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Sabine Zepperitz (Hrsg.): Was braucht der Mensch?

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Theunissen, 05.09.2023

Cover Sabine Zepperitz (Hrsg.): Was braucht der Mensch? ISBN 978-3-456-86158-6

Sabine Zepperitz (Hrsg.): Was braucht der Mensch? Entwicklungsgerechtes Arbeiten in Pädagogik und Therapie bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2022. 274 Seiten. ISBN 978-3-456-86158-6. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 47,90 sFr.

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Thema

Hintergrund aller Beiträge des vorliegenden Herausgeberbandes ist ein entwicklungspsychologischer Ansatz „als Erklärungsmodell für Verhaltensweisen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung“ (Zepperitz, S. 17). Die Bedeutung dieses Ansatzes wird darin gesehen, dass durch die Berücksichtigung des emotionalen Entwicklungsstandes intellektuell beeinträchtigter Personen emotionale Bedürfnisse und individuelle Wünsche besser verstanden und somit pädagogische und therapeutische Interventionen zur Förderung und Unterstützung von Autonomie, Inklusion, sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe passgenauer angeboten werden können. Hierzu wird die „Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik SEED“ zugrunde gelegt. Diese erstreckt sich auf sechs Entwicklungsphasen, (1) „Adaption – ‚Reizverarbeitung und -integration‘“ (Referenzalter bis 6. Lebensmonat), (2) „Sozialisation – ‚Bindung, Entdecken des Körperschemas und der Umwelt‘“ (Referenzalter 7. – 18. Lebensmonat), (3) „Erste Individuation – ‚Ich-Du-Differenzierung, Autonomie-Symbiose-Konflikt‘“ (Referenzalter 19. - 36. Lebensmonat), (4) „Identifikation – ‚Ich-Bildung, Theory of Mind‘“ (Referenzalter 4. – 7. Lebensjahr), (5) „Realitätsbewusstsein – ‚Ich-Differenzierung, logisches Denken‘“ (Referenzalter 8. – 12. Lebensjahr) und (6) „Soziale Individuation – ‚Identitätsentwicklung, abstraktes Denken‘“ (Referenzalter 13. – 17. Lebensjahr), nach denen Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen diagnostisch beurteilt, pädagogisch unterstützt oder auch therapiert werden sollen. 

Das Buch von Sabine Zepperitz ist in einem psychologisch fokussierten Fachverlag erschienen, richtet sich aber nicht nur an psychologisch, diagnostisch oder psychotherapeutisch ausgebildete Fachkräfte, sondern ebenso an pädagogische Unterstützungspersonen sowie an Auszubildende in Psychologie, Pädagogik oder Heilerziehungspflege. Darüber hinaus kann die Schrift auch für zuständige Sozialbehörden, für Leistungs- und sozialpolitische Entscheidungsträger sowie für Eltern behinderter Kinder anregend sein.

Herausgeberin

Sabine Zepperitz ist Diplom-Pädagogin, Systemische Therapeutin und Traumaberaterin. Seit 2010 arbeitet sie am Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin. Sie hat dort im stationären und ambulanten Bereich die pädagogische Leitung. In Zusammenarbeit mit ihrem Team und Tanja Sappok, die viele Jahre als Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie die Leiterin des Berliner Behandlungszentrums war, inzwischen als Professorin für Medizin für Menschen mit Behinderungen an der Universität Bielefeld sowie als Direktorin der Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara, Bielefeld tätig ist, befasst sie sich über klinisch fokussierte Behandlungsformen hinaus vor allem mit pädagogisch-therapeutischen Interventionsmöglichkeiten. Hierzu hat sie sich weithin dem vom Psychiater Anton Dosen (NL) vertretenen „Ansatz der emotionalen Entwicklung“ als Grundlagenkonzept für die pädagogische Unterstützung und Therapie von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder Entwicklungsstörungen verschrieben und eine zielgruppenbezogene Erfassung der emotionalen Entwicklung aufbereitet. Diesbezüglich ist sie eine ausgewiesene Expertin, und zusammen mit T. Sappok wird von ihr derzeit die „Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik SEED“ als grundlegendes Instrument für die diagnostische, pädagogische und therapeutische Arbeit mit intellektuell beeinträchtigten Menschen vertreten.

