Nikias Sebastian Obitz: Selbstorganisation von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Kolumbien
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.07.2023
Nikias Sebastian Obitz: Selbstorganisation von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Kolumbien. Möglichkeiten und Perspektiven von Partizipation.
Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2023.
316 Seiten.
ISBN 978-3-86585-333-2.
D: 36,90 EUR,
A: 38,00 EUR.
Reihe: Edition Neuer Diskurs - 33. .
Thema
Das Selbst entsteht durch Kommunikation und Resonanz
Im anthropologischen Diskurs gibt es vielfältige Paradigmen darüber, wie es möglich wird, sich selbst, im Rahmen des generativen, historischen, kulturellen, politischen, individuellen und kollektiven Gewordenseins, zu organisieren. Es sind die familialen, institutionalisierten, umweltbezogenen, gesellschaftlichen Zusammenhänge, die als Halteseile des Lebens wirken (Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27036.php) und Organisationsformen entstehen lassen, wie z.B. „Kinderrepubliken“. Diese Initiativen werden hier den Konzepten der pädagogischen Bildung und der sozialen Arbeit zugeordnet, als Zugänge und Zugriffe, individuelle und kollektive Kinderrechte durchzusetzen.
Entstehungshintergrund und Autor
Es sind die emanzipatorischen, freiheitlichen, demokratischen, menschenrechtlichen Entwicklungen, die nach gleichwertigen, allgemeingültigen Kinderrechten Ausschau halten; etwa in der „Genfer Erklärung der Rechte des Kindes“ von 1924; oder aktuell in der von den Vereinten Nationen 1959 proklamierten „Erklärung der Rechte des Kindes“, mit dem hehren Ziel, dass „die Menschheit dem Kind das Beste schuldet, das sie zu geben hat“. Dies durchzusetzen erfordert Kraft und legitimierte Macht. Es verwundert nicht, dass die Aktivitäten zur Bildung von Organisationsformen zu Kinderrechten ursprünglich in sogenannten Entwicklungsländern, in Afrika und Lateinamerika, im „Globalen Süden“ entstanden sind und erprobt wurden Der Politikwissenschaftler John Holloway geht dieses Vorhaben mit dem gesellschafts- und kapitalismuskritischen, emanzipatorischen Blick an. Den resignativen, negativen, passiven, wie auch den ego-, ethnozentristischen, rassistischen und populistischen Einstellungen setzt er das positive „Eine-Welt-ist-möglich!“ entgegen. Es ist das „zapatistische“ Bewusstsein, das sich artikuliert und manifestiert in der Absicht: „Fragend gehen wir voran“ (John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, 2002, www.socialnet.de/rezensionen/​10535.php).
Dissertationen sind intellektuelle Bemühungen, das eigene Denken und Interesse in repräsentative Flaschen zu füllen! Der Sozialwissenschaftler Nikias Obitz hat von 2003 an in mehreren Projekt- und Studienaufenthalten die kolumbianische Kinderrepublik Benposta kennengelernt. Seine Erfahrungen legt er als Dissertation an der TU Dortmund mit dem Ziel vor, „die Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen als politische Partizipationsform“ darzustellen und zu diskutieren. Die wissenschaftliche Arbeit thematisiert zum einen die konkreten, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, wie sie in Kolumbien vorherrschen und Identitäts- und Selbstorganisations-Initiativen von und mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen provozieren, ermöglichen oder verhindern: zum anderen bindet der Autor das Thema ein in übergreifende, allgemeingültige Fragestellungen: „Wie sehen und erleben sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in der Selbstorganisation ihre eigenen Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten?“ – „Welche Möglichkeiten und Formen der Partizipation … sind in der Selbstorganisation vorhanden?“ – „Was verstehen Kinder und Jugendliche als Akteur*innen in der Selbstorganisation unter Partizipation?“ – „Welche Inhalte werden vermittelt?