Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth u.a. (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1

Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 07.09.2023

Cover Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth u.a. (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1 ISBN 978-3-7728-2951-2

Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth, Giovanni Maio, Urban Wiesing, Nelly (Sonstige) Tsouyopoulos (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1. Darstellung und Interpretation : Gesundheit und Krankheit in Leib und Seele, Natur und Kultur. Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog (Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023. 601 Seiten. ISBN 978-3-7728-2951-2. D: 88,00 EUR, A: 90,50 EUR.
Reihe: Medizin und Philosophie / Medicine and Philosophy - MPh 17,1.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Die Aufgabe dieses Werks gilt der medizin- und wissenschaftshistorischen Gesamtdarstellung ro­man­tischer Ärzte und Naturphilosophen in ihren vielfältigen Wechselbeziehungen. Kritisch los­lö­sen möchte es sich von „fachdisziplinären und normativen Verkürzungen, die meist aus der er­folg­rei­chen wissenschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts übernommen werden“ (S. 5). Ent­sprech­end weit wartet das inhaltliche Spektrum auf. Romantische Medizin und Natur­wissen­schaft sind nicht auf ein monothematisches Feld restringiert, sondern es ist Platz gelassen für Variationen, was interdisziplinäre Forschungsdesiderate eröffnet und perspektiviert.

So finden sich eine Untersuchung über den Zusammenhang von Biografie und Werk, Persönlichkeit und Wissenschaft ver­schiedener bekannter und weniger bekannter Protagonisten jener Zeit. Letztere werden nicht bloß vorgestellt, sondern erfahren eine sozial-, kultur- wie philosophiegeschichtliche Einbettung. Der „Medizin-philosophische Dialog“ (S. 28) der Romantiker und des Deutschen Idealismus kann in diesem Sinne exemplarisch als Versuch gedeutet werden, Krankheit in ihren verschiedenen Di­men­sionen be­greif­bar zu machen: so setze sich die Medizin und „Anthropologie des Krankseins“ (S. 49) aus unter­schied­­lichen Ebenen und inneren Zu­sam­men­hängen zusammen, was u.a. an den pro­gram­­matischen Leitlinien der Biografie, Medizinhistoriografie und Pathografie vorgestellt wird.

Die Darstellung hält sich an die kurzlebige „besondere Geltung der romantischen Medizin und Naturwissenschaft“. Das schließt ein, den Untersuchungszeitraum vom Ende der 1790er-Jahre bis in die 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts (vgl. S. 6). Das hier besprochene Werk ist der erste Teil einer vierbändigen Gesamtausgabe und lässt sich als konzeptioneller Aufschlag wie integrative Klammer der nachfolgenden Teilbände lesen. Laut Bekundungen des Verfassers basiere das Gesamtwerk auf eigene For­schun­gen der vergan­genen 50 Jahre.

Dietrich von Engelhardt (*1941) ist aktuell einer der führenden Forscher auf dem interdisziplinären Gebiet der Theorie und Geschichte der Medizin und medizinischen Ethik. Er beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Naturphilosophie und Medizin, aber auch Aspekte der Wissenschafts­ge­schich­te (wie die Historisierung der Natur und Geschichte der Naturwissenschaft) fließen in das In­ter­essengebiet ein. Dabei erstreckt sich seine Forschung nicht nur auf den hier beschränkten zeit- und ideengeschichtlichen Rahmen der Aufklärung, Romantik und des Deutschen Idealismus, son­dern greift aus in die Anfänge der Neuzeit und Moderne.

Aufbau und Inhalt

Beginnend mit einer Einführung (S. 1–9), gliedert sich das Werk in insgesamt sechs Kapitel. Be­vor die romantische Medizin thematisiert wird, richtet sich der Blick auf ihre „historischen Vor­aus­­­setzungen“ und „philosophische[n] Hintergründe“ (Kapitel II). Das Augenmerk gilt hier der Epoche der Auf­­­­klärung und wie diese in medizinphilosophische Grundsatzfragen situiert. Während es in der ge­­­samten Geschichte der Medizin in der Neuzeit zu eingehenden Beziehungen zur Philo­so­phie kom­­me, seien die Ärzte des 18. Jahrhunderts „erfüllt von einer Wis­sen­schafts­zuversicht, einem tie­fen Glauben an die Natur, an den Fortschritt und die Vervoll­kom­mnungs­fähigkeit der Men­sch­­heit“ (S. 13). Ausgehend von René Descartes stünde in deren Zentrum zunehmend ein „phi­lo­sophischer Po­sitivismus“, der sich abgrenzt von Theologie (S. 14), Scholastik (S. 18) sowie „‚me­ta­physische und er­ste Ursachen‘“ (Johann Peter Eberhard, S. 20), um auf eine „mechanisch-phy­sikalische In­ter­­pre­­ta­tion physiologischer und pathologischer Erscheinungen“ zu fokussieren (S. 15).

Für die Me­di­­zi­ner grundlegend sei zudem eine „empirisch-sensualistische“ Tradition, die Anschluss suche an Bacon, Hobbes, Gassendi, Locke, Hume und Condillac (S. 21). In diesem philosophischen Fahr­was­­­ser stehend, wird der Mediziner Melchior Adam Weikard „die phy­si­sche[n] und geistige[n] Be­din­­gungen“ erörtern, „die für den medizinischen Umgang mit Gesund­heit und Krankheit wesent­lich sein sollen“ (S. 22). Auch Johann Georg Zimmermann knüpft daran an, grenzt sich aber ab vom Den­­ken der Empiriker und macht die Verbindung stark zwischen Philo­so­phie und Medizin, Ver­nunft und Erfahrung. Wurde damit verwiesen auf die notwendige „Kennt­nis und Analyse der Ver­stan­­desbegriffe“ (S. 25), so heißt das allerdings nicht, dass Philo­so­phie und Medizin eine ver­bin­dende Synthese eingingen, sondern eher im Gegenteil, das Verhältnis zwischen beiden Seiten stellte sich für die naturwissenschaftlich geschulten Auf­klä­rer zunehmend proble­ma­tisch dar, was „von der Philosophie unabhängigen philosophischen Ref­lex­ionen innerhalb der Me­dizin“ zeugt (S. 26).