Entstehungshintergrund

Seit Gründung im Jahr 2000 arbeitet das Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge nach einem entwicklungspsychologischen Ansatz. Da sich im Laufe der Jahre nach Ansicht des im Behandlungszentrum tätigen Teams der Ansatz als hilfreich und praktikabel erwies, entstand die Idee, ihn auf dem Hintergrund des „Schemas der emotionalen Entwicklung“ (SEO) nach A. Dosen (NL) zu einem grundlegenden Konzept für die pädagogische und therapeutische Arbeit mit intellektuell beeinträchtigten Menschen weiterzuentwickeln. Hierzu wurde unter der Regie von T. Sappok die europäische Forschungsgruppe „Network Europeans on Emotional Development“ gegründet, die eine wissenschaftliche Betrachtung des emotionalen Entwicklungsansatzes und Untersuchungen in Hinblick auf seine empirisch vertretbare Anwendbarkeit vornahm. Diese Forschungen führten 2018 zur Veröffentlichung der „Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik“ (SEED). Zugleich waren sie wegbereitend für das Anliegen von T. Sappok und S. Zepperitz, die gewonnen Erkenntnisse und Erfahrungen im Kontext eines Grundlagenkonzepts aufzubereiten und bekannt zu machen. An dieser Stelle knüpft der vorliegende Herausgeberband an, der mit Basiswissen über die Bedeutsamkeit des emotionalen Entwicklungsansatzes und eines „entwicklungsgerechten Arbeitens“ (Zepperitz, S. 18) informieren möchte. Hierzu werden verschiedene Themengebiete aufgegriffen, die für die alltägliche pädagogische und spezielle (heilpädagogisch-therapeutische) Arbeit mit intellektuell beeinträchtigten Menschen als besonders relevant gelten. Die jeweiligen Beiträge stammen von Autorinnen und Autoren, die als pädagogische oder therapeutische Fachkräfte in der Behindertenhilfe oder freiberuflich als Dozentin, Dozent, Supervisorin, Supervisor, Therapeutin, Therapeut, Coach oder Deeskalationstrainer tätig sind und über mehrere Jahre Erfahrungen mit dem entwicklungspsychologischen Ansatz in Hinblick auf die von ihnen bearbeiteten Themen sammeln konnten. 

Aufbau und Inhalt

Das vorliegende Werk ist in vier Teile untergliedert, die sich auf 21 Kapitel (mit jeweils zugeordneter Literatur) beziehen.

Der erste Teil „Theorie und Diagnostik“ (S. 15 – 44) stammt von der Herausgeberin und informiert nach einer kurzen Einführung ins Buchprojekt zunächst über die Bedeutsamkeit des SEED in Hinblick auf Inklusion und Teilhabe sowie zur Ermöglichung von (mehr) Autonomie (insbesondere auch durch das Erkennen von Bedürfnissen und Wünschen von Menschen mit schwersten kognitiven Beeinträchtigungen). Anschließend werden ein „entwicklungsgerechtes Arbeiten als Leitbild der Pädagogik und Therapie“ und der „entwicklungspsychologische Ansatz“ begründet und kurz vorgestellt. Bemerkenswert ist hierzu der Hinweis auf zum Teil große Diskrepanzen zwischen der kognitiven und emotionalen Entwicklung bei intellektuell beeinträchtigten Personen. Derlei Diskrepanzen gilt es vor allem bei der Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten zu beachten. Hierzu können diagnostische Erhebungsinstrumente hilfreich sein, weshalb einige (z.B. das BEP-KI von B. Senckel und U. Luxen) mit wenigen Sätzen aufgegriffen und in Hinblick auf ihre wissenschaftliche Aussagekraft bewertet werden. Dabei schneidet der SEED am besten ab, dessen Aufbau und Entwicklungsphasen übersichtlich beschrieben werden.

