Jan İlhan Kızılhan, Claudia Klett (Hrsg.): Lehrbuch transkulturelle Traumapädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 30.08.2023

Jan İlhan Kızılhan, Claudia Klett (Hrsg.): Lehrbuch transkulturelle Traumapädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 264 Seiten. ISBN 978-3-7799-6899-3. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Thematisiert wird die Bedeutung der Traumapädagogik für die Begleitung und Arbeit mit traumabelasteten zugewanderten Menschen, da die unterschiedlichen Lebenswelten und Krankheitskonzepte, sowie die damit verbundenen Erwartungen an die Helfer*innen und das Versorgungssystem ein transkulturelles Verständnis und transkulturelle traumapädagogische Arbeitsweisen erfordern. Vermittelt werden theoretische Grundlagen und Handlungskonzepte und Methoden einer Transkulturellen Traumapädagogik.
Herausgeber*innen
Jan Ilhan Kizilhan, Prof. Dr. rer. soc., Dr. phil. Dipl. Psychologe, studierte Psychologie und Soziologie. Er leitet eine transkulturelle psychosomatische Abteilung der MediClin-Klinik in Donaueschingen. Seit 2017 ist er Gründungsdekan des Institute für Psychotherapy and Psychotraumatalogy der Universität Dohuk im Nordirak. Der psychologische Psychotherapeut und Lehrtherapeut leitet zudem das Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW).
Claudia Klett studierte Erziehungswissenschaften und ist langjährig in der psychosozialen Begleitung und Beratung von Kindern, Jugendlichen und Familien tätig. Nach einer Lehrtätigkeit im Studiengang der Sozialen Arbeit der DHBW in Villingen-Schwenningen lehrt sie seit 2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung der DHBW.
Die neun weiteren Autor*innen aus unterschiedlichen beruflichen Kontexten und Berufsbiografien weisen jeweils langjährige Erfahrungen aus der Praxis, der Lehre und der Fortbildung auf.
Aufbau
Untergliedert ist das Buch in vier Teile, es beginnt im ersten Teil mit einem allgemeinen Einstieg in die Themenfelder Trauma und Traumapädagogik, in denen die Grundlagen der Psychotraumatologie und der Traumpädagogik dargestellt werden. Der Schwerpunkt des zweiten Teils thematisiert den Kontext von Flucht und Migration, im dritten Teil stehen die transkulturelle Fallarbeit und die Methoden im Mittelpunkt. Anschließend werden im vierten Teil die Selbstfürsorge und Möglichkeiten der Selbstreflexion erörtert. Das Buch schließt mit Hinweisen über die Autor*innen.
Die einzelnen Artikel schließen jeweils mit den Literaturangaben und beinhalten Hinweise zu den Zielen des Kapitels, Zusammenfassungen für die Praxis und Impulse zur (Selbst-)Reflexion.
Inhalt
In der kurzen Einleitung benennen die Herausgeber*innen als Ziel des Buches die Vermittlung theoretischer Grundlagen, Haltungs- und Handlungskonzepte und Methoden für eine transkulturelle traumapädagogische Arbeit in unterschiedlichen Handlungsfeldern.
Den ersten Teil des Buches eröffnet Jan Ilhan Kizilhan mit einer grundlegenden, sehr übersichtlichen Einführung in die Psychotraumatologie. Definiert werden einführend Trauma und traumatische Ereignisse, um dann die Folgen einer Traumatisierung, die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die Klinische Diagnostik zu fokussieren. Anschließend vermitteln Silke Brigitta Gahleitner, Maximiliane Brandmaier und Dorothea Zimmermann grundlegende Aspekte der Traumapädagogik. Sie verdeutlichen, dass es sich bei der traumapädagogischen Arbeit nicht nur um einen Handlungs-, sondern insbesondere um ein Haltungskonzept handelt, welches dem Konzept der Antidiskriminierungsarbeit nach intersektionalen Maßstäben sehr nahe ist. Grundlegende Prinzipien dieser Arbeit sind: Anerkennen und auf Augenhöhe begegnen, Vertrauen schaffen, Bindung und Beziehung anbieten, Dialogisches Verstehen, schützende Inselerfahrungen ermöglichen, Alltagsbegleitung und Symptomreduktion und die Integration in den Lebensalltag. Abschließend wird betont: „Die wesentliche Voraussetzung für eine fachlich qualifizierte Arbeit ist eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft mit eigenen sozialen Positionierungen und Privilegien, sozial und biographisch erworbenen Stereotypen, Vorurteilen und Rassismen sowie eventuellen eigenen Traumatisierungen.“ (S. 50).
