Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth u.a. (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 07.09.2023

Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth, Giovanni Maio, Urban Wiesing, Nelly (Sonstige) Tsouyopoulos (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1. Darstellung und Interpretation : Gesundheit und Krankheit in Leib und Seele, Natur und Kultur.
Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog
(Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023.
601 Seiten.
ISBN 978-3-7728-2951-2.
D: 88,00 EUR,
A: 90,50 EUR.
Reihe: Medizin und Philosophie / Medicine and Philosophy - MPh 17,1.
Thema
Die Aufgabe dieses Werks gilt der medizin- und wissenschaftshistorischen Gesamtdarstellung romantischer Ärzte und Naturphilosophen in ihren vielfältigen Wechselbeziehungen. Kritisch loslösen möchte es sich von „fachdisziplinären und normativen Verkürzungen, die meist aus der erfolgreichen wissenschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts übernommen werden“ (S. 5). Entsprechend weit wartet das inhaltliche Spektrum auf. Romantische Medizin und Naturwissenschaft sind nicht auf ein monothematisches Feld restringiert, sondern es ist Platz gelassen für Variationen, was interdisziplinäre Forschungsdesiderate eröffnet und perspektiviert.
So finden sich eine Untersuchung über den Zusammenhang von Biografie und Werk, Persönlichkeit und Wissenschaft verschiedener bekannter und weniger bekannter Protagonisten jener Zeit. Letztere werden nicht bloß vorgestellt, sondern erfahren eine sozial-, kultur- wie philosophiegeschichtliche Einbettung. Der „Medizin-philosophische Dialog“ (S. 28) der Romantiker und des Deutschen Idealismus kann in diesem Sinne exemplarisch als Versuch gedeutet werden, Krankheit in ihren verschiedenen Dimensionen begreifbar zu machen: so setze sich die Medizin und „Anthropologie des Krankseins“ (S. 49) aus unterschiedlichen Ebenen und inneren Zusammenhängen zusammen, was u.a. an den programmatischen Leitlinien der Biografie, Medizinhistoriografie und Pathografie vorgestellt wird.
Die Darstellung hält sich an die kurzlebige „besondere Geltung der romantischen Medizin und Naturwissenschaft“. Das schließt ein, den Untersuchungszeitraum vom Ende der 1790er-Jahre bis in die 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts (vgl. S. 6). Das hier besprochene Werk ist der erste Teil einer vierbändigen Gesamtausgabe und lässt sich als konzeptioneller Aufschlag wie integrative Klammer der nachfolgenden Teilbände lesen. Laut Bekundungen des Verfassers basiere das Gesamtwerk auf eigene Forschungen der vergangenen 50 Jahre.
Dietrich von Engelhardt (*1941) ist aktuell einer der führenden Forscher auf dem interdisziplinären Gebiet der Theorie und Geschichte der Medizin und medizinischen Ethik. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Naturphilosophie und Medizin, aber auch Aspekte der Wissenschaftsgeschichte (wie die Historisierung der Natur und Geschichte der Naturwissenschaft) fließen in das Interessengebiet ein. Dabei erstreckt sich seine Forschung nicht nur auf den hier beschränkten zeit- und ideengeschichtlichen Rahmen der Aufklärung, Romantik und des Deutschen Idealismus, sondern greift aus in die Anfänge der Neuzeit und Moderne.
Aufbau und Inhalt
Beginnend mit einer Einführung (S. 1–9), gliedert sich das Werk in insgesamt sechs Kapitel. Bevor die romantische Medizin thematisiert wird, richtet sich der Blick auf ihre „historischen Voraussetzungen“ und „philosophische[n] Hintergründe“ (Kapitel II). Das Augenmerk gilt hier der Epoche der Aufklärung und wie diese in medizinphilosophische Grundsatzfragen situiert. Während es in der gesamten Geschichte der Medizin in der Neuzeit zu eingehenden Beziehungen zur Philosophie komme, seien die Ärzte des 18. Jahrhunderts „erfüllt von einer Wissenschaftszuversicht, einem tiefen Glauben an die Natur, an den Fortschritt und die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit“ (S. 13). Ausgehend von René Descartes stünde in deren Zentrum zunehmend ein „philosophischer Positivismus“, der sich abgrenzt von Theologie (S. 14), Scholastik (S. 18) sowie „‚metaphysische und erste Ursachen‘“ (Johann Peter Eberhard, S. 20), um auf eine „mechanisch-physikalische Interpretation physiologischer und pathologischer Erscheinungen“ zu fokussieren (S. 15).
Für die Mediziner grundlegend sei zudem eine „empirisch-sensualistische“ Tradition, die Anschluss suche an Bacon, Hobbes, Gassendi, Locke, Hume und Condillac (S. 21). In diesem philosophischen Fahrwasser stehend, wird der Mediziner Melchior Adam Weikard „die physische[n] und geistige[n] Bedingungen“ erörtern, „die für den medizinischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit wesentlich sein sollen“ (S. 22). Auch Johann Georg Zimmermann knüpft daran an, grenzt sich aber ab vom Denken der Empiriker und macht die Verbindung stark zwischen Philosophie und Medizin, Vernunft und Erfahrung. Wurde damit verwiesen auf die notwendige „Kenntnis und Analyse der Verstandesbegriffe“ (S. 25), so heißt das allerdings nicht, dass Philosophie und Medizin eine verbindende Synthese eingingen, sondern eher im Gegenteil, das Verhältnis zwischen beiden Seiten stellte sich für die naturwissenschaftlich geschulten Aufklärer zunehmend problematisch dar, was „von der Philosophie unabhängigen philosophischen Reflexionen innerhalb der Medizin“ zeugt (S. 26).