“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung, in der Opitz seine Forschungsarbeit erläutert und die zentralen Fragestellungen formuliert, und der Schlussbetrachtung, in der er insbesondere die Möglichkeiten und Ansätze der „Agency-Analyse“ als Forschungsmethode herausstellt (vgl. z.B. auch: Hans G. Homfeld, Transnationalität, soziale Unterstützung, agency, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4067.php), gliedert der Autor seine Studie in die folgenden Kapitel: „Theoretische Verortungen“, in denen er die verschiedenen Forschungszugänge vorstellt, und z.B. „Agency“ als Mittel zur Analyse von Beziehungen und Kontakten zwischen Individuen und Gemeinschaften, von Strukturen und Aktivitätsformen, von Selbst- und Fremdbestimmung. Im Kapitel „Möglichkeiten und Formen von Partizipation“ setzt er sich auseinander mit im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten, wie auch mit alternativen, kreativen, partizipatorischen Aktivitäten. Ein Perspektivenwechsel ist angesagt: Im gesellschaftlichen Diskurs kommt es darauf an, die Aktivitäts- und Blickrichtung über die traditionelle Erwachsenenperspektive hinaus, hin zu Kinderrechten zu richten. Im nächsten Kapitel nimmt der Autor die „Kinderrepublik als eine Form der Selbstorganisation“ auf. Er vermittelt einen Überblick über die verschiedenen, historischen und aktuellen Versuche, institutionell Organisationskonzepte zu entwickeln und zu erproben. Über seinen Forschungsort, die „Kinderrepublik Bonposta“ informiert er – entstanden 1957 als „guter Ort“ im spanischen Galicien, und 1974 von Aktiven des Zirkus-Milieus in Zentralkolumbien errichteten Lebens- und Wohngemeinschaft für ca. 120 minderjährige, elternlose oder elternabsente Kinder und Jugendliche im Alter von ca. 8 bis 18 Jahren: Benposta – Nación de Muchach@s. Im Kapitel „Empirischer Teil“ informiert Obitz über das Forschungsdesign und die Forschungsmethoden, mit denen er in seiner Studie arbeitet. Mit dem „Forschungstagebuch“ skizziert und dokumentiert er die mit seiner teilnehmenden Beobachtung, den Interviews und Gesprächen, und den Analysen ermittelten Erkenntnisse. In diesem (Haupt-)Teil der Forschungsarbeit werden Dokumente, Bilder und Texte präsentiert, die für Vergleichsarbeiten ohne Zweifel nützlich und hilfreich sein können.
Diskussion
Die interkulturelle Frage: Wie lassen sich prekäre, hilfsbedürftige Situationen von Kindern und Jugendlichen (wie auch von Erwachsenen) aus benachteiligten Ländern des Südens, wie in unserem Beispiel in Kolumbien, vergleichen mit den Lebensbedingungen in ökonomisch bevorzugten Staaten? Wie unterscheiden sich die Lebenslagen voneinander? Welche Ziele, Wünsche, Hoffnungen äußern Kinder und Jugendliche? Welche Möglichkeiten ergeben sich für sie? Die Dokumentation und Analyse über die (institutionalisierten) Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte der Kinder und Jugendlichen in Benposta zeigt, „wie Kinder- und Jugendliche im Rahmen einer Selbstorganisation partizipieren und über politische Strukturen entscheiden können, welche Lernprozesse angeregt werden und wie bedeutsam politische und soziale Partizipation für Kinder und Jugendliche selbst ist, und zwar gerade in einer prekären Lebenslage“.
Fazit
Ist die Frage obsolet oder überflüssig, weil unrealistisch, ob die von Nikias Obitz ermittelten, partizipatorischen, mitbestimmenden Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in der Kinderrepublik Benposta auch andernorts, im Süden wie im Norden der Erde, auch in Europa, realisiert werden können? Nehmen wir nicht nur ökonomische Vergleichsmaßstäbe, sondern auch emanzipatorische, finden sich – wenn wir wollen – zahlreiche Notwendigkeiten! Die vielseitige Literatur- und Quellenliste verdeutlicht, dass Nikias Obitz mit seiner Forschungsarbeit ein lokal- und globalaktuelles Thema aufgreift und wissenschaftlich ausweist!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1664 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.07.2023 zu:
Nikias Sebastian Obitz: Selbstorganisation von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Kolumbien. Möglichkeiten und Perspektiven von Partizipation. Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2023.
ISBN 978-3-86585-333-2.
Reihe: Edition Neuer Diskurs - 33. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31169.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.