Im zweiten Teil „SEED in der Pädagogik“ (S. 47 - 212) werden 11 Themen aufgegriffen, die als pädagogisch relevant betrachtet werden können. Das betrifft Anregungen für ein „entwicklungsgerechtes Arbeiten in der Alltagsbegleitung“ (Sabine Zepperitz), die sich auf die sechs SEED-Phasen bezieht. Ferner wird angesichts des Rechts auf Teilhabe am kulturellen und öffentlichen Leben mit einem „sozialen Kompetenztraining im Internet und in sozialen Medien“ (Lioba Grünfelder) ein bislang vernachlässigtes Thema als modularisiertes Gruppenangebot für intellektuell beeinträchtigte Menschen, die den SEED-Phasen vier bis sechs zugeordnet werden, aufbereitet. Auch im nachfolgenden Beitrag (Maria Schmidt) geht es um ein Gruppenangebot, das als „Training zur Interaktion und Kommunikation“ für intellektuell behinderte Menschen ab der vierten SEED-Phase empfohlen wird. Wie wir uns die entsprechende Durchführung vorstellen können, wird an einem Beispiel praxisnah beschrieben. Ein weiteres Thema erstreckt sich auf „Deeskalation in der Begleitung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung(Michael Heinze), indem das „professionelle Deeskalationsmanagement“ (ProDeMa®) mit den SEED-Phasen zu einem personenzentrierten Interventionskonzept zur Bewältigung emotionaler Krisen verknüpft wird. Darüber hinaus werden Verbindungen zwischen speziellen Themenbereichen wie Sexualität (Mirka Schulz), Trauer und Traurigkeit (Toni Haferburg) und Demenz (Marina Kranich) und den SEED-Phasen hergestellt oder aufgesucht sowie pädagogisch-therapeutische Empfehlungen für die Arbeit mit intellektuell beeinträchtigten Menschen gegeben. Interessant ist in Bezug auf das Thema der Demenz die Orientierung an der Theorie der „Retrogenese“, bei der im Laufe eines demenziellen Prozesses individuelle Entwicklungen beobachtet werden, „die umgekehrt zum Erwerb von Fähigkeiten verlaufen; d.h., dass in der Reihenfolge Fähigkeiten verloren gehen, die Kinder und Jugendliche in einer bestimmten Zeit ihres Heranwachsens erwerben“ (Kranich, S. 165). Vor diesem Hintergrund gewinnt ein „entwicklungsgerechtes Begleiten“ betroffener Personen nach den (üblichen) Demenz- und SEED-Phasen an Bedeutung, wohl wissend, dass der fortscheitende Verlust insbesondere von kognitiven Fähigkeiten (Gedächtnisleistungen) „im Verlauf einer Demenz nicht immer die umgekehrte Reihenfolge des Erwerbs dieser Fähigkeiten während der individuellen Entwicklung wiederholt“ (ebd., 165). Unberücksichtigt bleibt im Beitrag über Demenz ein inzwischen weit verbreiteter entwicklungsorientierter Zugang zum Erleben betroffener Personen über Methoden einer validierenden Assistenz. Ein gleichfalls informatives Kapitel in Bezug auf „entwicklungsgerechtes“ Arbeiten mit intellektuell beeinträchtigten Menschen bezieht sich auf den pädagogischen Umgang mit Traumata und insbesondere mit dissoziativen Anfällen als Traumafolgestörung (Sabine Zepperitz). Diesbezüglich werden einige wesentliche Erkenntnisse, zum Beispiel die Bedeutsamkeit der Unterscheidung epileptischer und psychogener Anfälle, die Bedeutsamkeit eines ‚Sicheren Ortes‘, der pädagogischen Beziehungsgestaltung und Haltung, die Bedeutsamkeit der Vermeidung eines „Täterkontakts“, stresserzeugender und vor allem bekannter traumatischer Situationen (Trigger) sowie die Bedeutsamkeit einer einfühlsamen, haltgebenden und gegebenenfalls deeskalierenden Arbeitsweise, des Respekts vor dem Erwachsensein und einer Psychoedukation beachtet. Der anschließende Beitrag greift die Frage des Umgangs mit den SEED-Phasen bei intellektuell beeinträchtigten und autistischen Menschen auf (Mareike Conty und Sabine Zepperitz). Ausgehend von der traditionellen (klinischen) Sicht auf Autismus als „Entwicklungsstörung“ werden Aspekte genannt, die es beim pädagogischen Arbeiten in den SEED-Phasen mit betroffenen Personen zu beachten gilt. Wir stoßen hier auf Erkenntnisse und Erfahrungen, die uns vor Augen führen, dass die jeweiligen SEED-Items „für den Personenkreis autistischer Menschen teilweise nicht zutreffend oder unpassend formuliert sind“ (Conty und Zepperitz, S. 153). Dies hat verschiedene Gründe, die vor allem autistische Besonderheiten, Entwicklungsdiskrepanzen, individuelle Interessen, emotionale Ambivalenzen und Irregularitäten betreffen, welche zu „inhomogenen“ SEED- bzw. Entwicklungsprofilen führen. Daher stellt sich für die Autorinnen die Frage nach der grundsätzlichen Anwendbarkeit des SEED (in diagnostischer, therapeutischer und pädagogischer Hinsicht) bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Soll er nützliche Informationen zu einem „vollständigeren Bild der Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten bei dieser Personengruppe“ (ebd. 152 f.) liefern, sind auf jeden Fall ein unreflektierter Rückgriff auf die SEED-Entwicklungsphasen sowie reduktionistische Folgerungen und („infantilisierende“) Vorgehensweisen in der Praxis zu vermeiden. „Das einfache Abhaken der Items reicht nicht aus, um zu einer verantwortungsvollen entwicklungspädagogischen Arbeit zu kommen“ (ebd.). Ferner „ist es für eine individuelle Betrachtung unerlässlich, neben den emotionalen Bedürfnissen das kognitive Niveau, die Lebenserfahrungen und die individuellen Vorlieben und Stärken zu berücksichtigen“ (ebd.). Die beiden letzten Kapitel des zweiten Teils berichten vor allem mit Blick auf gemeinschaftliche Wohnformen ‚aus der Praxis für die Praxis‘, indem zum einen das pädagogische Modell der Begleitung von Willem Kleine Schaars (WKS) an den SEED-Phasen orientiert (Sabine Sehmsdorf und Anne Graeske) und zum anderen ein SEED-basiertes „Wohngruppenkonzept für Menschen mit schwerer und schwerster intellektueller Beeinträchtigung“ (Ute Breywisch und Sabine Zepperitz) vorgestellt wird, welches durch detaillierte Anregungen einer Raumgestaltung, Arbeitsorganisation (z.B. Bezugsbetreuungssystem) und entwicklungsorientierten Arbeitsweise imponiert.