Auch Kant beteiligt sich am „Medizin-philosophische[n] Dialog“. Einer­seits ge­beutelt durch ei­­gene Krankheiten, andererseits sich über eigene Bei­trä­ge äußernd, greift er zu­gleich am hausei­genen Tische ein in die Debatte um „Diä­tetik“. Diese ent­spräche „der Auf­klärung im Sinne Kants Definition der Selbstverantwortung“. Phi­losophieren könne in diäte­ti­scher Per­spek­tive „zur Lebenssteigerung beitragen, nicht nur quan­ti­ta­tiv, sondern auch qualitativ“ (S. 39). Nach Kant sei es der Zusammen­hang von Körper und Geist der für eine „Koo­peration von Me­dizin und Phi­lo­so­phie [spricht]“. Dementsprechend erlaubt sich die Philo­so­phie urteilen zu dür­fen nicht nur über den Sitz der Seele, sondern auch über Fragen von „Geistes­krank­heit“ (vgl. S. 42 ff.). In diesem Sinne ließe sich der Dialog von Philosophie und Medizin dahin gehend cha­rak­te­ri­sie­ren, als dass bei­de Disziplinen der jeweils anderen ihre eigenen Grenzen auf­z­­eigen (vgl. S. 48).

Eine Erweiterung erfährt der Diskussionsstand mit der Naturphilosophie Schellings und Hegels. Bei Schelling, der die Naturphilosophie als „‚speculative Physik‘“ begriff (S. 54), wird Krankheit um wei­tere Dimensionen ergänzt. Kranksein bezog sich nicht mehr nur auf die eigene oder fremde Ge­sund­heit. Auch die soziale und kulturelle Wirklichkeit konnte von Krankheit befallen sein (S. 48 f.). Zentral war ihm der Organismus-Begriff, mit dem er Gesundheit und Krankheit in einen all­ge­mei­nen Naturzusammenhang setzte. Über „Erregbarkeit“, die als „synthetischer Begriff“ die „Ver­bin­dung von Sensibilität und Irritabilität“ einschließt (S. 55), konnte der Organismus mit Na­tur in­te­r­a­gie­ren, ja selbst als etwas Naturhaftes verstanden werden.

Nach v. Engelhardt ent­wickel­te Schelling „einen metaphysischen Krankheits- und Therapiebegriff“, eine strikte Unterscheidung von Patho­logie und Physiologie sei grundsätzlich nicht vorgesehen, „Krankheit ist Lebenserscheinung wie Gesundheit, sie wird durch dieselben Ursachen hervorgerufen“ (S. 57). Von der Bezeichnung „See­len­­krankheiten“ hielt er nicht viel, stattdessen steckt der Wahnsinn bereits im Verstand. Es mache also keinen Sinn von einer Krankheitsentstehung zu reden, vielmehr könne nur von einem „‚Her­vortreten‘ die Rede sein“. „‚Was wir Verstand nennen‘“, so zitiert v. Engelhardt Schelling an einer berüchtigten Stelle, „‚ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn‘“ (S. 59.). Auch Hegel habe naturwissenschaftliche wie medizinische Diskussionen zur Kenntnis genommen und in seine Na­turphilosophie zu integrieren versucht (S. 65). Bei ihm, viel expliziter noch als bei seinem idea­lis­tischen Kontrahenten, kommen Bezüge zur gesellschaftlichen Realität zum Tragen. Im Be­griff der Krankheit existiere eine „‚Dispro­portion seines Seyns und seines Selbsts‘“ (S. 67), was ein Krank­­heitsverständnis impliziert, dass „die Struktur der Wirklichkeit in einer spezifischen Klarheit hervortreten [lässt], oft mehr als im gesunden Zustand“ (S. 68).

Bei Hegel findet sich ebenso eine „Typo­logie der Krankheiten“ (vgl. S. 73–77). Auch Überlegungen zu „Stadien des Krank­heits­ver­laufes“, zur Therapie und „Krankheit und Tod“ tauchen auf (vgl. S. 77–83). Allein durch die eigene Bio­gra­fie gerät Hegel bereits in Auseinan­der­setzung mit Krankheitsbildern und versucht sich auf Grund­lage seiner Philosophie darauf, einen Reim zu machen. Nicht bloß Hölderlin, auch seine Schwester Christiane Luise litt an Depressionen („‚me­lancholischer Wahnsinn‘“) und wird schließ­lich Suizid be­gehen (S. 85f). Affiziert von dem ebenfalls de­pressiv erkrankten Briefpartner, Arzt und Philo­so­phen Carl Joseph Windischmann, entwarf laut v. Engelhardt Hegel „ein bislang weder beachtetes noch in der Praxis aufgegriffenes philosophisches Konzept einer geistigen Psychothe­ra­pie“ (S. 87).