Auch Kant beteiligt sich am „Medizin-philosophische[n] Dialog“. Einerseits gebeutelt durch eigene Krankheiten, andererseits sich über eigene Beiträge äußernd, greift er zugleich am hauseigenen Tische ein in die Debatte um „Diätetik“. Diese entspräche „der Aufklärung im Sinne Kants Definition der Selbstverantwortung“. Philosophieren könne in diätetischer Perspektive „zur Lebenssteigerung beitragen, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ“ (S. 39). Nach Kant sei es der Zusammenhang von Körper und Geist der für eine „Kooperation von Medizin und Philosophie [spricht]“. Dementsprechend erlaubt sich die Philosophie urteilen zu dürfen nicht nur über den Sitz der Seele, sondern auch über Fragen von „Geisteskrankheit“ (vgl. S. 42 ff.). In diesem Sinne ließe sich der Dialog von Philosophie und Medizin dahin gehend charakterisieren, als dass beide Disziplinen der jeweils anderen ihre eigenen Grenzen aufzeigen (vgl. S. 48).
Eine Erweiterung erfährt der Diskussionsstand mit der Naturphilosophie Schellings und Hegels. Bei Schelling, der die Naturphilosophie als „‚speculative Physik‘“ begriff (S. 54), wird Krankheit um weitere Dimensionen ergänzt. Kranksein bezog sich nicht mehr nur auf die eigene oder fremde Gesundheit. Auch die soziale und kulturelle Wirklichkeit konnte von Krankheit befallen sein (S. 48 f.). Zentral war ihm der Organismus-Begriff, mit dem er Gesundheit und Krankheit in einen allgemeinen Naturzusammenhang setzte. Über „Erregbarkeit“, die als „synthetischer Begriff“ die „Verbindung von Sensibilität und Irritabilität“ einschließt (S. 55), konnte der Organismus mit Natur interagieren, ja selbst als etwas Naturhaftes verstanden werden.
Nach v. Engelhardt entwickelte Schelling „einen metaphysischen Krankheits- und Therapiebegriff“, eine strikte Unterscheidung von Pathologie und Physiologie sei grundsätzlich nicht vorgesehen, „Krankheit ist Lebenserscheinung wie Gesundheit, sie wird durch dieselben Ursachen hervorgerufen“ (S. 57). Von der Bezeichnung „Seelenkrankheiten“ hielt er nicht viel, stattdessen steckt der Wahnsinn bereits im Verstand. Es mache also keinen Sinn von einer Krankheitsentstehung zu reden, vielmehr könne nur von einem „‚Hervortreten‘ die Rede sein“. „‚Was wir Verstand nennen‘“, so zitiert v. Engelhardt Schelling an einer berüchtigten Stelle, „‚ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn‘“ (S. 59.). Auch Hegel habe naturwissenschaftliche wie medizinische Diskussionen zur Kenntnis genommen und in seine Naturphilosophie zu integrieren versucht (S. 65). Bei ihm, viel expliziter noch als bei seinem idealistischen Kontrahenten, kommen Bezüge zur gesellschaftlichen Realität zum Tragen. Im Begriff der Krankheit existiere eine „‚Disproportion seines Seyns und seines Selbsts‘“ (S. 67), was ein Krankheitsverständnis impliziert, dass „die Struktur der Wirklichkeit in einer spezifischen Klarheit hervortreten [lässt], oft mehr als im gesunden Zustand“ (S. 68).
Bei Hegel findet sich ebenso eine „Typologie der Krankheiten“ (vgl. S. 73–77). Auch Überlegungen zu „Stadien des Krankheitsverlaufes“, zur Therapie und „Krankheit und Tod“ tauchen auf (vgl. S. 77–83). Allein durch die eigene Biografie gerät Hegel bereits in Auseinandersetzung mit Krankheitsbildern und versucht sich auf Grundlage seiner Philosophie darauf, einen Reim zu machen. Nicht bloß Hölderlin, auch seine Schwester Christiane Luise litt an Depressionen („‚melancholischer Wahnsinn‘“) und wird schließlich Suizid begehen (S. 85f). Affiziert von dem ebenfalls depressiv erkrankten Briefpartner, Arzt und Philosophen Carl Joseph Windischmann, entwarf laut v. Engelhardt Hegel „ein bislang weder beachtetes noch in der Praxis aufgegriffenes philosophisches Konzept einer geistigen Psychotherapie“ (S. 87).