Der dritte Teil „SEED in Therapie und Supervision“ (S. 215 – 266) enthält vier Beiträge. Im ersten Kapitel ( (Patricia Albrecht) werden Möglichkeiten einer SEED-basierten Tanz- und Bewegungstherapie aufgezeigt, indem einführend ihre konzeptionelle Bedeutung und Vorgehensweisen (z.B. Technik des Spiegelns) mit Blick auf Stereotypien und Traumatisierungen skizziert und nachfolgend konkrete Vorschläge für die an den SEED-Phasen orientierte therapeutische Praxis aufgegriffen werden. Einem ähnlichen Aufbau begegnen wir im zweiten Beitrag (Thomas Bergmann), der sich mit Musik in Pädagogik und Therapie befasst, auf Möglichkeiten einer entwicklungspsychologischen Musiktherapie eingeht und mit konkreten Praxisempfehlungen in Hinblick auf musikbasierte Interventionen in den SEED-Phasen endet. Das dritte Kapitel bietet Anregungen für eine an den SEED-Phasen orientierte Psychotherapie für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung (Sabine Zepperitz), wobei die Grenzen zwischen Pädagogik, Therapie und Psychotherapie fließend gesehen werden; und im vierten Kapitel werden Möglichkeiten einer SEED-basierten systemischen Supervision (Katrin Herberger) vorgestellt.