Es nimmt also nicht wunder, wenn die romantische Medizin durch Schelling und Hegel beeinflusst worden ist. In Kapitel III werden die „Grundzüge der Medizin im Zeitalter der Romantik“ darge­stellt. Betont wird, dass für diese zentral gewesen sei „die Prinzipien der Identität von Na­tur und Geist, Einheit der Natur, Dominanz des Organismus“ sowie die „Verbindung von Natur und Kultur“ (S. 89). Ist das Themenspektrum auch sehr vielgestaltig, so zieht sich die ganzheitliche Betrachtung der zur Disposition stehenden Phänomene durch die gesamte Romantik. Besonders fasziniert seien manche Autoren insbesondere von der Analogie (S. 93) – oder, wie Herder, vom Parallelisieren (vgl. S. 121) –, während die „Dominanz des Organischen“ (S. 94) seinen Einfluss auf das romantische Geschichtsverständnis geltend macht. Man glaubt sich der „aufklärerischen Pragmatik“ „konkre­tere[r] Lebensregeln oder spezifische[r] Anweisungen für das politische Han­deln“ überwunden und sieht die Geschichte eher als ein „uni­ver­sales Prinzip“, in dem, nach Hen­rik Stef­fens, die Ab­hängig­keit des gesellschaftlichen Le­bens identifiziert wird „‚mit dem Bil­dungs­trie­be der Natur‘“ (97 f.). Damit würden aber keines­wegs soziale Faktoren aus dem ro­man­ti­schen Denk­rahmen ausgeklammert, sondern diese vielmehr über die ver­han­del­ten B­egriffe und Be­griffs­paare wie „Vererbung, äußere Einflüsse, schlechte Erziehung“ etc. in­te­griert in ein Konzept, das Phy­sik und Metaphysik miteinander verbindet, was v. Engelhardt an Au­to­ren wie Karl Wilhelm Ide­ler und Carl Gustav Carus exempli­fiziert (S. 109). Als Therapieform gilt den Romantikern ein ganzheitlicher Ansatz, der die physikalische Therapie kombiniert mit „morali­sche[r] Behandlung“, was Psychotherapie wie Sozialtherapie gleichermaßen beinhaltet (S. 113). Da­mit richte sich die Therapie des Kranken nicht nur auf den einzelnen Patienten, sondern gelte zu­gleich „für die Ge­sell­schaft, die Menschheit“: „Geschichte heißt Wiederherstellung der im his­to­ri­schen Verlauf zer­fal­len­en individuell-kosmischen Einheit des Menschen zu einer ursprüng­li­chen Ge­sundheit (…)“ (S. 117). Diese Programmatik zielt letztlich auf eine „Naturalisierung des Men­schen und Spiritua­li­sie­rung der Natur“, um gegen Ausbeu­tung, „seelische Verkümmerung“ oder die „materialistische Ver­ar­mung der Gesellschaft“ zu opponieren“ (S. 129/131).

Erschlossen wird dieser Punkt in der Folge über die Autobiographien romantischer Naturforscher (S. 137 ff.), woran sich anschließt eine breitere Einlassung zur „Historiographie der Medizin“ (S. 155 ff.). Damit ist gemeint eine historische Introspektion der romantischen Mediziner und Philoso­phen mit Blick auf ihr eigenes Treiben. Es bildet sich ein Geschichtsverständnis aus, das die Ent­wick­lung und Genese der Medizin als „sukzessive Realisierung(…) eines ideellen Systems“ be­trach­­tet (S. 162; vgl. S. 168). Romantische Medizingeschichte versteht sich als „Ursprung des Kom­­men­den“ (S. 169) und bezieht in ihre geschichtlichen Überlegungen stets ein Fragen der Pathografie (S. 173 ff.), ein Ausdruck, der erst später vom Mediziner Paul Julius Möbius um 1900 ge­­prägt worden sei (S. 174) und den Zusammenhang von Leben und Krankheit diskutiert, wobei Le­ben weit gefasst wird und ganz allgemein die Produktivität in verschiedenen Bereichen ein­schließt (vgl. S. 177). Möglich ist damit (Carus Verhältnis zu Goethe wird hier herangezogen) die medizinische Diagnose aus der Entfernung, ohne unmittelbaren Arztkontakt (vgl. S. 206, siehe Dis­kus­sion unten). Dennoch bleibt die Arzt-Patienten-Beziehung ein wichtiges Standbein. Das gilt vor allem für die um 1800 in Europa angestoßenen Reformen der psychiatrischen Versorgung und The­rapie. Johann Christian Reil legt seiner Idee von Psychotherapie das vitalistische Konzept der „Le­bens­kraft“ zu Grunde und „verwirft alle mechanischen Interpretationen der organischen Natur“ (S. 211). Stattdessen setzt er den Arzt als „‚moralisches Wesen‘“ ein, das auf ein anderes „‚der nem­li­chen Art‘“ einzuwirken habe (S. 216).

Daran schließt sich ein Selbstverständnis der romantischen Mediziner an, die über ihren eigenen Fächerkanon hinaus verstehend Einfluss nehmen wollen, nicht nur auf äußerliche Natur. Zugleich möchten sie über Bildung die Natur des Menschen und die Gesellschaft praktisch verändern (vgl. S. 235). Mediziner und Naturforscher bemühen sich also um ein Verständnis der Wechselwirkung von Gesellschaft auf menschliche Natur und umgekehrt, mischen sich bspw. über Henrik Steffens aktiv ein in Überlegungen zur Reform der Universitäten (vgl. S. 243). Dabei steht der Versuch im Raum, eine „Integration des Naturwissens in den Bildungsbegriff“ zu veranschlagen, verbunden mit dem Ziel einer „Vermittlung von Natur und Geschichte als Humanisierung der Natur und Natu­ra­lisierung des Menschen“ (S. 245). Das wird konturiert durch (von der bisherigen Medizin- und Wissenschafts­geschichte eher unterbelichtete) Reiseberichte von Heinrich von Schubert (vgl. S. 253 ff.) und Carl Gustav Carus (Reise nach Italien, vgl. S. 272 ff.). An letzterem lässt sich ablesen eine „ganzheitliche Integration von Natur, Leben, Wissenschaft und Kultur“ als „einmaliges Zeug­nis der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (S. 301). Trotz dieser Einheitsanstren­gun­gen sei allerdings in der nachfolgenden Zeit der „naturwissenschaftlich-geistes­wis­sen­schaft­liche Bildungsbegriff (…) relativ erfolglos geblieben“ (S. 236).