Es nimmt also nicht wunder, wenn die romantische Medizin durch Schelling und Hegel beeinflusst worden ist. In Kapitel III werden die „Grundzüge der Medizin im Zeitalter der Romantik“ dargestellt. Betont wird, dass für diese zentral gewesen sei „die Prinzipien der Identität von Natur und Geist, Einheit der Natur, Dominanz des Organismus“ sowie die „Verbindung von Natur und Kultur“ (S. 89). Ist das Themenspektrum auch sehr vielgestaltig, so zieht sich die ganzheitliche Betrachtung der zur Disposition stehenden Phänomene durch die gesamte Romantik. Besonders fasziniert seien manche Autoren insbesondere von der Analogie (S. 93) – oder, wie Herder, vom Parallelisieren (vgl. S. 121) –, während die „Dominanz des Organischen“ (S. 94) seinen Einfluss auf das romantische Geschichtsverständnis geltend macht. Man glaubt sich der „aufklärerischen Pragmatik“ „konkretere[r] Lebensregeln oder spezifische[r] Anweisungen für das politische Handeln“ überwunden und sieht die Geschichte eher als ein „universales Prinzip“, in dem, nach Henrik Steffens, die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Lebens identifiziert wird „‚mit dem Bildungstriebe der Natur‘“ (97 f.). Damit würden aber keineswegs soziale Faktoren aus dem romantischen Denkrahmen ausgeklammert, sondern diese vielmehr über die verhandelten Begriffe und Begriffspaare wie „Vererbung, äußere Einflüsse, schlechte Erziehung“ etc. integriert in ein Konzept, das Physik und Metaphysik miteinander verbindet, was v. Engelhardt an Autoren wie Karl Wilhelm Ideler und Carl Gustav Carus exemplifiziert (S. 109). Als Therapieform gilt den Romantikern ein ganzheitlicher Ansatz, der die physikalische Therapie kombiniert mit „moralische[r] Behandlung“, was Psychotherapie wie Sozialtherapie gleichermaßen beinhaltet (S. 113). Damit richte sich die Therapie des Kranken nicht nur auf den einzelnen Patienten, sondern gelte zugleich „für die Gesellschaft, die Menschheit“: „Geschichte heißt Wiederherstellung der im historischen Verlauf zerfallenen individuell-kosmischen Einheit des Menschen zu einer ursprünglichen Gesundheit (…)“ (S. 117). Diese Programmatik zielt letztlich auf eine „Naturalisierung des Menschen und Spiritualisierung der Natur“, um gegen Ausbeutung, „seelische Verkümmerung“ oder die „materialistische Verarmung der Gesellschaft“ zu opponieren“ (S. 129/131).
Erschlossen wird dieser Punkt in der Folge über die Autobiographien romantischer Naturforscher (S. 137 ff.), woran sich anschließt eine breitere Einlassung zur „Historiographie der Medizin“ (S. 155 ff.). Damit ist gemeint eine historische Introspektion der romantischen Mediziner und Philosophen mit Blick auf ihr eigenes Treiben. Es bildet sich ein Geschichtsverständnis aus, das die Entwicklung und Genese der Medizin als „sukzessive Realisierung(…) eines ideellen Systems“ betrachtet (S. 162; vgl. S. 168). Romantische Medizingeschichte versteht sich als „Ursprung des Kommenden“ (S. 169) und bezieht in ihre geschichtlichen Überlegungen stets ein Fragen der Pathografie (S. 173 ff.), ein Ausdruck, der erst später vom Mediziner Paul Julius Möbius um 1900 geprägt worden sei (S. 174) und den Zusammenhang von Leben und Krankheit diskutiert, wobei Leben weit gefasst wird und ganz allgemein die Produktivität in verschiedenen Bereichen einschließt (vgl. S. 177). Möglich ist damit (Carus Verhältnis zu Goethe wird hier herangezogen) die medizinische Diagnose aus der Entfernung, ohne unmittelbaren Arztkontakt (vgl. S. 206, siehe Diskussion unten). Dennoch bleibt die Arzt-Patienten-Beziehung ein wichtiges Standbein. Das gilt vor allem für die um 1800 in Europa angestoßenen Reformen der psychiatrischen Versorgung und Therapie. Johann Christian Reil legt seiner Idee von Psychotherapie das vitalistische Konzept der „Lebenskraft“ zu Grunde und „verwirft alle mechanischen Interpretationen der organischen Natur“ (S. 211). Stattdessen setzt er den Arzt als „‚moralisches Wesen‘“ ein, das auf ein anderes „‚der nemlichen Art‘“ einzuwirken habe (S. 216).
Daran schließt sich ein Selbstverständnis der romantischen Mediziner an, die über ihren eigenen Fächerkanon hinaus verstehend Einfluss nehmen wollen, nicht nur auf äußerliche Natur. Zugleich möchten sie über Bildung die Natur des Menschen und die Gesellschaft praktisch verändern (vgl. S. 235). Mediziner und Naturforscher bemühen sich also um ein Verständnis der Wechselwirkung von Gesellschaft auf menschliche Natur und umgekehrt, mischen sich bspw. über Henrik Steffens aktiv ein in Überlegungen zur Reform der Universitäten (vgl. S. 243). Dabei steht der Versuch im Raum, eine „Integration des Naturwissens in den Bildungsbegriff“ zu veranschlagen, verbunden mit dem Ziel einer „Vermittlung von Natur und Geschichte als Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen“ (S. 245). Das wird konturiert durch (von der bisherigen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte eher unterbelichtete) Reiseberichte von Heinrich von Schubert (vgl. S. 253 ff.) und Carl Gustav Carus (Reise nach Italien, vgl. S. 272 ff.). An letzterem lässt sich ablesen eine „ganzheitliche Integration von Natur, Leben, Wissenschaft und Kultur“ als „einmaliges Zeugnis der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (S. 301). Trotz dieser Einheitsanstrengungen sei allerdings in der nachfolgenden Zeit der „naturwissenschaftlich-geisteswissenschaftliche Bildungsbegriff (…) relativ erfolglos geblieben“ (S. 236).