Im vierten „Schlussteil“ (S. 269 - 274) wird von S. Zepperitz resümierend der im Buch aufgegriffene Ansatz der emotionalen Entwicklung als ein Grundlagenkonzept für die Arbeit mit intellektuell beeinträchtigten Menschen ausgewiesen. Dieses sollte aber nicht – so die Herausgeberin – „als Konkurrenz zu anderen Konzepten gesehen werden, vielmehr dient es dazu, ein Verständnis emotionaler Bedürfnisse in den unterschiedlichen Bereichen der Pädagogik und Therapie zu entwickeln“ (Zepperitz, S. 269). Um unter anderem eine unreflektierte, naive Übertragung der „kindlichen Entwicklung“ auf Erwachsene zu vermeiden, sei es wichtig, „nie die Sicht auf den Menschen mit all seinen Facetten“ aus dem Blick zu verlieren. „Der Mensch ist immer vor dem Hintergrund seiner individuellen Lebenserfahrung, persönlichen Kompetenzen und Interessen zu sehen. Diese Informationen müssen in die Erstellung individueller Betreuungskonzepte unbedingt einfließen“ (ebd.).

Abgerundet wird das Buch mit einer Danksagung an alle Autorinnen und Autoren, die nachfolgend kurz vorgestellt werden.

Diskussion

Sabine Zepperitz ist es mit ihrem Herausgeberband „Was braucht der Mensch?“ gelungen, grundlegende Aspekte eines entwicklungsorientierten Arbeitens in Pädagogik und Therapie bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen aufgezeigt zu haben. Dabei findet eine Orientierung an den SEED-Entwicklungsphasen statt, die theoretisch begründet werden und den fühlbaren Hintergrund der Praxis bilden. Etwas unglücklich scheint mir die Begriffswahl einiger SEED-Phasen zu sein, wenn zum Beispiel „Sozialisation“ auf ein Referenzalter vom 7. bis 18. Lebensmonat bezogen wird, in der Sozialisationsforschung bzw. in den Sozial- und Erziehungswissenschaften hingegen einen lebenslangen Prozess kennzeichnet. Als wichtig gilt eine reflektierte diagnostische, therapeutische und pädagogische Anwendung des SEED, um eine „Infantilisierung“ Erwachsener mit intellektuellen Beeinträchtigungen zu vermeiden und der gesamten Entwicklung eines Menschen Rechnung tragen zu können. In dem Fall kann ein SEED-basiertes pädagogisches und therapeutisches Arbeiten zur Gewinnung von mehr Handlungskompetenz und zur Verfeinerung von Unterstützungsleistungen beitragen. Hierzu werden Anregungen mit konkreten Tipps geboten, die unterstützt durch zahlreiche, kleine, eingestreute Beispiele aus der Praxis Möglichkeiten eines entwicklungsorientierten Arbeitens recht plastisch vor Augen führen. Viele dieser Empfehlungen, die für eine breite Palette an relevanten Themen und Arbeitsfeldern gelten, betrachte ich allerdings (unabhängig des Alters oder eines attestierten Entwicklungsniveaus) für eine ‚best practice‘ als selbstverständlich (z.B. Ermöglichung und Sicherung eines individuellen „Wohlfühlens“ bzw. „seelischen Wohlbefindens“; „Bildung einer Vertrauensbasis“ durch Herstellung einer positiven, verlässlichen Beziehung bzw. „Bezugsbetreuung“; Unterstützung des Grundbedürfnisses nach Selbstbestimmung, Individualität und Selbstverwirklichung; Unterstützung des Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung). Daher begegnen wir ihnen gleichfalls in anderen (heil-)pädagogischen Konzepten, die sich sowohl auf eine alltägliche Praxis als auch auf den speziellen Umgang mit herausforderndem Verhalten beziehen. Das betrifft zum Beispiel den Ansatz der „entwicklungsfreundlichen Beziehung“ (B. Senkel und U. Luxen), auch wenn dieser in Hinblick auf seine Wirksamkeit noch nicht wissenschaftlich systematisch und tiefgreifend untersucht wurde. Ebenso kann das empirisch gestützte Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung (positive behavioral supports) mit dem von S. Zepperitz beschriebenen Ansatz der emotionalen Entwicklung als kompatibel betrachtet werden. Beide Konzepte fokussieren die Frage nach der Bedeutung herausfordernden Verhaltens, wobei der Rückgriff auf SEED zum Verständnis der emotionalen Entwicklung förderlich sein kann, aber nur im Kontext einer ‚breit‘ angelegten ‚verstehenden Diagnostik‘ (z.B. im Sinne der Positiven Verhaltensunterstützung) aufbereitet werden darf, um einseitige oder verkürzte Schlussfolgerungen zu vermeiden. So sollten zum Beispiel nicht nur (emotionale) Überforderungsmomente, sondern gleichfalls Unterforderungssituationen (v.a. bei intellektueller Beeinträchtigung und Autismus) als Auslöser für Verhaltensauffälligkeiten beachtet werden; und ebenso ist M. Schulz zuzustimmen, wenn sie in ihrem Buchbeitrag über Sexualität und intellektuelle Beeinträchtigung hervorhebt, dass „die Erhebung der SEED-Phasen (…) keine zuverlässigen Rückschlüsse über die sexuellen Bedürfnisse geben (kann). Sie darf nicht zur Folge haben, dass die Sexualität abgesprochen oder verniedlicht wird“ (S. 97).