Kapitel IV („Dialog mit Vergangenheit und Gegenwart“) beginnt mit einer Darstellung und (zeit­ge­nös­sischen) Deutung des Mediziners Paracelsus (vgl. S. 306–336) und diskutiert im An­schluss da­ran die ebenfalls integrative Sichtweise des Mesmerismus, der durch die Vorstellung ei­nes „‚mag­ne­­tische[n] Fluidum[s]‘“ zu charakterisieren ist, sich aber von den Romantikern in­so­fern abgrenzt, als der dort zugrunde gelegte „animalische Magnetismus“ auf stoffliche bzw. ma­­terielle und we­­niger metaphysische oder ideelle Zusammenhänge rekurriert (S. 350). In den me­di­zin­his­to­ri­schen Kontext eingeordnet wird auch Novalis und zwar „als produktiver Reflex der zeit­ge­nös­si­schen Medizin und Ausdruck (…) ihrer ästhetisch-philosophischen Potentialität“ (S. 360). Davon zeugt nicht bloß die Tatsache, dass dieser in Besitz zahlreicher einschlägiger medizinischer Li­te­ra­tur war. Von ihm existieren Einlassungen zur Pathologie wie Therapie oder dem Verhältnis Arzt-Patient, ohne den Blick zu verengen auf eine Vereinseitigung von Krankheitsursachen. Fest­ge­hal­ten wird stets die Kompliziertheit der pathologischen Erscheinungsformen, die rück­ge­führt wer­den auf das Zusammenspiel von Seele, Körper und Körpersäften (vgl. S. 365).

In daran anschließenden Teilkapiteln macht v. Engelhardt darauf aufmerksam, dass mit Goethe und Alexander v. Humboldt zwei weitere Exponenten sich im Dialog befanden mit romantischen Naturforschern und Me­di­zinern. Aus Goethes Schriften ließe sich die Lektüre romantisch-medizinischer Texte nach­voll­zie­hen, womit ein weiterer Referenzpunkt für seine eigenen Naturforschungen sichtbar würde (vgl. S. 381), während umgekehrt romantische Naturforscher und Ärzte sich ihrerseits bei den Studien Goe­thes bedienen. Genannt werden hier, neben den bereits erwähnten Carus und Windischmann, Jo­achim Dietrich Brandis sowie Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (S. 383).

Goethe selbst rückt auch darum in die Nähe romantischer Naturforschung, weil er, eben wie diese, Distanz wah­rte zu einer „spekulativen oder absoluten Vernunft“ (S. 387), ja einer idealistischen Philosophie über­haupt. Seine naturwissenschaftlichen Studien weisen ihn aber ebenso aus als jemanden, der eine Skepsis besitzt gegenüber der „‚Nachtseite der Naturwissenschaft‘“, was meint romantische Ten­denzen zur Mythologie und Religion oder dem Unbewussten (S. 389). Goethes Verhältnis zur Ro­mantik ist also mindestens ambivalent und daher nicht auf einen Nenner zu bringen. Dessen un­ge­achtet, wird sich der Diskurs im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts um Romantik immer we­niger der Vielschichtigkeit dieser Denkbewegung bewusst, der Begriff verkomme zunehmend zu ei­nem „allgemein herabsetzenden Schlagwort“ (S. 398). Das gilt allerdings nicht für Humboldt, der romantische und empirische Naturforschung miteinander zusammendenkt, was v. Engelhardt u.a. an der oft rezitierten Studie „Kosmos“ darlegt (vgl. S. 410). Jener sei vom Dualismus von Geist und Natur wenig überzeugt, das Verhältnis von Physischem und Intellektuellem dürfe nicht auf die „‚Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten‘“ reduziert werden (S. 418).

Mit Madame de Staël und ihrer Rezeption der Medizin und romantischen Naturforschung (S. 422–443) ist indes auf das inhaltliche Schlusskapitel (V.) verwiesen. Entlang von Rezensionen und Besprechungen in den „‚Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur‘“ und den „‚Jahrbüchern für wis­sen­schaft­liche Kritik‘“ zeichnet v. Engelhardt nach, inwieweit in einem Wechselgeflecht von „Ab­bruch“ und „Resonanz“ die Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu­neh­mend ab­bricht (S. 445). Er unterscheidet dabei mehrere Phasen, in denen nicht nur Kritik an den empirischen Naturwissenschaften und der „gängigen materialistisch-mechanischen Behandlung“ (S. 457) geübt wird: Die romantischen Autoren untereinander gehen sich gleichfalls an. Der Vor­wurf bezüglich eines „Formalismus“ oder der „Abstraktheit“ zirkuliert auch innerhalb des medizin-romantischen Denkens vgl. (S. 454). Dazu gesellen sich radikalere Stimmen, die die „‚Schwär­me­rey­en Schellings und seiner Schule‘“ ablehnen. Ein der Philosophiegeschichte nicht ganz unbe­kannter Autor wie Friedrich Heinrich Jacobi äußert gegenüber seinem Briefpartner Friedrich Fries gar die Erwartung, dass dieser sich vom „‚Schelling’schen Ter­roris­mus‘“ nicht abschrecken lasse, sondern „‚die Wespen schwefeln werde, wie es sich gehört‘“ (S. 462). Überwiegend nun wird die romantische Medizin unmittelbar mit „spiritistisch-mystischen Neigungen“ (S. 484) identifiziert. In den Besprechungen der „‚Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‘“ ginge dann zunehmend das Interesse an Naturphilosophie sowie philosophische Orientierung zurück und werden verdrängt durch empirisch-positivistische Ansätze (S. 493).

