Julia Pudelko, Philipp-Emanuel Oettler: Jugendhilfeplanung in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Maria Bitzan, 15.02.2024

Julia Pudelko, Philipp-Emanuel Oettler: Jugendhilfeplanung in Deutschland. Herausforderungen, Potenziale und Entwicklungstendenzen. Empirische Ergebnisse einer aktuellen Bestandsaufnahme.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2023.
188 Seiten.
ISBN 978-3-8309-4661-8.
24,90 EUR.
Reihe: Soziale Praxis.
Thema
Der gesetzliche Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe beinhaltet, »positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen« (§ 1 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII). Dafür ist Jugendhilfeplanung (i.F. JHP), vornehmlich auf kommunaler Ebene, das zentrale Steuerungsinstrument und seit der Neuformulierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor mehr als 30 Jahren eine Pflichtaufgabe, die in der Neufassung als Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes noch bestärkt wurde. Trotz vielfältiger Praxis existiert nach wie vor kein einheitliches Verständnis (geschweige denn Umsetzung) über ihre Ausgestaltung. In diesem Band wird – auf empirischer Basis – eine aktuelle Zusammenstellung wesentlicher Bestandteile und Potenziale von Jugendhilfeplanung vorgestellt. Der Band ist der Abschlussbericht des Forschungsprojekts »Jugendhilfeplanung in Deutschland – Herausforderungen, Potenziale und Entwicklungstendenzen«.
Autor:innen
Julia Pudelko und Philipp-Emanuel Oettler, beide mit dem Abschluss Master of Arts (M.A.) Jugendhilfe, haben gemeinsam die wissenschaftliche Bereichsleitung des Bereichs KINDER- UND JUGENDHILFE am ISA — Institut für soziale Arbeit e.V. – inne. JHP als unverzichtbares Planungs- und Steuerungsinstrument auf kommunaler Ebene ist ein Kernthema des ISA, das sowohl in Forschungs- und Beratungsprojekten als auch in Qualifizierungsangeboten aufgegriffen und bearbeitet wird. Das ISA begleitet seit den neunziger Jahren viele Kommunen bei Planungsprozessen und steht für ein fortschrittliches Verständnis. Es bietet (bzw. bot in den letzten Jahren) auch den Zertifikatskurs Jugendhilfeplanung an, um Planungsfachkräfte in Bezug auf ihre Rolle und ihre komplexen Aufgaben zu qualifizieren. Auszüge aus dem hier vorgestellten Forschungsprojekt wurden von ihnen in mehreren Fachartikeln seit 2021 publiziert.
Entstehungshintergrund
Mit dem von der Auridis Stiftung geförderten Projekt, das von 2020 bis 2022 durchgeführt wurde, nutzt das ISA seine Expertise aus Praxisberatung und Qualifizierung. Das hier dokumentierte Forschungsprojekt knüpft an die als online Online-Befragung bei Jugendämtern durchgeführte und durch Interviews mit Jugendhilfeplaner:innen aus Nordrhein-Westfalen ergänzte „letzte bundesweite Untersuchung, die vor rund zehn Jahren durch die Fachhochschule Münster durchgeführt und durch das Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA) mitgefördert wurde“ (S. 16), an (Adam et al. 2010: 6). Ausgehend von der damaligen Untersuchung und in Berücksichtigung der seit den 2000er Jahren vorangeschrittenen Diskussion, die JHP zunehmend als empiriegestützten kommunikativen Prozess bewertet, soll die hier vorliegende Untersuchung Kontinuitäten und Veränderungen verdeutlichen und einen Überblick über den aktuellen Stand der Umsetzung von inzwischen in der Fachliteratur allgemein geteilten Leitstandards geben (z.B. Daigler 2018, Merchel 2016, Maykus, S./Schone, R. (Hrsg.) (2010). Die Forschung beinhaltete eine quantitative Vollerhebung bei den Jugendämtern und 5 qualitative Fallstudien mit unterschiedlichen Planungsbeispielen.
Aufbau
Die Darstellung der Forschungsergebnisse steht im Mittelpunkt des hiermit der Öffentlichkeit vorgelegten Abschlussberichts. Gerahmt werden sie durch einen kurzen informativen Überblick über den Forschungs- und Diskussionsstand zur JHP in Deutschland, die Einführung in die Ziele der Studie sowie das Forschungsdesign.