Kapitel IV („Dialog mit Vergangenheit und Gegenwart“) beginnt mit einer Darstellung und (zeitgenössischen) Deutung des Mediziners Paracelsus (vgl. S. 306–336) und diskutiert im Anschluss daran die ebenfalls integrative Sichtweise des Mesmerismus, der durch die Vorstellung eines „‚magnetische[n] Fluidum[s]‘“ zu charakterisieren ist, sich aber von den Romantikern insofern abgrenzt, als der dort zugrunde gelegte „animalische Magnetismus“ auf stoffliche bzw. materielle und weniger metaphysische oder ideelle Zusammenhänge rekurriert (S. 350). In den medizinhistorischen Kontext eingeordnet wird auch Novalis und zwar „als produktiver Reflex der zeitgenössischen Medizin und Ausdruck (…) ihrer ästhetisch-philosophischen Potentialität“ (S. 360). Davon zeugt nicht bloß die Tatsache, dass dieser in Besitz zahlreicher einschlägiger medizinischer Literatur war. Von ihm existieren Einlassungen zur Pathologie wie Therapie oder dem Verhältnis Arzt-Patient, ohne den Blick zu verengen auf eine Vereinseitigung von Krankheitsursachen. Festgehalten wird stets die Kompliziertheit der pathologischen Erscheinungsformen, die rückgeführt werden auf das Zusammenspiel von Seele, Körper und Körpersäften (vgl. S. 365).
In daran anschließenden Teilkapiteln macht v. Engelhardt darauf aufmerksam, dass mit Goethe und Alexander v. Humboldt zwei weitere Exponenten sich im Dialog befanden mit romantischen Naturforschern und Medizinern. Aus Goethes Schriften ließe sich die Lektüre romantisch-medizinischer Texte nachvollziehen, womit ein weiterer Referenzpunkt für seine eigenen Naturforschungen sichtbar würde (vgl. S. 381), während umgekehrt romantische Naturforscher und Ärzte sich ihrerseits bei den Studien Goethes bedienen. Genannt werden hier, neben den bereits erwähnten Carus und Windischmann, Joachim Dietrich Brandis sowie Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (S. 383).
Goethe selbst rückt auch darum in die Nähe romantischer Naturforschung, weil er, eben wie diese, Distanz wahrte zu einer „spekulativen oder absoluten Vernunft“ (S. 387), ja einer idealistischen Philosophie überhaupt. Seine naturwissenschaftlichen Studien weisen ihn aber ebenso aus als jemanden, der eine Skepsis besitzt gegenüber der „‚Nachtseite der Naturwissenschaft‘“, was meint romantische Tendenzen zur Mythologie und Religion oder dem Unbewussten (S. 389). Goethes Verhältnis zur Romantik ist also mindestens ambivalent und daher nicht auf einen Nenner zu bringen. Dessen ungeachtet, wird sich der Diskurs im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts um Romantik immer weniger der Vielschichtigkeit dieser Denkbewegung bewusst, der Begriff verkomme zunehmend zu einem „allgemein herabsetzenden Schlagwort“ (S. 398). Das gilt allerdings nicht für Humboldt, der romantische und empirische Naturforschung miteinander zusammendenkt, was v. Engelhardt u.a. an der oft rezitierten Studie „Kosmos“ darlegt (vgl. S. 410). Jener sei vom Dualismus von Geist und Natur wenig überzeugt, das Verhältnis von Physischem und Intellektuellem dürfe nicht auf die „‚Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten‘“ reduziert werden (S. 418).
Mit Madame de Staël und ihrer Rezeption der Medizin und romantischen Naturforschung (S. 422–443) ist indes auf das inhaltliche Schlusskapitel (V.) verwiesen. Entlang von Rezensionen und Besprechungen in den „‚Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur‘“ und den „‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘“ zeichnet v. Engelhardt nach, inwieweit in einem Wechselgeflecht von „Abbruch“ und „Resonanz“ die Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zunehmend abbricht (S. 445). Er unterscheidet dabei mehrere Phasen, in denen nicht nur Kritik an den empirischen Naturwissenschaften und der „gängigen materialistisch-mechanischen Behandlung“ (S. 457) geübt wird: Die romantischen Autoren untereinander gehen sich gleichfalls an. Der Vorwurf bezüglich eines „Formalismus“ oder der „Abstraktheit“ zirkuliert auch innerhalb des medizin-romantischen Denkens vgl. (S. 454). Dazu gesellen sich radikalere Stimmen, die die „‚Schwärmereyen Schellings und seiner Schule‘“ ablehnen. Ein der Philosophiegeschichte nicht ganz unbekannter Autor wie Friedrich Heinrich Jacobi äußert gegenüber seinem Briefpartner Friedrich Fries gar die Erwartung, dass dieser sich vom „‚Schelling’schen Terrorismus‘“ nicht abschrecken lasse, sondern „‚die Wespen schwefeln werde, wie es sich gehört‘“ (S. 462). Überwiegend nun wird die romantische Medizin unmittelbar mit „spiritistisch-mystischen Neigungen“ (S. 484) identifiziert. In den Besprechungen der „‚Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‘“ ginge dann zunehmend das Interesse an Naturphilosophie sowie philosophische Orientierung zurück und werden verdrängt durch empirisch-positivistische Ansätze (S. 493).