Zwischen Physik und Metaphysik bewegen sich Johannes Müller und der deutsch-tschechische Me­diziner Jan Evangelista Purkyně, die beide den Ausklang der idealistischen wie romantischen Na­turphilosophie und -forschung repräsentieren (S. 529). Letzterer erfährt eine Würdigung trotz zu­rück­haltender Äußerungen Hegels über dessen „‚subjektive Grübeleien‘“ innerhalb seiner sin­nes­physiologischen Studien (S. 518). Zentral seien für diesen die Sinne: nicht nur als „Ver­bin­dung von Materie und Bewusstsein“, sondern „in ihnen liegt die Bedingung für die Universalität des Prinzips des Geistes“ (S. 526 f.). Ein letztes Mal soll die anorganische und organische Natur in­te­­griert werden: in einen „individuellen Totalorganismus“. Nicht erst der Mensch, bereits die Erde wird verstanden als „‚psychisch-geistiges Individuum‘“ (S. 527). Im VI. Kapitel zieht v. Engel­hardt auf zwei Seiten pointiert Bilanz, formuliert weitere Forschungsdesiderate und konstatiert, dass die Nach­wirkungen der romantischen Medizin und des Deutschen Idea­lis­mus als Herausfor­der­ungen bis in die Gegenwart fortwirken, worunter beispielsweise die „Verantwortung des Menschen für die Na­tur“, der gemeinsame Dialog von Natur-, Geisteswissenschaft und Künste oder das „ganz­heit­liche Verständnis von Gesundheit und Krankheit (…)“ zu fassen ist (S. 532).

Diskussion

Die Philosophie der Medizin und ihrer Geschichte sei „‚ein ganz ungeheures und noch ganz un­be­ar­beitetes Feld‘“, so eine Notiz von Novalis (S. 173). Zu diesem Zeitpunkt war die ideen­ge­schichtliche Epoche der Früh- und beginnenden Spätaufklärung bereits reich an unzähligen Querverbindungen, die von der Philosophie in die Medizin und umgekehrt hineinreichten. Mit einem dezidiert antimetaphysischen Kurs, der sich abzugrenzen versuchte gegenüber scholastischem wie nominalistischem Denken, wurde das Verhältnis von Theorie und Praxis neu ausgelotet und zwar insofern, als der wechselseitige Einfluss des Physischen und des Geistig-Moralischen sowie dessen Gründe unter genauer Beobachtung gestellt wurde. Beinahe zeitgleich mit Melchior Adam Weikard (s.o.) werden durch Jean Paul Marat programmatische Überlegungen angestoßen, die die Not­wen­dig­keit begründen, Medizin und Philosophie integrativ zusammenzuführen. Angezeigt war dieser Zu­­sam­men­schluss, da die Medizin alles aus dem Physischen sich zu erklären hoffte, wie umgekehrt die Philosophie alles aus dem Geist, sodass am Ende nicht ganz klar war, wer oder was denn nun eigentlich krank sei, die Seele oder der Körper. Deshalb brauchte es nach Marat ein wechselseitiges Korrek­tiv, da überdies die Erkenntnisse ansonsten auseinanderliefen und sich gegenüber ver­selb­stän­digen wür­den. Auf der einen Seite machte er den Philosophen den Vorwurf, sie würden schlicht das, was sie nicht kennen, bloß definieren. Zur Natur des Menschen sei so nicht vor­zu­drin­gen. Auf der anderen Seite wussten Ärzte wie Marcus Herz, dass sie ohne Philosophie und Er­kennt­nis­theorie nicht imstande waren, sich einen Reim zu machen auf die Ursachen psychischer Krank­heiten und ihrer möglichen Linderung oder Heilung. Die Mediziner bedurften also der Philo­so­phie, denn sie sahen sich Problemstellungen gegenüber, die sich auf dem Boden ihrer me­di­zin­i­schen Kenntnis allein nicht lösen ließen. Diderot ging – umgekehrt – schließlich so weit zu be­haupt­en, dass nur der­jenige über Metaphysik schreiben dürfe, der sich vorher lange Zeit mit Me­di­zin beschäftigt ha­be; er allein sei es, „der die Phänomene gesehen hat: die Maschine ruhig oder auf­ge­bracht, schwach oder kräftig, gesund oder zerbrochen, durcheinander oder in Ordnung, nach­ei­nan­der dumm, auf­ge­klärt, stupid, erregt, stumm, lethargisch, handelnd, lebend und tot“.