Mit Handlungs- und Kompetenzbereichen der Traumapädagogik beschäftigt sich Winfried Fritz. Thematisiert werden die biopsychosoziale Perspektive auf Traumata, eine traumapädagogische Begleitung in unterschiedlichen Phasen, die sozialpädagogische Diagnostik, die Krisenintervention, die Bedeutung der Stabilisierung, die Psychoedukation, das Schaffen von sicheren Orten, der Umgang mit Triggern, eine traumasensible Beziehungsgestaltung, die Arbeit mit Familiensystemen, die Bedeutung traumasensibler Netzwerkarbeit und spezielle Interventionen. Diese Intervention könnten grundsätzlich von pädagogischen und pflegerischen Fachkräften mit entsprechender Zusatzqualifikation durchgeführt werden, wobei es wichtig sei die jeweiligen Fähigkeiten ebenso zu kennen wie die Grenzen. Therapeutische Interventionen im Sinne einer Traumakonfrontation sollten ausschließlich TraumatherapeutInnen überlassen werden.
Im zweiten Buchteil „Traumapädagogik im Kontext von Flucht und Migration“ stellt Claudia Klett Zusammenhänge zwischen Flucht und Migration dar, die für eine transkulturelle Traumaarbeit von Bedeutung sind. Neben der persönlichen psychosozialen Bedeutung stehen die gesellschaftlichen bzw. politischen Dimensionen der Traumaarbeit im Mittelpunkt. Vorgestellt werden Migrationstypen und Fluchtphasen, wobei insbesondere das Asylverfahren und die Aufnahmesituation traumatische Folgestörungen begünstigen kann. Zudem werden Zusammenhänge mit dem Konzept der sequenziellen Traumatisierung und der „Weitergabe“ von Traumata hergestellt.
Dominik Keicher beschäftigt sich in seinem Beitrag über die Rolle von psychischen Erkrankungen und Traumata im deutschen Asylverfahren. Gut verständlich werden die Ebenen und Abschnitte des Asyl- und Ausländerrechts referiert, in denen psychische Erkrankungen rechtlich zum Tragen kommen und die von Bedeutung für die Unterstützung traumatisierter Menschen während des Verfahrens sind.
Im letzten Beitrag dieses Teils fokussiert Lydia Maidl das Thema „Religion und Spiritualität in Transkultureller Perspektive“. Sie zeigt unterschiedliche Facetten der Bedeutung von Glaube, Religion und Spiritualität im Erleben und Umgang mit Traumatisierung und Traumafolgestörungen aus den Perspektiven zugewanderter Menschen und begleitender Fachkräfte auf. Auf der Basis aktueller empirischer Forschungen stellt sie vor, wie ungenutzte Ressourcen durch einen sensiblen, proaktiven Einbezug religiöser Themen konkret genutzt werden können. Ausgangspunkt dieser Ausführungen ist die Erfahrung, dass Mythen und Religionen als mögliche Ressourcen eine besondere Bedeutung zukommt. Viele religiöse Traditionen erzählen von on Rettung, Hilfe, Neuanfang und Schutz. Diese Geschichten und Rituale werden zum Hoffnungsgrund, einer “religiösen Resilienz“ in schwierigen Lebenssituationen (S. 126). In diesem Kontext werden Deutungen von Ereignissen und ihren Zuschreibungen im Hinblick auf Kausalattributionen (wer oder was sind die Ursachen für ein Ereignis – Zufall, Fügung Gottes, Strafe oder Prüfung Gottes) und Kontrollarttributionen im Hinblick darauf, wie wir mit dieser Situation umgehen können und wer helfen kann analysiert. Thematisiert wird, wer die Macht und die Kontrolle hat, etwas zu ändern. Bedeutsam ist dies u.a. auch deswegen, da Forschungen zu nichtwestlichen Trauma-Überlebenden zeigen, dass für familienorientierte Personen die Zuschreibung von Vorsehung und Schicksal und die mögliche Veränderung der sozialen Zugehörigkeit die entscheidenden Belastungsthemen sind (S. 133).