Zwischen Physik und Metaphysik bewegen sich Johannes Müller und der deutsch-tschechische Mediziner Jan Evangelista Purkyně, die beide den Ausklang der idealistischen wie romantischen Naturphilosophie und -forschung repräsentieren (S. 529). Letzterer erfährt eine Würdigung trotz zurückhaltender Äußerungen Hegels über dessen „‚subjektive Grübeleien‘“ innerhalb seiner sinnesphysiologischen Studien (S. 518). Zentral seien für diesen die Sinne: nicht nur als „Verbindung von Materie und Bewusstsein“, sondern „in ihnen liegt die Bedingung für die Universalität des Prinzips des Geistes“ (S. 526 f.). Ein letztes Mal soll die anorganische und organische Natur integriert werden: in einen „individuellen Totalorganismus“. Nicht erst der Mensch, bereits die Erde wird verstanden als „‚psychisch-geistiges Individuum‘“ (S. 527). Im VI. Kapitel zieht v. Engelhardt auf zwei Seiten pointiert Bilanz, formuliert weitere Forschungsdesiderate und konstatiert, dass die Nachwirkungen der romantischen Medizin und des Deutschen Idealismus als Herausforderungen bis in die Gegenwart fortwirken, worunter beispielsweise die „Verantwortung des Menschen für die Natur“, der gemeinsame Dialog von Natur-, Geisteswissenschaft und Künste oder das „ganzheitliche Verständnis von Gesundheit und Krankheit (…)“ zu fassen ist (S. 532).
Diskussion
Die Philosophie der Medizin und ihrer Geschichte sei „‚ein ganz ungeheures und noch ganz unbearbeitetes Feld‘“, so eine Notiz von Novalis (S. 173). Zu diesem Zeitpunkt war die ideengeschichtliche Epoche der Früh- und beginnenden Spätaufklärung bereits reich an unzähligen Querverbindungen, die von der Philosophie in die Medizin und umgekehrt hineinreichten. Mit einem dezidiert antimetaphysischen Kurs, der sich abzugrenzen versuchte gegenüber scholastischem wie nominalistischem Denken, wurde das Verhältnis von Theorie und Praxis neu ausgelotet und zwar insofern, als der wechselseitige Einfluss des Physischen und des Geistig-Moralischen sowie dessen Gründe unter genauer Beobachtung gestellt wurde. Beinahe zeitgleich mit Melchior Adam Weikard (s.o.) werden durch Jean Paul Marat programmatische Überlegungen angestoßen, die die Notwendigkeit begründen, Medizin und Philosophie integrativ zusammenzuführen. Angezeigt war dieser Zusammenschluss, da die Medizin alles aus dem Physischen sich zu erklären hoffte, wie umgekehrt die Philosophie alles aus dem Geist, sodass am Ende nicht ganz klar war, wer oder was denn nun eigentlich krank sei, die Seele oder der Körper. Deshalb brauchte es nach Marat ein wechselseitiges Korrektiv, da überdies die Erkenntnisse ansonsten auseinanderliefen und sich gegenüber verselbständigen würden. Auf der einen Seite machte er den Philosophen den Vorwurf, sie würden schlicht das, was sie nicht kennen, bloß definieren. Zur Natur des Menschen sei so nicht vorzudringen. Auf der anderen Seite wussten Ärzte wie Marcus Herz, dass sie ohne Philosophie und Erkenntnistheorie nicht imstande waren, sich einen Reim zu machen auf die Ursachen psychischer Krankheiten und ihrer möglichen Linderung oder Heilung. Die Mediziner bedurften also der Philosophie, denn sie sahen sich Problemstellungen gegenüber, die sich auf dem Boden ihrer medizinischen Kenntnis allein nicht lösen ließen. Diderot ging – umgekehrt – schließlich so weit zu behaupten, dass nur derjenige über Metaphysik schreiben dürfe, der sich vorher lange Zeit mit Medizin beschäftigt habe; er allein sei es, „der die Phänomene gesehen hat: die Maschine ruhig oder aufgebracht, schwach oder kräftig, gesund oder zerbrochen, durcheinander oder in Ordnung, nacheinander dumm, aufgeklärt, stupid, erregt, stumm, lethargisch, handelnd, lebend und tot“.