Was hier nun an der Schwelle zum 19. Jahrhundert von Novalis als Desiderat notiert wird, führt unweigerlich zu der Frage, ob die philosophierende Medizin sowie ihr romantischer Ableger das Recht auf eine eigenständige Geschichte beanspruchen dürfen oder ob sie nur eine zufällige Er­schei­nungs­form abgeben, die mit dem Durchsetzen eines naturwissenschaftlich-positivistischen Den­kens (s.o.) aus der – auch – Wissen­schafts­geschichte unerkannt verschwindet. Um dem auf die Spur zu kom­men, wäre zunächst auszufalten, inwieweit das hier besprochene Werk den Medizinern im Subtext nicht doch eine wis­senschafts­ge­schicht­liche Erzählung und Logik unterlegt, was zu­nächst quer zur eigent­li­chen In­ten­tion des Autors stehen mag, die ja eine interdisziplinäre Öffnung anregt und eben nicht auf ein Mo­nothema restringieren will. Eine „einheitliche Bewegung“ innerhalb der ro­man­ti­schen Na­tur­for­schung und Medizin sei nicht vorhanden, „unterschiedliche Naturbegriffe und Wis­sen­­schafts­­vor­stell­ungen existieren nebeneinander“. Abgetrennt und zugleich verbunden durch ein Se­mikolon fährt der Satz zum nächsten fort: „abweichende konzeptionelle wie bio­gra­phi­sche Ant­wor­ten wer­den auf die letztlich siegreiche Entwicklung der empirisch-positivistischen Na­tur­wis­sen­schaft ge­ge­ben“ (S. 3). Das Wörtchen „siegreich“ macht verdächtig. Sind die ro­man­ti­schen Ärzte dadurch nicht in ein geschichtliches Verhältnis gesetzt zu einer späteren Ent­wick­lungs­pha­se, die sich für die (nicht nur na­tur­wissenschaftliche) Wissensproduktion als maßgeblich eta­bliert hatte? Damit wäre ein ent­wick­lungs­­geschichtlicher Referenzpunkt eingepflockt, auf den das romantische Denken bezogen wird. Man muss dies nicht unmittelbar den zeitgenössischen Autoren anlasten: Wir befinden uns hier zunächst auf der da­r­stell­ungs­logischen Ebene, die sich freilich nicht unabhängig vom vorgetragenen Inhalt denken lässt, und über die – so der Diskussionsvorschlag – am Ende doch der Romantik und dem Deutschen Idealismus post festum eine Tendenz zur geschichtslogischen Vereinheitlichung unterlegt wird. Dass, wenn auch in­hal­t­lich sicher berechtigt und gut begründbar, mit einer ge­wis­sen Redundanz das Einheitsdenken der Romantiker he­raus­ge­ar­beitet ist, erweckt den Eindruck ei­ner dualistischen Geschichtsdeutung, die unter einer historisch un­verdächtigen Typisierung von Ge­schichte als „Wandel und Dauer“ (S. IX) ihre Eigen­be­rech­ti­gung von einem zukünftigen Ergebnis empfängt. Der Positivismus ist das wissen­schafts­lo­gische Fa­nal, auf den die Romantik, trotz aller Widerstände, hinausläuft. Und hier steckt der Teufel im De­tail: wenn v. Engelhardt ausruft, man könne die „So­zial­ge­schichte der Naturwissenschaften“ ohne „Kooperation“ und „Interdisziplinarität“ als auch al­leine in­tellektuell nicht bewältigen (S. 226), so ist das im Rahmen einer vierbändigen Gesamt­aus­ga­be in erster Linie sicherlich als ein For­schungs- und Arbeitsprogramm zu verstehen. Weniger Re­sü­mee eines aktiven und beein­druck­enden Forscherlebens als vielmehr Auftakt zu neuer Er­kenntnis­pro­duktion spricht daraus. Doch immanent tut sich mehr auf. Denn hier liegt in Anlehnung an die Romantik vielleicht selbst ein Wis­senschaftsverständnis vor das nicht frei ist vom hier kritisierten positivistischen Denken. Denn wie anders als ‚positivistisch‘ ließe sich denn die Verknüpfung von den vielen verschiedenen For­schungsdesideraten und Fachdisziplinen bewerkstelligen? Wie ließe sich das vielgestaltige Be­deu­tungs­profil der Romantik anders (und neu) aktualisieren, als das vorher Getrennte zu einer zu­sammenhanglosen Vielheit zusammenzubinden? Diese Fragen lassen sich nicht beant­wor­ten, denn der Begriff der Verknüpfung bleibt un­be­stimmt. Und er bleibt es deshalb, weil die Re­flex­ion auf einen anderen Begriff unterbleibt: den der ka­pitalistischen Arbeits­teilung. Indem v. Eng­el­hardt sich positiv dem Ein­heits­den­ken der Romantik zu­wendet, übernimmt er in diesem spe­ziel­len Fall auch ihre Unbedachtheit. Auch bei den ‚Ro­man­ti­kern‘ bleibt die ka­pitalis­tisch ver­mit­telte Ar­beits­tei­lung, die sich im deutschsprachigen Wirt­schafts­raum an­fing durch­zu­setzen, weitest­gehend unreflektiert. Ihr instinktiver Drang zum Ob­jek­ti­ven, zu einer Integration ihrer Kenntnisse zu einem Gesamtbild, musste theoretisch daher zahnlos bleiben ge­gen­über einer natur­wissen­schaft­li­chen Aus­dif­fe­renzierung und Spezifizierung, die sich nahtlos in den ge­sell­schaft­li­chen Repro­duk­tions­­­pro­zess einbinden ließ und von dort ihre Funktion erhielt. Insofern steckt in den phi­loso­phie­ren­den Ärzten der Romantik etwas Ana­chro­nis­tisches. Spätere Versuche von z.B. Ernst Haeckel, das einheitsstiftende Denken in einen kosmologischen Monismus hinüberzuretten, dessen „Genesis in ziellosen Prozessen“ (Karl Heinz Haag) einer Weltgesetz­lich­keit sich er­schöpf­te, scheiterten nicht zufällig.