Im dritten Teil mit dem Titel „Transkulturelle traumapädagogische Fallarbeit und Methoden“ geben Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett einen umfassenden praxisnahen Überblick über die Transkulturalität in der traumasensiblen Begleitung. Sie gehen auf transkulturelle Kompetenzen ein, die Einflüsse von Gesellschaft, Familie und Sprache/​Verständigung. Dies schließt auch die praktische Arbeit mit Dolmetscher*innen ein. Für sehr bedeutsam sind m.E. die Aussagen über Machtverhältnisse, Diskriminierung und Rassismus im Kontext einer traumasensiblen Begleitung. Gegenübergestellt wird zudem die unterschiedliche Kommunikation in individualistisch und kollektivistisch geprägten Gesellschaften.
Im Anschluss stellt Jan Ilhan Kizilhan Phasen einer kultur- und traumasensiblen Fallarbeit vor. Er vermittelt Hinweise zu einem angepassten und reflektierten Hilfe- und Versorgungskonzept. Hierzu gehören eine traumasensible Anamnese und psychosoziale Diagnostik. Zu beachten sind dabei kulturspezifishe Symptomatiken von Traumafolgen. Thematisiert werden zudem ein oft notweniger kulturbedingte Einbezug der Angehörigen beim Erstgespräch und eine möglicherweise andere Beziehungsgestaltung. Abschließend werden pointiert typische Einstellungsmuster psychosozialer Fachkräfte gegenüber kollektivistisch geprägten Klient*innen zusammengefasst.
Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett erörtern veranschaulicht durch Fallvignetten bewährte ausgewählte Methoden und Techniken für transkulturelle Kontexte für die Stabilisierung, Psychoedukation und die Biografiearbeit. Zudem geben sie für die Durchführung von Gruppenangeboten Hinweise. Vorgestellt werden Übungen um Sicherheit und Ruhe zu finden (z.B. Muskelentspannungstraining und Rituale für die emotionale Stabilisierung). Eine Reihe weiterer klassischer und neuer Techniken der Beratung und z.B. der Integrativen Therapie werden vorgestellt.
Im abschließenden vierten Teil des Buches stehen die Selbstfürsorge und Möglichkeiten der (Selbst-)Reflexion als Fachkraft im Fokus. Dima Zito zeigt in ihrem Beitrag „Reflexion und Selbstfürsorge“ auf, wie Erfüllung und Sinn in der eigenen oft sehr belastenden Arbeit gefunden werden können. Zudem geht sie auf die besonderen Herausforderungen in der transkulturellen traumapädagogischen Arbeit, und hier insbesondere in Bezug auf die Biografie der Helfer*innen, ein.
Daran anknüpfend fokussiert Winfried Sennekamp traumasymptomatische Herausforderungen in der Beratung, wie widersprüchliche Signale der Klient*innen, (Gegen-)Übertragungsphänomene oder gegensätzliche Impulse von Nähe und Distanz. Thematisiert wird zudem eine mögliche sekundäre Traumatisierung der Helfer*innen Für die Autoren zeigt sich meist die sekundäre Traumatisierung in einer Erschöpfung der Anteilnahme und einer chronischen beruflichen Überlastung der Fachkraft. Weniger würde das primäre Trauma der Klient*innen auf die Fachkraft durchschlagen.
Abschließend stellt Kornelia Schlegel Möglichkeiten einer kollegialen Onlineberatung vor. Beschrieben werden die Potenziale diese Unterstützungsform, ein möglicher Ablaufplan und ein Bezug zur Selbstreflektion. Dieses Format bietet vielfältige Möglichkeiten, einrichtungs- und ortsübergreifend Personen einzubeziehen sowie asynchron zu beraten.
Hinweise über die Autor*innen finden sich auf den letzten Seiten.
Diskussion
Das von Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett herausgegebene Lehrbuch fokussiert wichtige Aspekte der transkulturellen Traumapädagogik. Umfangreich, differenziert und kompakt wird ein Überblick geboten. Positiv ist die hohe Fachlichkeit der Autor*innen hervorzuheben. Das Buch ergänzt somit unser Wissen über diese bedeutsame Thematik. Die Reflexionsfrage und Hinweise für die Praxis und der Selbstreflektion fördern die persönliche Auseinandersetzung mit dem Text. Auch psychosoziale Fachkräfte, die nur gelegentlich in transkulturellen Kontexten tätig sind, erhalten theoretisch fundiert wichtige Hinweise für ihren Berufsalltag.
Der Anspruch eines Lehrbuches über transkulturelle Traumapädagogik erfüllt dieses Buch jedoch m.E. aus verschiedenen Gründen nicht voll. Gleichwohl vielfältige Themen behandelt werden, fehlen m.E. einige. Zu ergänzende Aspekte sollen aufgeführt werden:
- Die Begrifflichkeiten und die Adressaten sollten klarer definiert werden. Nicht bestimmt wird, was mit transkulturell gemeint ist. Die Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Länder, aus denen aktuell die meisten Asylbewerber*innen stammen. Nicht deutlich wird, inwieweit auch z.B. Personen aus der Ukraine, aus Israel (die auswandern wollen, da diese z.B. die Demokratie gefährdet sehen), Ungarn (da sie z.B. ihre sexuelle Identität gefährdet sehen) oder aus Griechenland/​Spanien (wenn dort große Regionen durch Klimaereignisse veröden) gemeint sind. Hier fehlen Beiträge, die sich mit dem Übergang aus anderen Kulturen beschäftigen.
- Deutlich ist nicht, welche Altersgruppen gemeint sind. Sind die Adressaten Jugendliche (bis zu welchem Alter?) oder auch ältere Personen? Dies ist insofern von Bedeutung, da sich die die Traumapädagogik durch ihr pädagogisches Handeln an Kinder und Jugendliche richtet, während sich die Traumaberatung meist auf Erwachsene bezieht. Wäre deshalb eine Erweiterung des Buches als Lehrbuch für die kulturelle Traumapädagogik und Traumaberatung schlüssig? Diskutiert wird nicht die Grenze, bzw. die Schnittfelder zur Traumaberatung, dies wäre auch insofern wichtig, da sich einige Artikel mehr mit der Traumaberatung als der Traumapädagogik beschäftigen.
- Zudem wird auf wichtige psychosoziale Arbeitsfelder in denen sich die Adressat*innen befinden, wie z.B. die Schulsozialarbeit, die Kitas, die offene Jugendhilfe, die Soziale Arbeit in Justizvollzugsanstalten, in der Obdachlosenarbeit oder der stationäre Jugendhilfe nicht eingegangen.
- Nicht zuletzt fehlt mir ein größerer Fokus auf das Soziale. Nur in Bezug auf das Asylverfahren werden die Einflüsse, die über die Familie hinaus gehen, erwähnt.
- Hilfreich wären auch Hinweise für den Umgang mit traumatisierten Personen, die Täter*in werden. Dies ist gerade bei komplex traumatisierten Personen ein bedeutsames, aber auch sehr konfliktreiches Thema (z.B. im stationären Jugendhilfekontext).
- Mir fehlen zudem Reflexionen über die Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Berufsgruppen, die ebenfalls mit diesem Personenkreis konfrontiert sind, z.B. in Frauenhäusern, im Jugendamt oder der Suchtkrankenhilfe.
Fazit
Im Lehrbuch werden wichtige Aspekte der transkulturellen Traumapädagogik erörtert. Den Autor*innen gelingt es den Leser*innen mit diesem Band einen theoretisch fundierten, praxisnahen und nachvollziehbaren Überblick über die theoretischen Grundlagen der „Transkulturellen Traumapädagogik“ zu geben und gleichzeitig hilfreiche Anregungen für den Transfer in die Praxis zu leisten. Hilfreich sind auch die Fallvignetten und die Hinweise zur Selbstreflexion. Neben Traumaberater*innen und Traumatherapeut*innen erhalten auch weitere psychosoziale Fachkräfte wichtige Anregungen für ihre Praxis.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 30.08.2023 zu:
Jan İlhan Kızılhan, Claudia Klett (Hrsg.): Lehrbuch transkulturelle Traumapädagogik. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6899-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31159.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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