Was hier nun an der Schwelle zum 19. Jahrhundert von Novalis als Desiderat notiert wird, führt unweigerlich zu der Frage, ob die philosophierende Medizin sowie ihr romantischer Ableger das Recht auf eine eigenständige Geschichte beanspruchen dürfen oder ob sie nur eine zufällige Erscheinungsform abgeben, die mit dem Durchsetzen eines naturwissenschaftlich-positivistischen Denkens (s.o.) aus der – auch – Wissenschaftsgeschichte unerkannt verschwindet. Um dem auf die Spur zu kommen, wäre zunächst auszufalten, inwieweit das hier besprochene Werk den Medizinern im Subtext nicht doch eine wissenschaftsgeschichtliche Erzählung und Logik unterlegt, was zunächst quer zur eigentlichen Intention des Autors stehen mag, die ja eine interdisziplinäre Öffnung anregt und eben nicht auf ein Monothema restringieren will. Eine „einheitliche Bewegung“ innerhalb der romantischen Naturforschung und Medizin sei nicht vorhanden, „unterschiedliche Naturbegriffe und Wissenschaftsvorstellungen existieren nebeneinander“. Abgetrennt und zugleich verbunden durch ein Semikolon fährt der Satz zum nächsten fort: „abweichende konzeptionelle wie biographische Antworten werden auf die letztlich siegreiche Entwicklung der empirisch-positivistischen Naturwissenschaft gegeben“ (S. 3). Das Wörtchen „siegreich“ macht verdächtig. Sind die romantischen Ärzte dadurch nicht in ein geschichtliches Verhältnis gesetzt zu einer späteren Entwicklungsphase, die sich für die (nicht nur naturwissenschaftliche) Wissensproduktion als maßgeblich etabliert hatte? Damit wäre ein entwicklungsgeschichtlicher Referenzpunkt eingepflockt, auf den das romantische Denken bezogen wird. Man muss dies nicht unmittelbar den zeitgenössischen Autoren anlasten: Wir befinden uns hier zunächst auf der darstellungslogischen Ebene, die sich freilich nicht unabhängig vom vorgetragenen Inhalt denken lässt, und über die – so der Diskussionsvorschlag – am Ende doch der Romantik und dem Deutschen Idealismus post festum eine Tendenz zur geschichtslogischen Vereinheitlichung unterlegt wird. Dass, wenn auch inhaltlich sicher berechtigt und gut begründbar, mit einer gewissen Redundanz das Einheitsdenken der Romantiker herausgearbeitet ist, erweckt den Eindruck einer dualistischen Geschichtsdeutung, die unter einer historisch unverdächtigen Typisierung von Geschichte als „Wandel und Dauer“ (S. IX) ihre Eigenberechtigung von einem zukünftigen Ergebnis empfängt. Der Positivismus ist das wissenschaftslogische Fanal, auf den die Romantik, trotz aller Widerstände, hinausläuft. Und hier steckt der Teufel im Detail: wenn v. Engelhardt ausruft, man könne die „Sozialgeschichte der Naturwissenschaften“ ohne „Kooperation“ und „Interdisziplinarität“ als auch alleine intellektuell nicht bewältigen (S. 226), so ist das im Rahmen einer vierbändigen Gesamtausgabe in erster Linie sicherlich als ein Forschungs- und Arbeitsprogramm zu verstehen. Weniger Resümee eines aktiven und beeindruckenden Forscherlebens als vielmehr Auftakt zu neuer Erkenntnisproduktion spricht daraus. Doch immanent tut sich mehr auf. Denn hier liegt in Anlehnung an die Romantik vielleicht selbst ein Wissenschaftsverständnis vor das nicht frei ist vom hier kritisierten positivistischen Denken. Denn wie anders als ‚positivistisch‘ ließe sich denn die Verknüpfung von den vielen verschiedenen Forschungsdesideraten und Fachdisziplinen bewerkstelligen? Wie ließe sich das vielgestaltige Bedeutungsprofil der Romantik anders (und neu) aktualisieren, als das vorher Getrennte zu einer zusammenhanglosen Vielheit zusammenzubinden? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, denn der Begriff der Verknüpfung bleibt unbestimmt. Und er bleibt es deshalb, weil die Reflexion auf einen anderen Begriff unterbleibt: den der kapitalistischen Arbeitsteilung. Indem v. Engelhardt sich positiv dem Einheitsdenken der Romantik zuwendet, übernimmt er in diesem speziellen Fall auch ihre Unbedachtheit. Auch bei den ‚Romantikern‘ bleibt die kapitalistisch vermittelte Arbeitsteilung, die sich im deutschsprachigen Wirtschaftsraum anfing durchzusetzen, weitestgehend unreflektiert. Ihr instinktiver Drang zum Objektiven, zu einer Integration ihrer Kenntnisse zu einem Gesamtbild, musste theoretisch daher zahnlos bleiben gegenüber einer naturwissenschaftlichen Ausdifferenzierung und Spezifizierung, die sich nahtlos in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess einbinden ließ und von dort ihre Funktion erhielt. Insofern steckt in den philosophierenden Ärzten der Romantik etwas Anachronistisches. Spätere Versuche von z.B. Ernst Haeckel, das einheitsstiftende Denken in einen kosmologischen Monismus hinüberzuretten, dessen „Genesis in ziellosen Prozessen“ (Karl Heinz Haag) einer Weltgesetzlichkeit sich erschöpfte, scheiterten nicht zufällig.