In­teressant ist: als die romantische wie idealistische Hochphase ihr Ende erreicht hatte, tauchen Ver­suche auf, die Arbeitsteilung als objektive Bedingung mit in das Verhältnis von Natur und Mensch, Körper und Seele, Menschen- und Naturgeschichte zu integrieren – auch von medi­zi­ni­scher Seite aus. Der leider etwas in Vergessenheit geratene Arzt Roland Daniels wird in einem Brief an Marx vom 08. Februar 1851 sein programmatischen „Entwurf einer phy­sio­lo­gischen Anthropologie“ zu verstehen geben als „Kritik der Medizin und gleichzeitig der gegenwärtigen Le­bens­einflüsse“. Gemeint war, die Berücksichtigung und Auslotung der Beziehung von Erkenntnis­kritik auf gesellschaftliche Verhältnisse bzw. Institutionen. Eine physiologische Rückbindung an die „jedesmalige Art der Produktion der materiellen Lebensbedürfnisse“. Gleichwohl Daniels aus ve­r­­schiedenen Gründen sich nicht zu wesentlichen gesellschafts­theo­re­tischen Einsichten durch­rin­gen konnte, gilt seine Perspektive einer Ver­schie­bung auf das Verhältnis der Gesellschaft zum In­di­vi­­duum. Blieb dieses Ansinnen in der Durchführung stets auf Physiologie limitiert, indem „das As­si­­milationsumfeld des menschlichen Organismus zum einzig verläßlichen Bezugspunkt für die Er­klä­­rung menschlichen Handelns avanciert[e]“ (Reinhard Mocek), begibt sich die Medizin (erneut) auf Pfa­den des Materialismus oder präziser: ihre Analysen werden zum Ausdruck materieller Pro­zes­se der sozialen Wirklichkeit. Angedeutet ist damit, dass Fragen von (gesellschaftlich ver­mit­tel­ter) Materie durchaus eine wichtige Rolle gespielt haben innerhalb der Geschichte der Medizin und ihren phi­lo­so­phischen Ansprüchen. Das betrifft nicht nur das für die medizinischen Aufklärer im­mer wieder re­flektierte Verhältnis von Geist und Materie, von Bedingendem und Bedingtem, bei dem ein „un­ver­rechenbarer Rest“ übrigblieb (Alfred Schmidt). Immer wieder tauchen selbst bei den ‚ro­man­ti­schen‘ Medizinern aufwendige und zum größten Teil polemische Abhandlungen auf, die sich ganz unmittelbar auf materialistische Zusammenhänge bezie­hen, meist in der Hoffnung, final ‚dem‘ Materialismus den Garaus zu machen, d.h. diesen endgültig aus der Ideengeschichte zu li­qui­dieren. Zu diesen Versuchen gehören Autoren, die auch bei v. En­gel­hardt Erwähnung finden: Hei­nroth, der in seiner Schrift „Ueber die Hypothese der Materie und ihr­en Einfluss auf Wissen­schaft und Leben“ zum großen Schlag gegen materialistisches Denken aus­holt, Ärztekollegen und Physiologen im denunziatorischen Ton als ‚Materialisten‘ herab­setzt; oder Phi­lipp Karl Hartmann, der in einer weitschweifigen Monografie zur „Physiologie des Denkens“ es sich nicht nehmen lässt, die im Materialismus vermuteten und an­ge­leg­ten Ver­haltens­verstöße ge­gen­über dem herrschenden Sittlichkeitsempfinden eindrücklich zu brand­mar­ken. Men­schen, die sich hier ‚blind‘ der Lei­den­schaft und Sinnlichkeit überantworten, gelten ihm als „mo­ra­li­sche Miß­ge­burt[en]“. Dahinter ver­barg sich gesellschaftstheoretisch die Neuauflage der Schuld­fra­ge, die sich durch die materielle Er­schüt­terung und Erosion der alten feudalen aber auch religiös ver­mittelten Herr­schaftsstrukturen ergab und im von vielen Seiten bekämpften „Anti-Seneca“ La­met­tries auf den neuralgischen Punkt gebracht wurde: dieser beschwor, dass Schuld­ge­fühle nichts an­deres seien „als unangenehme Re­mi­niszenzen; als das Aufleben alteingeschliffener Gewohn­hei­ten des Ge­fühls“. Das war eine the­o­re­tische Relativierung des Schuldbegriffs, um im weiteren Verlauf den Zu­sammenhang von Gut und Böse als durch die „Interessen der Gesellschaft“ vermittelte zu be­greifen. Aufgefasst wurde dies von seinen Feinden als politischer Affront. Wenn „Me­dizin und Ro­mantik“ an diesem historischen Punkt Schuld und Sühne stattdessen wieder in den in­dividuellen Ver­ant­wortungs­bereich zu tragen hofften, knüpften sie – und das wäre eine ‚ma­te­ri­a­lis­tische‘ Inter­pre­tation – an jene politischen Auseinandersetzungen unmittelbar an. Der Ma­te­ri­a­lis­mus blieb ein Reiz­thema. Selbst Lotze (eher methodisch-theoretisch) und Haeckel (mehr po­pulär­wis­senschaftlich und po­li­tisch) stehen später noch unter diesem Eindruck und haben sich genötigt gefühlt, zum Mate­ria­lis­­mus Stellung zu nehmen. Die Marginalisierung materialistischer Bezüge führt hingegen da­zu, dass nicht mehr die Problemstellung aufgeworfen wer­den kann, warum diese Autoren so ve­he­ment ge­gen „materialis­ti­sche Verarmung“ (s.o.) und die mutmaßlich einseitige Ableitung des Gei­stes aus der Materie aufbegehren, obgleich diese Zusammenhänge doch eigentlich keine existentielle Rol­le mehr zu spielen schienen für den Fort­gang der natur­wissen­schaft­lichen Entwicklung. Dass sich dort vielleicht eine regressive Immanenz tarnte, die unter dem Assimilationsdruck bürgerlich-ka­pitalistischer Produk­tions­ver­hält­nis­se be­feu­ert wurde, braucht dann nicht weiter zu ir­ritieren.