Die Ergebnisse werden in zwei Hauptkapiteln dargestellt: Kap 2 beschäftigt sich mit der quantitativen Erhebung bei allen Jugendämtern Deutschlands und sortiert die Ergebnisse nach verschiedenen inhaltlichen Kriterien. Zu jedem Punkt gibt es eine kurze zusammenfassende Kommentierung. Das Kapitel schließt mit einem Zwischenfazit der quantitativen Erhebung, das zugleich für das Verständnis des Aufbaus und der Interpretationen des qualitativen Forschungsbausteins hilfreich ist, dessen Ergebnisse in Kap. 3 dargestellt werden. In fünf Kommunen unterschiedlichster Art und mit je unterschiedlichen Planungsthemen wurden qualitative Fallstudien durchgeführt. Mit deren Schilderungen wird Planung sehr lebendig und realitätsnah erlebbar. Auch hier schließt jedes Fallbeispiel mit einer zusammenfassenden Kommentierung. Am Schluss des Buches findet sich eine prägnante Zusammenfassung der gesamten Forschungsergebnisse und ein Fazit für die Herausforderungen, Potenziale und Entwicklungsbedarfe der Jugendhilfeplanung.
Inhalt
Zur Forschungsanlage
Das Erkenntnisinteresse der Studie „zielt darauf ab, 1. zur Umsetzung und zu den Auswirkungen der Jugendhilfeplanung als zentrales Steuerungsinstrument zur Gestaltung und Weiterentwicklung der kommunalen Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Familien sowie 2. zur Rolle der Jugendhilfeplanung im Zusammenspiel integrierter kommunaler Sozial- und Bildungsplanung für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, sowohl datenbasiert die aktuelle Situation zu beschreiben als auch Entwicklungspotenziale und Zukunftsperspektiven herauszuarbeiten“ (25).
Zur Beantwortung der hieraus entwickelten und auf S. 25 aufgelisteten Forschungsfragen wurde ein Forschungsdesign entwickelt, welches drei aufeinander aufbauende Bausteine beinhaltet: Der 1., quantitative, Baustein des Forschungsvorhabens ist die bundesweite Online-Befragung bei allen Jugendämtern in Deutschland und richtete sich an die explizit mit Planung beauftragten Fachkräfte. Damit sollte eine Abbildung und Analyse des Ist-Standes der Planungspraxis in den Kommunen sowie von konzeptionellen und strukturellen Merkmalen, aktuellen Themen und Herausforderungen, die für planerische Tätigkeiten bestehen, möglich werden. Auch die Rolle und die Bedingungen in der Kommune der für die Planung verantwortlichen Fachkräfte wurde nachgefragt. „Bei der Konzipierung des Fragebogens wurden Fragen der 2010er-Studie berücksichtigt und soweit möglich identisch formuliert, um stellenweise einen Vergleich zu ermöglichen und ggf. Entwicklungen über ein Jahrzehnt sichtbar zu machen. Anhand dieser Ergebnisse wurden vertiefende Fragestellungen entwickelt, denen im Rahmen der qualitativen Erhebung nachgegangen wurde“ (27).
Der 2., qualitative, Baustein diente einer genaueren Betrachtung des operativen und strategischen Planungsgeschehens. Mit 5 Fallstudien betrachteten die Forscher:innen mehrperspektivisch (Gespräche mit Planungsperson, Amtsleitung, Mitarbeitende aus zugehörigen Gremien) exemplarisch 5 sehr unterschiedliche Planungsprojekte in Kommunen unterschiedlichster Größe. Wohlwissend, dass Fallstudien niemals repräsentativ sein können, dienen sie hier dazu, einige Themen durch konkrete Einsichten in Bedingungen, Handlungsvollzüge und Selbstverständnisse zu unterfüttern und noch einmal mehr Erkenntnisse zu Potenzialen und Schwachstellen aufzuzeigen.
Der 3. Baustein umfasst keine weiteren Erhebungen, sondern beinhaltet die allgemeine Zusammenfassung und vor allem den Transfer der Ergebnisse, der in Teilschritten sukzessive publiziert wurde und in der bundesweiten Transferveranstaltung im Januar 2022 mündete, in der die Ergebnisse einer breiten Fachöffentlichkeit vorgestellt wurden.
Ausgewählte quantitative Ergebnisse
Mit einer Rücklaufquote von 42,2 % ist von repräsentativen Ergebnissen auszugehen, wobei reflektiert werden muss (und wird auf S. 28 auch ausführlich differenziert diskutiert), dass die meisten Ergebnisse aus NRW stammen, wo es mit Abstand die meisten Jugendämter gibt (im Vergleich: in NRW 186, in Mecklenburg-Vorpommern 8). Ebenso wurde bei der Erhebung wie auch der Darstellung der Ergebnisse unterschieden zwischen den Jugendamtstypen: Kreisjugendämter, welche ca. die Hälfte der Rücklaufbögen repräsentieren und kreisfreie Stadt (bzw. Bezirksjugendamt) sowie kreisangehöriges Jugendamt, die beide grob ein Viertel der ausgewerteten Bögen ausmachen. Schon hieran wird deutlich, wie schwierig flächendeckende vergleichsbezogene Aussagen zu machen sind. Interessant ist der immer wieder vorgenommene Bezug einzelner Ergebnisse auf die Untersuchung von 2010, aus der sich Entwicklungen, aber erstaunlicherweise vor allem Kontinuitäten (in allen Bereichen der Untersuchung) ausmachen lassen. Bei der Darstellung der Ergebnisse werden immer wieder auch O-Töne der Befragten aus den offenen Möglichkeiten der Kommentierungen in den Fragebögen eingefügt, die den dargestellten Punkt exemplarisch beleben.
Ohne die Ergebnisse hier alle zusammenfassend darstellen zu können, werden i.F. aus den einzelnen Kapiteln einige wenige (subjektiv von der Rezensentin ausgewählte) Schlaglichter aufgeführt.
Personelle und sachliche Ausstattung: Drei Viertel der ausgewerteten Jugendämter haben eine Person zur JHP mit Stellenanteilen meist zu 100 %, wobei davon etwas mehr als die Hälfte ihre Stelle als Stabsstelle bei der Leitung des Jugendamtes angesiedelt haben, was von allen als positiv bewertet wird. Auf ein Planungsteam können nicht viele bauen (ab 2 Personen max. ein Viertel), obwohl es als absolut förderlich bewertet wird. Fast zwei Drittel der Fachkräfte sind weiblich (die Geschlechterkategorie wurde nicht weiter differenziert) und über 90 % verfügen über einen Hochschulabschluss, vorrangig in der Sozialen Arbeit. Aufgrund zu knapper Budgets und „Einzelkämpfertums“ ist eine Schlussfolgerung der Forscher:innen, dass „nicht davon ausgegangen werden [kann], dass fehlende Personalressource oder fachliche Expertise in der kommunalen Jugendhilfeplanung umfänglich durch externe Beratung kompensiert wird“( 44).
Konzeption und Auftrag der Jugendhilfeplanung: Nur etwa ein Drittel verfügt über eine verschriftlichte Planungskonzeption und auch ein politischer Grundsatzbeschluß zur JHP liegt keineswegs selbstverständlich vor (bei knapp der Hälfte). Auch ist erkennbar, dass der bereichsorientierte Planungsansatz im Unterschied zum sozialraumorientierten und zielgruppenorientierten Planungsansatz am häufigsten umgesetzt wird. „Gleichzeitig korrelieren alle Planungsansätze miteinander d.h. in der Praxis wird nicht einer, sondern werden mehrere Planungsansätze kombiniert“ (47). Die Bereiche, in denen aktuell die meiste Planungsaktivität vorliegt, sind stark dominiert von der gesetzlichen Verpflichtung zur Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen, also der Bereich der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen. Am Ende der Liste der Häufigkeit der Aktivitäten stehen hoheitliche Aufgaben (z.B. Inobhutnahmen) und Hilfen für Volljährige (genauer S. 55). Insgesamt hat sich die Tendenz aus der 2010er Studie zur Teilfachplanung bestätigt – bereichsübergreifende und integrierte Planungen stecken somit noch in den Kinderschuhen. Ebenso konstatiert die Studie: „Von einer professionellen, transparenten und kontrollierbaren Gestaltung von Entwicklungsprozessen der Infrastruktur der Jugendhilfe sind die meisten Jugendämter damit noch weit entfernt“ (57).
Zur Datengrundlage stellen die Forscherinnen nach wie vor einen erheblichen Mangel fest, der sich v.a. an der Verfügbarkeit kleinräumiger Daten und der unzureichenden Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit anderer Ämter zeigt.
Beteiligung: Das im Gesetz besonders hervorgehobene Gebot der Beteiligung war und ist der Knackpunkt in der Praxis. Auch wenn Beteiligung sehr niederschwellig „als »strukturierte Formen und Formate der Information, Konsultation und/oder Mitwirkung« definiert“ (69) wird, ist die Beteiligung der Adressat:innen keineswegs selbstverständlich, am ehesten noch bei den Planungen im Bereich von Jugendlichen, hier ca. bei 2/3, bei anderen Adressat:innen deutlich drunter (S. 71). Hingegen findet die Beteiligung von Fachkräften der Jugendhilfe inzwischen mehrheitlich regelmäßig und in erprobten Formen statt.
Die Auswertungsaspekte Kooperation und Abstimmung mit anderen Planungsbereichen und Ämter- und systemübergreifende Planungsaktivitäten und -themen im Kontext einer integrierten Sozial- und Bildungsplanung zeigen, wie wenig weit entwickelt übergreifende und sozialraumorientierte Planungen bisher sind. Sie sind in der Mehrheit nicht etabliert.
Zusammenfassend zum quantitativen Teil werden im Zwischenfazit alle zu Anfang aufgeführten Forschungsfragen aufgelistet und beantwortet. Darum ist dieses Kapitel als Schnelldurchgang auch allein verständlich.
Zusammenfassung der qualitativen Fallstudien
In dieser Rezension kann nicht auf einzelne Fallstudien und deren Inhalte eingegangen werden. Es empfiehlt sich, diese wie kleine Erlebnisberichte zu lesen, um sich die quantitativen Ergebnisse noch einmal zu veranschaulichen und die vielen Fallstricke der Praxis zu verstehen.
In 5 Kommunen wurde vor Ort genauer recherchiert durch Gruppeninterviews, vertiefende Einzelinterviews und Dokumentenanalysen. Dadurch konnten Steckbriefe der Kommune und eine Planungschronologie erstellt werden, die dann für die Auswertung der erhobenen Daten zur Grundlage genommen wurden. In der Einleitung des dritten Kapitels wird auf die Unterschiede der 5 Kommunen und auf die einzelnen Forschungsmaterialien eingegangen. Beteiligt waren drei Kreisjugendämter und zwei Stadtjugendämter. Drei davon stellten eine klassische Bereichsplanung vor: zweimal eine Kitabedarfsplanung, einmal eine Bestandsaufnahme zur Familienbildung. Eine vierte Fallstudie hatte das arbeitsfeldübergreifende Thema der interkulturellen Öffnung der gesamten Kinder- und Jugendhilfe zum Inhalt und das fünfte Beispiel beschäftigte sich mit der Entwicklung einer Angebots- und Netzwerkstruktur in den Frühen Hilfen.
Die Fallstudien machen besonders die Heterogenität der JHP in Deutschland sichtbar. Deutlich werden der Mangel an Beteiligung der Adressat:innen, eine überwiegend „profillose Rolle“ des Jugendhilfeausschusses, geringe Personalausstattungen und die Abhängigkeit der Planung von den subjektiven Fachverständnissen von Planungsfachraft und Jugendamtsleitung sowie deren Kooperation.
Die allgemeine Zusammenfassung der Ergebnisse bringt in einer überraschend kurzen sehr prägnanten Form Kritik und Mängel sowie Zusammenhänge von Gelingensfaktoren auf den Punkt. Gezeigt wird, dass die Mängel als Risikofaktoren für eine gelingende Kinder- und Jugendhilfe (174) aufzufassen sind – aber die Untersuchung bringt auch Ansatzpunkte und Potenziale zum Vorschein, die quasi einen Leitfaden für die kommunalen Weiterentwicklungen ergeben.
Diskussion
Zum Forschungsdesign: Die Kombination quantitativer und qualitativer Bausteine hat sich bewährt und scheint in solchen praxisbezogenen Bereichen einer an Überblicken interessierten Forschung nahezu unabdingbar, um die Mühen und Fallstricke der konkreten Umstände und Bedingungen auch nur annähernd ansprechen zu können.
Die Autor:innen haben klare Vorstellungen von einer fachlich guten JHP, die sie jedoch eher beiläufig und, zum Teil in den Interpretationen einzelner Befunde unterbringen. So kommt die notwendige und vorhandene politische Positionierung der Autor:innen erst am Schluss beim Resümee explizit zum Tragen und macht darin deutlich, wieviel Entwicklungsbedarf noch besteht und wo jugendpolitische Forderungen auch diesbezüglich anzuknüpfen haben.
Für die quantitative Studie wurde auf die Studie von 2010 aufgebaut, was unterm Strich ermöglicht, Entwicklungen bzw. auch Stagnationen im Feld der JHP feststellen zu können. Angenehm ist die Aufnahme von Kommentaren der Befragten aus der Fragebogen-Erhebung, die hilfreich für die Interpretation der statistischen Angaben sind und als Illustrationen die Lektüre der doch etwas mühsam zu lesenden Daten auflockern.
Die Fallstudien sind eine Form von Praxisforschung, die durchaus noch mehr Verbreitung finden könnte, taucht man mit ihr doch wesentlich näher in die Praxis ein und kann mehr Verständnis für von außen eher als unzureichend eingeschätzte Planungsabläufe gewinnen, liefert aber auch mehr konkrete Ansatzpunkte für Gelingensfaktoren. Leider wurde in dem Bericht nicht offengelegt, welche Kriterien genau zu der Auswahl dieser Fallbeispiele geführt haben, abgesehen von Größe und Art des Jugendamtes. So anschaulich sie sind, hätte sich die Leserin doch gern ein Fallbeispiel aus einer integrierten oder zumindest aus einer sozialräumlich angelegten Planung gewünscht. Überraschend war auch, dass keine Planung mit Jugendlichen dabei war. Ebenso hat die Rezensentin überrascht, dass in den Fallbeispielen keine Adressat:innen befragt wurden. Möglicherweise ist das dem zur Verfügung stehenden Budget geschuldet oder auch der Pandemiesituation, in der face to face Begegnungen sowieso nicht möglich waren…
Die Tatsache, dass die Erhebung Juni-August 2020 und in dem Folgejahr stattfand, also mitten in Pandemiezeiten, findet kaum Niederschlag. Es ist zu vermuten, dass zum einen Prioritäten sich verschoben (erwähnt wird der besorgniserregende Umstand, dass Fachkräfte der JHP in die Gesundheits- und Impfzentren abgeordnet wurden und gerade in dieser Krisenzeit Planung oftmals stillgestellt wurde) und zum anderen auch neue Bedarfe aufploppten. Des Weiteren gibt es in den Fragestellungen keine weitere Reflektion von Verwerfungen und Veränderungen/Bedarfen im Geschlechterverhältnis außer der Abfrage, welches Geschlecht die Fachkraft hat (männlich oder weiblich). Nicht zuletzt hängt das möglicherweise auch damit zusammen, dass in den Planungen vor Ort dieses Thema auch derzeit kaum weiterentwickelt wird, wohingegen in der Praxis der Jugendhilfe viele auch kontroverse Diskussionen etwa um Konzepte und um öffentliche Förderung etc. anzutreffen sind (Stichwort: Queere Jugendhilfe).
Zu den Ergebnissen: Inzwischen scheint JHP fachlich als Berufsfeld der Sozialen Arbeit anerkannt zu sein. Dies müsste sich m.E. wesentlich deutlicher niederschlagen in den Studienplänen an den Hochschulen, damit nicht wie derzeit noch meistens, die Expertise erst in speziellen Weiterbildungen oder selfmade angeeignet werden muss.
Immer noch zeigen sich die bekannten „Baustellen“, wenn über JHP nachgedacht wird: zu wenig Ressourcen, zu geringe Anbindung an andere Planungsprozesse in den Kommunen und somit politisch nicht das nötige standing über Planungsbeschlüsse etc., und fehlende Ansätze integrierter Planungen, die fachlich als state of the art eingefordert werden.
Zum Nutzen des Buches: Zunächst muss festgehalten werden: „Die Ausgestaltung der Jugendhilfeplanung als kommunikativer, diskursiver, partizipativer Prozess der fachlichen, fachpolitischen und kommunalpolitischen Willensbildung und Entscheidungsfindung ist hochgradig voraussetzungsreich und abhängig von den kommunalen Strukturen, in denen sie zu operieren hat“ (170). Somit könnte sich die Leserin fragen, ob ein Anspruch, das gesamte Feld der JHP in Deutschland abzubilden, nicht zum Scheitern verurteilt sein müsse. Dem ist aber keineswegs so. Das Buch gibt einen sehr klaren Einblick in den fachlichen Stand, die Ausstattung und die Fehlstellen bei der Umsetzung des Gesetzesauftrags.
Es kann zum einen als kleines „Nachschlagewerk“ für verschiedene Bereiche der Konzipierung von JHP in einer Kommune genutzt werden und zum andern bietet es viel Material für die eigene JHP vor Ort für Argumentationen, in welchen Bereichen warum Verbesserungen eingefordert werden. Das Buch ist insofern für die Praxis von JHP eine wichtige Lektüre, zugleich auch in der Ausbildung zu nutzen und nicht zuletzt für die Wissenschaft ein Hinweis auf Forschungsstand und -bedarfe. Es wäre wünschenswert, dass v.a. auch Jugendhilfeausschüsse sich mit diesen Ergebnissen beschäftigen und ihrer politischen Aufgabe der Planung und Stärkung der JHP nachkommen. Es zeigt ebenfalls, dass in den Studiengängen der Sozialen Arbeit Planung einen gewichtigeren Stellenwert als bisher bekommen muss, denn nicht nur Planende selbst brauchen das notwendige Wissen, sondern alle Mitarbeitenden in der Jugendhilfe sollten wissen, was sie von Planung erwarten und erhoffen können und sollten nicht zögern, sich entsprechend auch zu beteiligen.
Deutlich wird insbesondere ein weiterer Forschungsbedarf zu den Bedingungen integrierter Planung und zu Zusammenarbeit unterschiedlichster Bereiche unter dem Ziel der sozialraumorientierten Planung. Außerdem wäre ein gründlicheres Evaluieren von Planung und ein forschender Blick auf Prozesse, die nicht so gelingen, also eine Forschung am Scheitern, sehr weiterführend.
Fazit
Eine gut lesbare wichtige Studie, die die derzeit vorhandenen wichtigen Anforderungen zu unterschiedlichen Aspekten von JHP auf eine empirische Basis beziehen kann. Gerade ein bundesweiter Überblick fehlte seit der 2010erStudie und ergänzt einzelne Erhebungen aus manchen Bundesländern. Deutlich wird hier auch, welche Inhalte mit welchen Fragen in Fort- und Weiterbildungen, Hochschulstudiengängen etc. thematisiert und weiter reflektiert werden müssen.
Literatur
Adam, T./Schone, R./Kemmerling, S. (2010): Jugendhilfeplanung in Deutschland. Entwicklungsstand und Planungsanforderungen unter besonderer Berücksichtigung der Planungspraxis in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse einer Erhebung bei den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe. Online: https://isa-muenster.de/fileadmin/images/ISA_Muenster/Dokumente/Schone_Jugendhilfeplanung-in-Deutschland.pdf [letzter Zugriff: 15.12.2022].
Daigler, C. (Hrsg.) (2018): Profil und Professionalität der Jugendhilfeplanung. Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, Band 8. Wiesbaden.
Maykus, S./Schone, R. (Hrsg) (2010): Handbuch Jugendhilfeplanung – Grundlagen, Anforderungen und Perspektiven. 3. Auflage. Wiesbaden
Merchel, J. (2016): Jugendhilfeplanung. Anforderungen, Profil, Umsetzung. München
Rezension von
Prof. Dr. Maria Bitzan
Fakultät SAGP Soziale Arbeit Gesundheit und Pflege
Hochschule Esslingen
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