Interessant ist: als die romantische wie idealistische Hochphase ihr Ende erreicht hatte, tauchen Versuche auf, die Arbeitsteilung als objektive Bedingung mit in das Verhältnis von Natur und Mensch, Körper und Seele, Menschen- und Naturgeschichte zu integrieren – auch von medizinischer Seite aus. Der leider etwas in Vergessenheit geratene Arzt Roland Daniels wird in einem Brief an Marx vom 08. Februar 1851 sein programmatischen „Entwurf einer physiologischen Anthropologie“ zu verstehen geben als „Kritik der Medizin und gleichzeitig der gegenwärtigen Lebenseinflüsse“. Gemeint war, die Berücksichtigung und Auslotung der Beziehung von Erkenntniskritik auf gesellschaftliche Verhältnisse bzw. Institutionen. Eine physiologische Rückbindung an die „jedesmalige Art der Produktion der materiellen Lebensbedürfnisse“. Gleichwohl Daniels aus verschiedenen Gründen sich nicht zu wesentlichen gesellschaftstheoretischen Einsichten durchringen konnte, gilt seine Perspektive einer Verschiebung auf das Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum. Blieb dieses Ansinnen in der Durchführung stets auf Physiologie limitiert, indem „das Assimilationsumfeld des menschlichen Organismus zum einzig verläßlichen Bezugspunkt für die Erklärung menschlichen Handelns avanciert[e]“ (Reinhard Mocek), begibt sich die Medizin (erneut) auf Pfaden des Materialismus oder präziser: ihre Analysen werden zum Ausdruck materieller Prozesse der sozialen Wirklichkeit. Angedeutet ist damit, dass Fragen von (gesellschaftlich vermittelter) Materie durchaus eine wichtige Rolle gespielt haben innerhalb der Geschichte der Medizin und ihren philosophischen Ansprüchen. Das betrifft nicht nur das für die medizinischen Aufklärer immer wieder reflektierte Verhältnis von Geist und Materie, von Bedingendem und Bedingtem, bei dem ein „unverrechenbarer Rest“ übrigblieb (Alfred Schmidt). Immer wieder tauchen selbst bei den ‚romantischen‘ Medizinern aufwendige und zum größten Teil polemische Abhandlungen auf, die sich ganz unmittelbar auf materialistische Zusammenhänge beziehen, meist in der Hoffnung, final ‚dem‘ Materialismus den Garaus zu machen, d.h. diesen endgültig aus der Ideengeschichte zu liquidieren. Zu diesen Versuchen gehören Autoren, die auch bei v. Engelhardt Erwähnung finden: Heinroth, der in seiner Schrift „Ueber die Hypothese der Materie und ihren Einfluss auf Wissenschaft und Leben“ zum großen Schlag gegen materialistisches Denken ausholt, Ärztekollegen und Physiologen im denunziatorischen Ton als ‚Materialisten‘ herabsetzt; oder Philipp Karl Hartmann, der in einer weitschweifigen Monografie zur „Physiologie des Denkens“ es sich nicht nehmen lässt, die im Materialismus vermuteten und angelegten Verhaltensverstöße gegenüber dem herrschenden Sittlichkeitsempfinden eindrücklich zu brandmarken. Menschen, die sich hier ‚blind‘ der Leidenschaft und Sinnlichkeit überantworten, gelten ihm als „moralische Mißgeburt[en]“. Dahinter verbarg sich gesellschaftstheoretisch die Neuauflage der Schuldfrage, die sich durch die materielle Erschütterung und Erosion der alten feudalen aber auch religiös vermittelten Herrschaftsstrukturen ergab und im von vielen Seiten bekämpften „Anti-Seneca“ Lamettries auf den neuralgischen Punkt gebracht wurde: dieser beschwor, dass Schuldgefühle nichts anderes seien „als unangenehme Reminiszenzen; als das Aufleben alteingeschliffener Gewohnheiten des Gefühls“. Das war eine theoretische Relativierung des Schuldbegriffs, um im weiteren Verlauf den Zusammenhang von Gut und Böse als durch die „Interessen der Gesellschaft“ vermittelte zu begreifen. Aufgefasst wurde dies von seinen Feinden als politischer Affront. Wenn „Medizin und Romantik“ an diesem historischen Punkt Schuld und Sühne stattdessen wieder in den individuellen Verantwortungsbereich zu tragen hofften, knüpften sie – und das wäre eine ‚materialistische‘ Interpretation – an jene politischen Auseinandersetzungen unmittelbar an. Der Materialismus blieb ein Reizthema. Selbst Lotze (eher methodisch-theoretisch) und Haeckel (mehr populärwissenschaftlich und politisch) stehen später noch unter diesem Eindruck und haben sich genötigt gefühlt, zum Materialismus Stellung zu nehmen. Die Marginalisierung materialistischer Bezüge führt hingegen dazu, dass nicht mehr die Problemstellung aufgeworfen werden kann, warum diese Autoren so vehement gegen „materialistische Verarmung“ (s.o.) und die mutmaßlich einseitige Ableitung des Geistes aus der Materie aufbegehren, obgleich diese Zusammenhänge doch eigentlich keine existentielle Rolle mehr zu spielen schienen für den Fortgang der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Dass sich dort vielleicht eine regressive Immanenz tarnte, die unter dem Assimilationsdruck bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse befeuert wurde, braucht dann nicht weiter zu irritieren.