Eine derart reflektierte Sicht auf SEED ist jedoch nicht allen Buchbeiträgen zu entnehmen, so hätte ich mir zum Beispiel den kritischen Blick auf SEED auch im Rahmen der systemischen Supervision gewünscht. Leider stoßen wir stellenweise auf die Tendenz einer Vernachlässigung des Blicks auf die gesamte menschliche Entwicklung und auf eher enge, statische, zum Teil fragwürdig anmutende Auslegungen des SEED (z.B. in Hinblick auf Referenzalter, Gruppenfähigkeit, Unterscheidung „zwischen Ich und Du“), bei denen eine Störungsperspektive oder Defizitsicht den fühlbaren Hintergrund bildet und individuelle Stärken, Ressourcen oder Interessen als Vehikel für eine ‚best practice‘ zu kurz kommen. Darüber hinaus wirken einige Beiträge recht euphemistisch und im Umgang mit schwerwiegendem herausforderndem Verhalten praxisfern, wenn vor allem ungünstige Rahmenbedingungen (z.B. Leben in zu großen Gruppen mit wenig Personal), konkrete Alltagssituationen, ‚führungsresistente‘ Verhaltensweisen sowie Fragen der konzeptionellen Umsetzung (z.B. wenn sich jemand dem Körperkontakt oder den Empfehlungen zur Deeskalation verweigert, trotz eines SEED-basierten Arbeitens massive Verhaltensauffälligkeiten zeigt) übergangen sowie kein hinreichender Transfer in die alltägliche ‚Realität‘, zum Beispiel des Gruppenwohnens, geleistet wird. In dem Fall ist ein Gesamtkonzept erforderlich, das sich einer ‚ganzheitlichen Sichtweise‘ (v.a. Lebensgeschichte und dem reziproken Verhältnis von Mensch und Lebenswelten) zu verschreiben hat, bei der die SEED-Orientierung ein ‚Baustein‘ unter mehreren Konzeptbausteinen sein kann. Damit wird zugleich die Gefahr vermieden, den SEED in seiner Reichweite zu überschätzen oder gar absolut zu setzen.

Fazit

Die Herausgeberschrift von Sabine Zepperitz ist ohne Frage ein wichtiges Nachschlagewerk für alle Unterstützungspersonen intellektuell beeinträchtigter Menschen sowie für Studierende der klinischen Psychologie, Heil- oder Sozialpädagogik oder Schüler*innen der Heilerziehungspflege, die sich über ein entwicklungsgerechtes Arbeiten informieren möchten. Das Buch ist systematisch angelegt, übersichtlich gegliedert und durch eingestreute Illustrationen und Praxisbeispiele sowie durch überschaubare, zumeist mit pädagogischen und therapeutischen Empfehlungen abgerundete Beiträge leicht zugänglich, dadurch können sich pädagogische und therapeutische Unterstützungspersonen, die nach Anregungen für die Praxis und Handlungsmöglichkeiten suchen, gut zurechtfinden. Alles in allem kann die Schrift hilfreich sein, wenn sie mit dem notwendigen Maß an kritisch-konstruktiver Reflexion und Distanz gelesen wird.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Theunissen
Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (i. R.)
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Es gibt 4 Rezensionen von Georg Theunissen.

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Zitiervorschlag
Georg Theunissen. Rezension vom 05.09.2023 zu: Sabine Zepperitz (Hrsg.): Was braucht der Mensch? Entwicklungsgerechtes Arbeiten in Pädagogik und Therapie bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-456-86158-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31161.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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