Hartmut Reiners: Die ökonomische Vernunft der Solidarität
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 04.08.2023

Hartmut Reiners: Die ökonomische Vernunft der Solidarität. Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik.
Promedia Verlagsgesellschaft
(Wien) 2023.
272 Seiten.
ISBN 978-3-85371-516-1.
D: 22,00 EUR,
A: 22,00 EUR.
Reihe: Edition Makroskop - 2.
Thema
Das Sozialversicherungssystem ist nicht nur aus sozialer, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Sicht vernünftig. Der Autor fordert daher ein Ende der Privatisierung in der Sozialpolitik und eine Demokratisierung des Sozialstaates.
Autor
Hartmut Reiners hat bis zu seiner Pensionierung 2009 über 20 Jahre lang in den Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg gearbeitet, zuletzt als Referatsleiter für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik. Als Publizist äußert er sich seit über dreißig Jahren zu Fragen der Sozialpolitik.
Entstehungshintergrund
„Es mangelt an einer ökonomischen Fundierung der Sozialpolitik“ (S. 10). Diesem Mangel will Reiners mit diesem Buch abhelfen, in dem er gegen die „verkürzte Sicht“ argumentiert, „den Sozialstaat auf ein System von Transferleistungen zu reduzieren“ (S. 11).
Aufbau
Neben der Einleitung, einem ausführlichen Literatur- sowie einem Stichwortverzeichnis ist das Buch in sieben Kapitel und einen Ausblick gegliedert.
Inhalt
Bereits in der Einleitung wird die Stoßrichtung des Buches klar: Es sollen die Argumente der marktliberalen Ökonomen und Publizisten entkräftet werden, die nach Auffassung des Autors den „Strukturwandel des Sozialstaates“ (S. 10) nicht verstanden haben und deshalb diesen noch immer „auf ein System von Transferleistungen“ reduzieren, obwohl die Sozialversicherungen inzwischen auch ein Teil einer Dienstleistungswirtschaft sind, die einen erheblichen Anteil an der Erwirtschaftung des Bruttoinlandsproduktes haben. Der Autor bezweifelt, dass sich mit „den Dogmen der Schuldenbremse und der Sozialabgabenbremse“ die sozialen Probleme Deutschlands bewältigen lassen (S. 15).
Die ersten drei Kapitel lesen sich als dialektische Annäherung an eine Sozialpolitik, die auch ökonomisch sinnvoll ist. In Kapitel 1 „Die Ökonomen und der Sozialstaat“ setzt sich der Autor mit den „Dogmen der neoklassischen Ökonomik“ (S. 34) auseinander. Von Hayek bis zur Public Choice und Moral Hazard werden diese Ansätze gewogen und für zu leicht befunden. Vielmehr gilt für Reiners: „Überproportional steigende Sozialausgaben sind daher bei einer produktivitätsorientierten Lohnentwicklung kein wirkliches ökonomisches Problem“ (S. 39).
Das zweite Kapitel „Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit“ ist geprägt u.a. von der Auseinandersetzung mit Marx, der katholischen Soziallehre sowie den Lehren von John Rawls und kommt zum Ergebnis, dass die Organisation des modernen Sozialstaates „weniger aus moralischen Prinzipien, sondern mehr aus ökonomisch rationalen Problemlösungen“ legitimiert werden sollte (S. 74).
„Die Revision des Sozialstaats“ ist das dritte Kapitel überschrieben, das sich mit Fragen von Sozialstaat und Demokratie, neuen sozialen Risiken und der Individualisierung der Gesellschaft beschäftigt. Breiten Raum nimmt die Beschäftigung mit der Angst vor dem sozialen Abstieg ein, die sich „strukturell im unteren Drittel der Gesellschaft verfestigt“ habe (S. 99). Sehr freundlich stellt Reiners die Positionen von Karl Polanyi dar, der ein „politische Steuerung der gesamten Volkswirtschaft“ postuliere, in der die soziale Sicherung ein Bereich der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion“ sei (S. 105).
Der Schluss dieses dritten Kapitels macht die Zielsetzung der vier weiteren Kapitel deutlich: Unser Sozialversicherungssystem sei „trotz aller Reformbedürftigkeit sehr viel effektiver (…) als die Angebote der privaten Assekuranz. Sein Ausbau ist keine Überforderung unserer Volkswirtschaft, sondern dient der gesellschaftlichen und ökonomischen Stabilität“ (S. 108).
Die vier folgenden Kapitel beschäftigen sich jeweils mit einem Zweig der Sozialversicherung. Die faktengesättigte Deskription dieser Eckpfeiler unseres Sozialstaates wird jeweils ergänzt um eine Bewertung der politischen Reformen der letzten Jahre, die dort, wo sie auf stärkere Privatisierung von Risiken gesetzt haben, durchweg kritisch gesehen werden. Sie enden jeweils mit Ideen, wie nach Überzeugung von Reiners die ökonomische Vernunft in der Sozialpolitik gestärkt werden kann.