Etwas ins Unreine gesprochen, nimmt die Romantik eine Schlüsselstellung ein für den Verlust an materialistischen Einsichtnahmen (oder vorsichtiger: Antizipationen). Dazu zählt die Tatsache, dass sie sich von einer wesentlichen Erfahrung der (Früh-)Aufklärung abwendete: bereits die „nur auf Naturverhältnisse gerichtete Erkenntnis destruierte die Transzendenz und mit ihr jede transzendente Herrschaftslegitimation“ (Peter Bulthaup). Das zeugte von einer nicht nur hypothetischen, sondern realen Befreiung – und Gefahr für Leib und Leben. Die Geschichte ist bekanntlich voll von Denkern, die schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt waren. Das war den Ärzten der Aufklärung noch bewusster als es den romantischen Ablegern wichtig sein musste. Auch v. Engelhardt liefert dazu selbst bedeutende Hinweise. Das ehemals so wichtige unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arzt und Patienten wird als zunehmend weniger bedeutsam angesehen für eine einschlägige Diagnose: „Carus formuliert seine Gedanken über Goethe als Künstler des gesunden Krankseins oder einer gelungenen Lebenskunst ohne direkten Kontakt als Arzt“ (S. 206). Mit Goethe ist ferner auf die Trennung von Wissen und Leiden verwiesen (vgl. S. 37). Das konvergiert mit späteren Autoren, die das unmittelbare Leiden des Patienten gar nicht mehr zur Grundlage ihrer theoretischen Ausführungen machen, sondern dieses – als Teilbereich eines allgemeinen pathologischen Vorgangs – zum Nebenschauplatz umschaffen (Stichwort Kosmos). Ferndiagnosen werden legitim, das Verhältnis zur sinnlich vermittelten Materialität schwindet, man abstrahiert bloß noch davon. Angezeigt ist damit ein Emanzipationsprozess, der auf medizinische Erfahrung verzichtet und meint, mittels idealistischer Subreption die Probleme der Menschheit, wenn schon nicht zu entschlüsseln, dann doch wenigstens beschreiben zu können. Diese Rekonstruktion lief Gefahr das in ihr angelegte telos zum vorgegebenen Maß aller Dinge zu stilisieren. So konnte sie nicht mehr sein als die gewaltsame Anordnung des historischen Materials „nach einem diesen Material gegenüber gleichgültigem rationellem Schema“ (Bulthaup): unreflektiert und unter gewissen politischen Bedingungen eine mitunter unheilvolle Projektion spezifisch-gesellschaftlicher Macht- und Kräfteverhältnisse. Das ist wenig besser als zu jener historischen Zufälligkeit sich verleiten zu lassen, wo jeder Forschungszweig sich das herausnimmt, was eben in seine Zuständigkeit fällt. Wenn also v. Engelhardt mahnend davon spricht, dass mit der „Beachtung sozialer Faktoren“ nicht bereits entschieden sein darf über „eine spezifische Soziologie, politische Philosophie oder Ideologie“ (S. 224), dann hat er anders recht als er meint. Die Tendenz zum Einheitsdenken schließlich überbrückt das, was erst noch eingeholt werden müsste: jene unnachgiebigen sozialökonomischen Bedingungen, an denen sich die menschliche Physiologie – je nach Klassenposition – mal mehr mal weniger abzuschleifen hat. In der Tat: „Die soziale Welt beeinflusst die Wissenschaft, von der sie umgekehrt ebenso beeinflusst wird“ (S. 223 f.). Dass das nicht ohne Machtordnung und Herrschaftsansprüche ablaufen kann, davon spricht eindrücklich jene Zeile Thomas Braschs aus dem Gedicht über Galileo Galilei: „Sag, Physiker, wie deine Wahrheit heißt, wenn einer dir das Herz aus deinem Körper reißt“.
Die gemachten Ausführungen sollen keinesfalls das besprochene Werk (materialistisch) desavouieren. Hier soll programmatisch (und ohne zu vereinseitigen) nur davon gesprochen sein, dass es durchaus seine Berechtigung haben kann, die philosophierenden Ärzte im Lichte ihrer materialistischen Ideen- und Wirkungsgeschichte zu betrachten. Mindestens sollten sie dort wissenschaftsgeschichtliche Evidenz für sich beanspruchen können, wo sie als Kritiker und/oder Epigonen regen Anteil nahmen an den vielfältigen Erscheinungsformen und Auseinandersetzungen zum Materialismus, der sich positivistisch nicht einfach an einer Seite festmachen lässt, sondern historisch angebunden werden muss an gesellschaftliche Verursachung – und Bedrohungen.
Fazit
Hier liegt ein monumentales Werk vor, das sich der disziplinären Einhegungen durch die üblich gewordene fachinterne Perspektive im Wissenschaftsbetrieb – ganz im Sinne des ganzheitlichen Denkens der Romantiker – zu entziehen versucht. Entsprechend reich ist das ausgeführte Vorhaben an grenzübergreifenden Anregungen und Forschungsdesideraten, was unterfüttert wird mit einem beeindruckenden Kompendium an Quellen und Literaturhinweisen, die auch weniger bekannte oder längst vergessene Autoren wieder ans Tageslicht befördern. Summa summarum: Ein interdisziplinär angelegter Steinbruch zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Romantik und des Deutschen Idealismus, das durch seine vieldimensionalen Perspektivierungen besticht. Eine Fundgrube – ein Standardwerk.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Es gibt 12 Rezensionen von Kevin-Rick Doß.
Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 07.09.2023 zu:
Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth, Giovanni Maio, Urban Wiesing, Nelly (Sonstige) Tsouyopoulos (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1. Darstellung und Interpretation : Gesundheit und Krankheit in Leib und Seele, Natur und Kultur. Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog
(Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023.
ISBN 978-3-7728-2951-2.
Reihe: Medizin und Philosophie / Medicine and Philosophy - MPh 17,1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31168.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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