ein „Heilsversprechen“ verbunden und bei dem Bemühen um die „Endlösung“ mussten entsprechende „Opfer“ gebracht werden. Der Autor veranschaulicht seine These mit kurzen Eindrücken und Zitaten aus der NS-Zeit.
Kapitel 6
Am Beispiel Albert Speers stellt Wolfgang Schroeter ein Lehrstück für Karrierismus, Unterwerfung und spätere Mythologisierung eines „erfolgreichen“ Lebens unter dem Zeichen der NS-Ideologie vor. Albert Speer wird als Opportunist und erfolgreicher Mitspieler der NS-Diktatur gezeigt. Er war einflussreicher NS-Architekt und Rüstungsminister, gleichzeitig einer der reichsten Männer des „Dritten Reiches“. Nach dem verlorenen Krieg konnte er sich nicht ohne Erfolg als vergleichsweise „guter Nazi“ inszenieren, entging der Todesstrafe und betrieb nach seiner 20jährigen Haft über seine „Memoiren“ einträglich und medienwirksam Selbst-Mythologisierung.
Kapitel 7
Einen ganz anderen, nicht direkt leicht erkennbaren Bezug zur Autoritarismus-Thematik stellt Sören E. Schuster her. In seinem philosophiegeschichtlich-wirtschaftstheoretischen Textbeitrag beschäftigt er sich mit dem Wirtschaftsverständnis von F.Nietzsche sowie diversen wirtschaftstheoretischen Positionen von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Diskussion steht die Differenz zwischen „oikos“ und „polis“, also zwischen Politik und Wirtschaften bzw. Führen des „Haushalts“. Es geht um die Frage, ob ökonomisches Handeln auch politisch ist oder doch eigenständig, mit eigenen, rein „technischen“ Hebeln. Die unterschiedlichen Positionierungen hierzu sind bis heute relevant, sie bestimmen, wie „demokratisch“, autokratisch oder gemeinwohlorientiert wirtschaftliches Handeln verankert wird. Schuster bringt Nietzsches „aristokratisches“, am häufig missverstandenen Begriff des „Übermenschen“ orientiertes Ökonomiekonzept als eine Art Synthese zwischen den politischen und den apolitischen Ökonomievorstellungen vor. Freiheit und gutes Leben wird durch eine Art „globales“, elitäres wirtschaftliches Handeln erreicht, fast analog zur antiken Realität. Der Autor sieht in dem Ansatz gleichwohl einen interessanten Kontrapunkt zu den zeitgenössischen Tendenzen einer Entpolitisierung der Ökonomie mit ihren fremdherrschaftlichen Wirkungen.
Kapitel 8
Achim Würker bezieht sich bei seiner wirkungsanalytischen Betrachtung des „Sturms auf das Capitol“ unter der ausklingenden Noch-Präsidentschaft Donald Trumps u.a. auf die theoretische Rahmung in den vorangegangenen Beiträgen von H.Hierdeis in diesem Band und auf Ausführungen von H.-D.König zur damaligen Rede Trumps. Daneben lehnt er sich methodisch am sog. „Szenischen Verstehen“ in der Tradition von Alfred Lorenzer an. Der Sturm auf das Capitol wird dabei als zu analysierendes „Interaktionsspiel“ gesehen, bei dem Trump in seiner sozialen Funktion, nicht als Person betrachtet wird, mit der Frage, welche Position er im Interaktionsspiel einnimmt. Würker möchte am Beispiel dieses US-amerikanischen Geschehens massenpsychologische Beeinflussungsformen veranschaulichen. Als strategische Mittel identifiziert er z.B. ein eingemeindendes „Wir“, eine Kontrastierung in Freund und Feind und die Projektion eigener unmoralischer Impulse auf die Feindgruppe. Trumps Rede erhält nach Würker ihre starke Wirkung durch ihre spezielle Bildhaftigkeit. Eines der rhetorischen Schlüsselbilder, auf das Trump demnach zurückgreift, ist das des Westernduells. Das Feindbild der Medien wird beschworen und es wird dazu aufgefordert, „zurückzuschießen“. Bei der sprachlichen Inszenierung will Trump die Zuhörer dazu bringen, ihre Handy-Kameras zu zücken wie der Westernheld seinen Colt. Appelliert wird bei Trump an den Cowboy-Mythos und an Entmannungsängste gleichzeitig.
Kapitel 9
Josef Berghold benennt in seinem Beitrag die radikale Unvereinbarkeit der Weckrufe zur Klimakrise mit den autoritären und sozialdarwinistischen Grundhaltungen im rechten Spektrum. Demnach gehen beispielsweise Männlichkeitswahn und die Weigerung, die Klimakatastrophe zu begreifen Hand in Hand. Selbst die überwältigende Evidenz der wissenschaftlichen Belege kann rechte Ideologen und Interessensvertreter „bremsender“ Industriebereiche nicht erreichen. Berghold macht mittlerweile eine geradezu „psychotische Verwahrlosung im Umgang mit der Wirklichkeit“ aus. Selbst wenn die Klimakrise von elitär-privilegierter oder rechter Seite zur Kenntnis genommen wird, bleiben nach der Einschätzung Bergholds autoritaristische, inhumane Grundeinstellungen erhalten. Man entwickelt eine Art sozialdarwinistischer „Arche-Noah-Mentalität“. Vorsorge wird für die eigene, privilegierte Gruppe getroffen, „gerettet“ wird ggf. der elitäre Zirkel der Superreichen oder der klimatisch, geographisch und sozial günstiger Positionierten. Der „Rest“ darf schutzlos untergehen. Dass auch diese geradezu perversen Lösungsvorstellungen vielfach unrealistisch und „für die Katz“ sind, Berghold nennt sie „Wahnphantasien“, ist eine andere Sache.
Kapitel 10
Den sehr aktuellen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Macht beleuchtet Andreas Beinsteiner. Seine sehr interessanten und kundigen Ausführungen lassen klassischen Autoritarismus unter der Entwicklung digitaler Steuerungs- und Kontrollmittel womöglich als eher auslaufendes Modell totalitärer Herrschaftsansprüche erscheinen, dem für unsere Gesellschaft moderne, nicht weniger gefährliche Totalitarismusformen gegenüber stehen. Beinsteiner erläutert zunächst, wie gesellschaftliche Macht ausgeübt werden kann und wie rechter Autoritarismus machttechnisch verfasst ist. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Theorien von M.Foucault und G.Deleuze. Demnach lassen sich primär drei Machttypen unterscheiden, die auf den Nationalstaat ausgerichtete „souveräne Macht“, die an der industrialisierten Gesellschaft orientierte „Disziplinarmacht“ und eine sog. „produktive Macht“, die man sich v.a. trieb- und diskursbezogen vorzustellen hat. Gesellschaftstypen und Machtformen korrespondieren nach dieser Sichtweise mit bestimmten Technologieformen.
Die Ideologie des rechten Autoritarismus zielt, so die Ausführungen Beinsteiners, auf die Erhaltung oder Wiederherstellung nationalstaatlicher Souveränität und die repressiv erzeugte Sicherung eines bestimmten Ordnungsrahmens. Nachdem die Weiterentwicklung der Machtformen nach Bleisteiner in Anlehnung an Foucault primär auf eine Steigerung machtpolitischer Effizienz abzielt, stellt der Autor die Frage, ob die gegenwärtige Konjunktur rechter Autoritarismen nicht nur ein Rückzugsgefecht darstellt.
Unter Rückgriff auf Deleuze führt der Autor aus, dass mit den neoliberalen Flexibilisierungen und dem Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mit Hilfe der Computertechnologie eine neue Form der Machtausübung und Kontrolle ins Zentrum rückt, nämlich „Modulation“. Modulation ist mit der Digitalisierung machttechnisch eng verflochten, die gesellschaftliche Steuerung erfolgt über eine zeitlich und situativ variable Bewertung, Kategorisierung und Handhabung unterschiedlichster Entitäten. Charakteristisch ist etwa die Personalisierung von Informationen, Dienstleistungen und Gütern, ebenso wie die von Handlungsoptionen oder Handlungsbarrieren. Kontrollmacht wird über Algorithmen und technische Steuerungen ausgeübt, die rechtsstaatliche Regularien aushebeln können. Beinsteiner verdeutlicht den dystopischen Ausblick auf diese Entwicklung mit dem Beispiel des chinesischen Sozialkreditsystems. Rating und Scoring steuern und kanalisieren das Verhalten der Menschen in beliebiger und totalitärer Weise. Nicht nur im Osten, auch im Westen finden sich ähnlich durchschlagende, wenn auch noch nicht wie in China bis zu einem Gesamtscore vereinheitlichte Digitaltechnologien im Einsatz. Einmal enthalten sie die Gefahr einer unterschwelligen, algorithmisch erzeugten Diskriminierung, etwa aufgrund der Kategorisierung von Geschlecht oder ethnischem Hintergrund.
Aber auch „rationale“, nicht mehr durch Vorurteile oder soziale Abwertung gekennzeichnete datentechnische Diskriminierungsverfahren, etwa zum Erfassen „objektiv“ erbrachter Leistungen oder „rein faktischer“ personbezogener Merkmale sind mit Vorsicht zu betrachten. Im Beitrag wird verdeutlicht, wie Social Media, die Erforschung der individuellen Konsumgewohnheiten und die „Märkte der Moral“ wiederum und in vergleichbar brutaler Weise zu Stigmatisierung und Repression führen können. Beinsteiner verweist am Ende seines Beitrages darauf, dass expertokratische, technologisch-totalitäre Visionen nicht neu sind, ebenso wie das Unbehagen daran. Hierfür lässt er Dostojewskij kurz zu Wort kommen. Bei aller Besorgnis über erstarkende rechte Autoritarismen sollte man, so der Autor, auch andere Gefahren für die liberale Demokratie in den Blick nehmen. Totalitarismus müsse nicht immer mit der Unterwerfung unter eine autoritäre Führerfigur einhergehen, er könne auch völlig technologisch-„rational“ und vordergründig „progressiv“ auftreten.
Kapitel 11
Polizeiliche Autorität zwischen Mythos und Machtreproduktion stellt Marschel Schöne dar. Er skizziert die Organisation Polizei in ihrer Größe und inneren Vielfalt. Polizeiliche Autorität fußt im wesentlichen auf symbolischer Macht. Die polizeilich-„fachliche“ Autorität, gleichzeitig Fundament staatlicher Autorität und Glaubhaftigkeit, wird präsentiert und inszeniert, z.B. durch polizeiliche Titel und Uniformen. Schöne verweist in seinen Ausführungen v.a. auf Bourdieu, wenn er die symbolische polizeiliche Macht als „Autoritäts-Reproduktionssystem“ bezeichnet. Aus Sicht des Autors produziert das soziale „Feld Polizei“, das er überblicksartig durchstreift, Ordnung und Sicherheit nicht de facto, sondern den Mythos, dass sie zu deren Erzeugung und Bewahrung in der Lage ist. Unter den Aspekten polizeiliche Gewalt, Argwohn gegenüber der Polizei, Männlichkeitsvorstellungen und Genderfragen wird die Problematik heutiger Polizeiarbeit diskutiert. Besondere Herausforderungen für die Polizei in der westlich-pluralistischen Demokratie ergeben sich in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, wie der Autor gegen Ende seines Beitrags ausführt. Die Fragilität der polizeilichen Macht erfordere letztlich nicht nur das Recht, zu kontrollieren, sondern auch darauf, kontrolliert zu werden.
Kapitel 12
Autoritäre Sozialarbeit und die Möglichkeit einer anders ausgerichteten Hilfe stellt Kai Hauprich am Beispiel der Wohnungslosenhilfe dar. Der Beitrag beginnt mit einer Skizzierung von Obdachlosigkeit und Wohnungsnot in Deutschland. Wohnungslos waren 2022 immerhin rund 262000 Personen, von denen etwa 37000 völlig obdachlos auf der Straße lebten, so der amtliche Wohnungslosenbericht der Bundesregierung. Wenn man die Entwicklung u.a. im Wohnungsbau und am Mietwohnungsmarkt verfolgt, kann man davon ausgehen, dass diese Zahlen erheblich steigen werden. Nach den Vorbemerkungen zu dieser sozialen Realität fügt der Autor einen anschaulich-kurzweiligen Exkurs zur Geschichte der Wohnungslosenhilfe ein, die von der Martinserzählung und praktischer Barmherzigkeit in alter christlicher Tradition über die Wanderarmenfürsorge mit Beginn der aufkommenden Industrialisierung bis zu gegenwärtigen Wohltätigkeits- und Hilfsformen reicht.
Hauprich macht eine Kontinuität mehr oder minder wohlmeinender autoritär-erzieherischer Muster bei den Hilfen für wohnungslose und obdachlose Menschen aus. Es ging dabei u.a. auch um „Arbeitsgewöhnung“ und „Sesshaftmachung“. Dass von diesen Disziplinierungsbemühungen v.a. Arme, „sozial Gefährdete“ und z.B. Sinti und Roma besonders betroffen waren, versteht sich von selbst. Der Autor verweist dann auf die heutige breite und ausdifferenzierte Angebotspalette verschiedenster Hilfen. Die klassischen Hilfsmodelle folgen einer Stufenlogik. Demnach muss ein obdachloser Mensch z.B. erst abstinent und schuldenfrei werden und dann einer Erwerbsarbeit nachgehen, bevor man ihm zu einer eigenen Wohnung verhilft.
In Köln wurde dies in den 1960er Jahren stolz als „Leiter in den Wohnhimmel“ präsentiert, schreibt Hauprich. Allerdings stieß und stößt dieses Hilfesystem rasch an seine Grenzen, wie der Autor ausführt. Zum einen wird die Autorität dieser Art von behördlicher oder institutionalisierter Hilfe von den Betroffenen vielfach nicht anerkannt. Obdachlose nehmen die Angebote der Wohnungsnotfallhilfe vielfach nicht in Anspruch oder bleiben „freiwillig“ obdachlos. Dafür gibt es aus Sicht der Autors vielfältige Gründe, bei näherer Betrachtung oft auch nachvollziehbare und vernünftige. Das kann Angst vor Gewalt und Übergriffen, Abneigung gegen Fremdbestimmung und Kontrolle oder das Verlangen nach Aufrechterhaltung der persönlichen Selbstbestimmung und Würde sein.
Hauprich stellt dann mit „Housing First“ ein modernes Konzept der Wohnungslosenhilfe vor, das den Betroffenen weitestgehend Selbstbestimmung belässt, Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit erhält und Wohnen als Menschenrecht versteht. Das eigene Zuhause wird nicht als Schlusspunkt einer Stufenleiter gedacht, sondern zum Ausgangspunkt weiterführender Hilfen hin zu einem zufriedenstellenden Leben gemacht. Eine Entkopplung von psychologischen, sozialpädagogischen und medizinischen Hilfen und der Bereitstellung von Wohnraum steht im Zentrum des Konzepts, das in den 1990er Jahren in den USA seinen Anfang nahm und sich als recht erfolgreich erwies. Mittlerweile findet der Ansatz in Skandinavien breite Akzeptanz, wird auch in Deutschland aufmerksam zur Kenntnis genommen und von Köln ausgehend in einigen Städten bereits etabliert. Erleichtert wird dies vielleicht dadurch, dass sich der „Housing First“-Ansatz weniger als geschlossenes, planmäßig steuerndes Konzept, sondern mehr als schöpferisch freies „Arbeiten am Lebendigen“ versteht, wie Hauprich auf den Schlussseiten seines Beitrages ausführt.
Diskussion
Mit den einführenden Beiträgen von S. Kreibe und H. Hierdeis zu der Thematik „Mechanismen der Unterwerfung“ sind die Hintergründe für das publizistische Interesse an Autoritarismen und die Notwendigkeit der theoretischen wie politisch-praktischen Beschäftigung mit diesen Machtformen vorgestellt.
Die im Band enthaltenen „Perspektiven auf den Autoritarismus“ reichen von eher theoretisch-analytischen Betrachtungen bis zu Darstellungen konkreter historischer, zeitgeschichtlicher oder bereichsbezogener Vorgänge und Zusammenhänge. Naturgemäß ergibt sich aus der Zusammenstellung solch unterschiedlicher Texte kein Gesamtbild aus „einem Guss“. Auch sprachlich und bezogen auf den Erkenntnisgewinn wird der Leser bzw. die Leserin zu den einzelnen Beiträgen evtl. ganz unterschiedlich Zugang finden, schon allein aus der Frage heraus, ob man eher „theoretisch-analytisch“, politisch-gesellschaftsethisch oder z.B. bildungs- und sozialpraktisch an der Thematik interessiert ist.
Der „Rundumblick“, d.h. die Lektüre aller Beiträge in ihrer Verschiedenheit des thematischen Bezugs lohnt sich dabei durchaus. Man wird bereichert, „Gewusstes“ – nicht alle Analysen und Beschreibungen vermitteln unbedingt Neues – wird vertieft und z.B. in den Texten von H. Hierdeis, H.-J. Wirth und A. Würker begrifflich kompakt und systematisiert dargeboten. Auch „Neues“ hat der Rezensent erfahren, im inhaltlichen Detail in fast jedem Beitrag, im Einzelfall auch durch die ungewöhnliche „Perspektive“, die ein Autor einnimmt, z.B. T. Bastian mit seiner sehr radikalen „religionsphilosophischen“ Sicht des Nationalsozialismus. Auch von „Housing First“ und den doch eher „autoritativen“ Strukturen der traditionellen Wohlfahrtspflege bzw. Wohnungslosenhilfe wusste ich vor der Lektüre nichts oder nur sehr ungenaues.
Der Themenkomplex Autoritarismus ist mit den Einzelbeiträgen, auch unter Berücksichtigung der profunden Einleitung, trotzdem nicht „umfassend“ abgebildet. Das ist auch nicht zu erwarten. Die Literatur zu der Thematik ist nicht von ungefähr „uferlos“, und angesichts der besorgniserregenden Zunahme rechtslastig-autoritärer Trends sind auch die mehr oder minder verzweifelten demokratisch verorteten Diskurs- und Begrenzungsbemühungen recht zahlreich, wobei politisch, pädagogisch und psychologisch bei niemandem der entscheidende „Stein der Weisen“ zur Verhinderung der unguten Entwicklung zu finden ist. Ergebnisbezogen ist also Bescheidenheit angesagt.
Der hier vorgestellte Band hat somit unbeachtet der themabezogenen „Lücken“ mit den ausgewählten Expertisen und speziellen Perspektiven seinen Wert für allgemein offen und breit Interessierte und für Leser und Leserinnen mit einem ausgeprägten „gesellschaftsanalytischen“ Interesse. Mit der Thematisierung von Rechtsradikalismus, Nationalsozialismus und chinesischem Totalitarismus sind wichtige und besonders bedrohliche Formen des Autoritarismus im Band aufgegriffen. Mit Narzissmus, zusätzlich der Sonderform des „Trumpismus“, der bizarr-reaktiven Leugnung der Klimakrise und der digitalen Totalitarismusgefahr greift der Band ganz aktuelle Aspekte zum Thema Autoritarismus auf, die sowohl eine psychologische als auch eine politische Dimension haben. Wie in dem einen und anderen Beitrag, z.B. dem zur digitalen Transformation schon zart angedeutet, müsste man sich in Ergänzung zum vorgestellten Band als interessierte Leserin oder als interessierter Leser weiteren „anderen“ Gefährdungsmomenten unserer Demokratie zuwenden. Solche könnten evtl. auch von „guten Seiten“ kommen, wie die manchmal aus dem Ruder laufenden Gender- und Political Correctness-Trends zeigen. Hilfreich wäre auch ein ausführlicher Blick in die Historie des Autoritarismus in seiner ganz klassischen, auch archaischen Form.
Das Studium von Diktatoren, Tyrannen, von Kolonialismus, Sklaverei, von „Königen“ und Stammes- oder Clanhäuptlingen, nicht nur auf europäischem, sondern auch auf afrikanischem oder asiatischem Boden kann zur Erhellung unseres anthropologischen Erbes und unserer gesellschaftlich-zivilisatorischen Gefährdungen beitragen. Gefahr droht erkennbar nicht nur durch „moderne“ Autoritarismen und Totalitarismen, sondern auch durch atavistische. Der „Putinismus“ oder ein Blick auf arabische, afrikanische oder asiatische Gegebenheiten genügt. Eine systematisch ausgerichtete und an Vollständigkeit interessierte Betrachtung müsste sich zudem unbedingt auch „linken“ Autoritarismen wie Kommunismus und Stalinismus mit ihrer scheinfortschrittlichen Ideologie und ihren menschenverachtenden Brutalismen näher zuwenden. Die letzten Bemerkungen sind nicht als Kritik am vorliegenden Band zu verstehen.
Der Band mit seinen fachlich profunden, teilweise sprachlich recht anspruchsvoll verfassten Beiträgen bietet wichtige, zum Nachdenken und Weiterfragen anregende Facetten, die den Autoritarismus als Herrschaftsform und als machtorientiertes „Ideal“ für eine starke Unterwerfungsbereitschaft beleuchten. Ein Schwerpunkt der Darstellungen liegt auf psychologisch-psychoanalytischen Faktoren.
Für interessierte Leserinnen und Leser, die sich durch fachspezifische Terminologie nicht abschrecken lassen, ist der Band insbesondere in Nachgang und Ergänzung zu grundlegenden und einführenden Texten zu empfehlen, die sich mit den Themenkreisen Autoritarismus, Diktatur und totalitäre Herrschaft, Sozialpsychologie und Massenpsychologie, autoritärer Charakter bzw. autoritäre Persönlichkeit oder Anpassungs-, Unterordnungs- und Unterwerfungsbereitschaft beschäftigen.
Abschließend sei festgestellt: Die sympathisch humanen, an demokratisch-pluralen und emanzipativen Verfasstheiten ausgerichteten Intentionen der Autoren sind aus allen Beiträgen abzulesen. Und, ernst, aber nicht bierernst angesprochen, – durch die Tatsache, dass offensichtlich alle Autoren incl. des Rezensenten – sicher zufälligen Konstellationen geschuldet – dem männlichen Geschlecht angehören, wie der Rezensent irgendwann beiläufig mit Erstaunen bemerkt hat, sollten sich weibliche und diverse Interessierte nicht von der Lektüre des Buches abbringen lassen. Für genderbezogene wie auch anders gelagerte Diskriminierung gibt es, soweit der Rezensent beurteilen kann, in den Beiträgen und im Zusammenhang mit der Herausgabe des Bandes keinerlei Anzeichen.
Fazit
Ein Band mit kenntnisreichen, z.T. sehr anregenden Beiträgen, die spezifische Facetten von Autoritarismus und totalitären Tendenzen kompetent beleuchten. Die Lektüre empfiehlt sich allgemein v.a. in Ergänzung zu entsprechenden Einführungs- und Grundlagentexten oder für interessierte Fachpersonen, die mit dem Themenkomplex grundsätzlich vertraut sind.
Rezension von
Dr. Edwin Petek
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