Im 4. Kapitel geht es um das „Risiko Arbeitslosigkeit“, das er als zentrales Problem an der Schnittstelle von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ sieht (S. 109). Reiners identifiziert die Langzeitarbeitslosigkeit in Verbindung mit prekären Beschäftigungsverhältnissen als zentrales „Problem der Arbeitsmarktpolitik“ (S. 139f). In der Einführung des Bürgergeldes sieht er einen Fortschritt, weil damit ein Mentalitätswechsel in den Jobcentern verbunden sei: Nicht nur vom Bürgergeldempfänger werde kooperatives Verhalten erwartet, sondern auch von den Angestellten der Jobcenter (S. 140).
Die „ständige Absenkung der Altersrenten“ ist der Ausgangspunkt der Analysen im nächsten Kapitel „Soziale Sicherheit im Alter“. Klar verneint der Autor die Frage, ob die demografische Entwicklung die Rentenversicherung überfordere und verweist insbesondere auf das österreichische Modell der Rentenversicherung, das er als Vorbild für Deutschland sieht. Er ist allerdings sehr skeptisch, dass die dazu notwendigen Voraussetzungen – Entlastung der Rentenversicherung von versicherungsfremden Leistungen und Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen – in Deutschland Chancen auf Realisierung haben.
„Die Krankenversicherung: Privat oder Kasse?“ – In der Kapitelüberschrift für das 6. Kapitel steckt schon ein Kern von Reiners‘ Überlegungen zur künftigen Absicherung des Krankheitsrisikos. Nach eigener Überzeugung gelingt es ihm, die ökonomische Überlegenheit der gesetzlichen über die private Krankenversicherung zu zeigen (S. 214). Für ihn ist deshalb ein einheitliches Krankenversicherungssystem für alle Einwohnerinnen und Einwohner ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Im Aufbau integrierter Versorgungsstrukturen und einer Reform der Krankenhausfinanzierung sieht er zwei weitere Elemente, die Krankenversicherung zukunftsfest zu machen.
„Risiko Pflegebedürftigkeit“ ist das 7. Kapitel überschrieben. Die wachsende finanzielle Überforderung der Pflegebedürftigen und der Fachkräftemangel werden hier als die zentralen Herausforderungen identifiziert (S. 236). Während Reiners die Aufhebung der Trennung zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung als einzig verbleibende „ökonomisch rationale Lösung“ für das Finanzierungsproblem bewertet (S. 237), sieht er beim Fachkräftemangel keine Ansätze, die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte so zu verbessern, wie er es für notwendig hält (S. 239). Das letzte Wort in diesem Kapitel heißt „vergeblich“.
Nur sechs Seiten braucht der Autor für sein Schlusskapitel „Ausblick: Wer soll das bezahlen?“. Mehr Privatisierung und mehr Steuerfinanzierung lehnt Reiners ab und plädiert trotz aller Probleme für Sozialversicherungslösungen. „Man kann es drehen und wenden wie man will, die auf uns zukommenden Probleme in der Gestaltung und Finanzierung der sozialen Sicherung sind nicht ohne eine wachsende Sozialquote des BIP zu bewältigen“ (S. 244).
Diskussion
Effektivität und Effizienz, das sind die Kriterien, an denen Hartmut Reiners die Frage misst, ob Sozialpolitik auf privatwirtschaftliche oder sozialversicherungsrechtliche Lösungen setzen sollte. In allen untersuchten Fällen kommt er zu dem Ergebnis zu Gunsten der Sozialversicherung. Selbst wenn man seinen Argumentationen häufig folgen mag, erscheint dies doch ziemlich schematisch. Selbst wo die Kritik in der Sache überzeugt, stellt sich die Frage nach der politischen Umsetzbarkeit. Da äußert Reiners aber selbst genügend Zweifel an der Umsetzbarkeit der Lauterbachschen Krankenhausreform gegen die Interessen der Bundesländer bis zur Übertragung der Logik der österreichischen Rentenversicherung auf Deutschland.
Verständlich wird diese klare Positionierung gegen alles, dem man das Label „neoliberal“ aufkleben kann, vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über das Übel steigender Sozialversicherungsbeiträge. Von Sloterdijk bis Raffelhüschen nennt Reiners viele seiner politischen Gegner beim Namen. Noch nicht wissen konnte er beim Redaktionsschluss des Buches, dass mit Carsten Linnemann ein Vertreter der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) zum CDU-Generalsekretär und damit qua Amt zum Wahlkampfmanager für die nächste Bundestagswahl designiert wurde. Wer die Eckpunkte des MIT-Bundesvorstandes zur Neuausrichtung der Sozialpolitik liest [1], wird mit umgekehrten Vorzeichen die gleichen Stichworte finden, die Reiners verwendet. Falls sich diese Position innerhalb der Union durchsetzen sollte, finden ihre Gegner bei Reiners reichlich Munition für einen spannenden Wahlkampf.
Fazit
Aus ökonomischer Perspektive erläutert das Buch, warum das deutsche Sozialversicherungssystem effizient und effektiv ist, auch wenn dies künftig steigende Beiträge bedeutet. Das Ende der Privatisierung in der Sozialpolitik ist für den Autor die konsequente Forderung.
[1] FAZ vom 14. 7. 2023, S. 19: Nein zu Vollkasko-Politik
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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