Etwas ins Unreine gesprochen, nimmt die Romantik eine Schlüsselstellung ein für den Verlust an materialistischen Einsichtnahmen (oder vorsichtiger: Antizipationen). Dazu zählt die Tatsache, dass sie sich von einer wesentlichen Erfahrung der (Früh-)Aufklärung abwendete: bereits die „nur auf Naturverhältnisse gerichtete Erkenntnis destruierte die Transzendenz und mit ihr jede transzendente Herrschaftslegitimation“ (Peter Bulthaup). Das zeugte von einer nicht nur hypothetischen, sondern realen Befreiung – und Gefahr für Leib und Leben. Die Geschichte ist bekanntlich voll von Den­kern, die schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt waren. Das war den Ärzten der Aufklärung noch be­wusster als es den romantischen Ablegern wichtig sein musste. Auch v. Engelhardt liefert dazu selbst bedeutende Hinweise. Das ehemals so wichtige unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arzt und Patienten wird als zunehmend weniger bedeutsam angesehen für eine einschlägige Diagnose: „Carus for­mu­liert seine Gedanken über Goethe als Künstler des gesunden Krankseins oder einer gelungenen Lebenskunst ohne direkten Kontakt als Arzt“ (S. 206). Mit Goethe ist ferner auf die Trennung von Wissen und Leiden ver­wie­sen (vgl. S. 37). Das konvergiert mit späteren Autoren, die das unmittelbare Leiden des Patienten gar nicht mehr zur Grundlage ihrer theoretischen Aus­füh­run­gen machen, sondern dieses – als Teilbereich eines allgemeinen pathologischen Vorgangs – zum Ne­ben­schauplatz umschaffen (Stichwort Kosmos). Ferndiagnosen werden legitim, das Verhältnis zur sinn­lich vermittelten Ma­terialität schwindet, man abstrahiert bloß noch davon. Angezeigt ist da­mit ei­n Eman­zipations­pro­zess, der auf medizinische Erfahrung verzichtet und meint, mittels idea­lis­­­ti­scher Sub­­reption die Pro­bleme der Menschheit, wenn schon nicht zu ent­schlüs­seln, dann doch we­­nig­­stens be­schrei­ben zu können. Diese Rekonstruktion lief Gefahr das in ihr angelegte telos zum vor­ge­ge­be­nen Maß aller Dinge zu stilisieren. So konnte sie nicht mehr sein als die ge­walt­same An­ordnung des historischen Materials „nach einem diesen Material gegenüber gleich­gül­tigem ra­tio­nel­lem Schema“ (Bulthaup): unreflektiert und unter gewissen politischen Bedingungen eine mitunter unheilvolle Projektion spezifisch-gesell­schaft­li­cher Macht­­- und Kräfteverhältnisse. Das ist wenig besser als zu jener historischen Zu­fällig­keit sich ver­lei­ten zu lassen, wo jeder For­schungs­zweig sich das herausnimmt, was eben in seine Zu­­ständig­keit fällt. Wenn also v. Engelhardt mahnend davon spricht, dass mit der „Beachtung so­zia­ler Fak­to­ren“ nicht be­reits entschieden sein darf über „eine spezifische Soziologie, politische Phi­losophie oder Ideo­­logie“ (S. 224), dann hat er anders recht als er meint. Die Tendenz zum Ein­heits­den­ken schließlich über­brückt das, was erst noch ein­geholt werden müsste: jene unnachgiebigen sozial­öko­no­mi­schen Be­din­­gun­gen, an denen sich die men­schliche Physiologie – je nach Klassenposition – mal mehr mal we­niger ab­zuschleifen hat. In der Tat: „Die soziale Welt beeinflusst die Wis­sen­schaft, von der sie um­­ge­kehrt ebenso beeinflusst wird“ (S. 223 f.). Dass das nicht ohne Machtordnung und Herrschafts­an­­sprüche ablaufen kann, davon spricht eindrücklich jene Zeile Tho­mas Braschs aus dem Ge­dicht über Galileo Galilei: „Sag, Physiker, wie deine Wahr­­heit heißt, wenn ei­ner dir das Herz aus deinem Körper reißt“.

Die gemachten Ausführungen sollen keinesfalls das besprochene Werk (materialistisch) desa­vou­ieren. Hier soll program­ma­tisch (und ohne zu vereinseitigen) nur davon gesprochen sein, dass es durch­aus seine Berech­ti­gung haben kann, die philoso­phie­renden Ärzte im Lichte ihrer ma­teria­lis­ti­schen Ideen- und Wir­kungs­geschichte zu betrachten. Mindestens sollten sie dort wissen­schafts­ge­schichtliche Evidenz für sich beanspruchen können, wo sie als Kritiker und/oder Epigonen regen Anteil nah­men an den viel­fäl­ti­gen Erscheinungsformen und Auseinandersetzungen zum Ma­te­ria­lis­mus, der sich positivistisch nicht einfach an einer Seite fest­machen lässt, sondern historisch an­ge­bun­den wer­den muss an gesellschaftliche Verursachung – und Bedrohungen.

Fazit

Hier liegt ein monumentales Werk vor, das sich der disziplinären Ein­he­gun­gen durch die üblich gewordene fachinterne Perspektive im Wissenschaftsbetrieb – ganz im Sinne des ganzheitlichen Denkens der Romantiker – zu entziehen versucht. Entsprechend reich ist das ausgeführte Vorhaben an grenzübergreifenden Anregungen und Forschungsdesideraten, was unterfüttert wird mit einem be­eindruckenden Kompendium an Quellen und Literaturhinweisen, die auch weniger bekannte oder längst vergessene Autoren wieder ans Tageslicht befördern. Summa summarum: Ein in­ter­dis­zi­pli­när angelegter Steinbruch zur Medizin- und Wissen­schafts­ge­schichte der Romantik und des Deut­schen Idealismus, das durch seine vieldimensionalen Perspektivierungen besticht. Eine Fund­gru­be – ein Standardwerk.

Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
Mailformular

Es gibt 12 Rezensionen von Kevin-Rick Doß.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 07.09.2023 zu: Dietrich von Engelhardt, Matthias Bormuth, Giovanni Maio, Urban Wiesing, Nelly (Sonstige) Tsouyopoulos (Hrsg.): Medizin in Romantik und Idealismus. Band 1. Darstellung und Interpretation : Gesundheit und Krankheit in Leib und Seele, Natur und Kultur. Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog (Stuttgart (Bad Cannstatt)) 2023. ISBN 978-3-7728-2951-2. Reihe: Medizin und Philosophie / Medicine and Philosophy - MPh 17,1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31168.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht