Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou: Zeit - Endlichkeit - Liebe
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 21.08.2023
Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou: Zeit - Endlichkeit - Liebe. Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen. Schattauer (Stuttgart) 2023. 216 Seiten. ISBN 978-3-608-40067-0. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema
Nachdem in den 50er Jahren des 20. Jhts. die phänomenologisch-daseinsphilosophische Psychiatrie einen Höhepunkt erlebte (Karl Jaspers, Eugène Minkowski, Erwin Straus, Viktor von Gebsattel, Ludwig Binswanger im Gefolge der Philosophen Karl Jaspers, Martin Heidecker und später Jean-Paul Sartre), verlor diese Forschungsrichtung in der Folgezeit an Bemerkbarkeit: Die Sozialpsychiatrie übernahm das Feld und seit den 80er Jahren zunehmend eine neue (molekular-)biologisch ausgerichtete Psychiatrie innerhalb deren Deutungshoheit jede Sinndiskussion abhanden gekommen scheint. Erst nach der Jahrtausendwende begannen sich führende Psychiater wieder für die Sinnperspektive des Subjekts (und der Weltgemeinschaft) zu interessierten. Der ärztliche Direktor der Psychiatrie an der Charité publizierte nun auch über anthropologische Psychiatrie (vgl. Heinz 2023). Nun folgt sein ehemaliger Leitender Oberarzt Georg Juckel, einer der profiliertesten biologischen Psychiater Deutschlands mIt Paraskevi Mavvrogiorgou nimmt er sich dieses Themas der Zeit an, einer Fragestellung, für die biologische Forschung naturgemäß bisher keine adäquaten Antworten gefunden hat: Zeit als Lebenszeit endet immer mit dem Tod; und unser Bewusstsein konfrontiert uns mit dem Konflikt der Bilanzierung unserer Lebenszeit spätestens im reifen Alter.
Herausgeber und AutorInnen
Prof. Dr. med. Georg Juckel, geb. 1961, ist tätig als Direktor der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin der Ruhruniversität Bochum. Stationen: Philosophiestudium an der FU Berlin (1981-86), Medizinstudium an der HU (1986) und Promotion mit einer biopsychiatrischen Arbeit an der Psychiatrischen Klinik der FU. Facharztausbildung Psychiatrie und Psychotherapie TP mit Forschungsaufenthalten 1987 in Budapest und 1997/1998 am Department of Psychology (Program of Neuroscience) an der Princeton University im US-amerikanischen New Jersey; 2003 Habilitation an der LMU München mit der Arbeit: Die Lautstärkeabhängigkeit akustisch evozierter Potenziale als Indikator des zentralen Serotonergen Systems – Untersuchungen im Tiermodell sowie an psychiatrischen Patienten und gesunden Probanden. 2003–05 ist er stellvertretender Leitender Oberart in Berlin (Charité), seit 2005 Professor und Ärztlicher Direktor in Bochum.
PD Dr. med. Paraskevi Mavrogiorgou, geb.1965, leitet als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (VT) die Forschungsabteilung für Experimentelle Psychopathologie der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin an der Ruhruniversität Bochum.
Als Ehepaar haben sie zusammen auch das Buch geschrieben: Wie die Seele wieder Frieden findet. Warum die alten Geschichten der Bibel und heute Halt geben, Paderborn Bonifatius (erscheint 2023 als Taschenbuch).
Entstehungshintergrund
Georg Juckel, der ein komplettes Philosophiestudium absolvierte bevor er als Mediziner in der biopsychiatrischen Forschung reüssierte und seine Frau Paraskevi Mavrogiorgou, als Psychiaterin ebenfalls vor allem experimentell naturwissenschaftlich forschend, haben zusammen ein Werk verfasst, das sich vor allem mit dem Sinnhorizont der Psychiatrie auseinandersetzt. Man kann es nicht anders sagen: Ihnen ist ein großer Wurf gelungen. Nicht nur werden ontologische Fragen immer mit dem Stand der Neurowissenschaften verglichen (die sowohl in Bezug auf das Zeitgefühl als auch alle damit korrespondierenden Sinnfragen keine großen Antworten zu geben vermag). Offenbar ist Zeit als ontologische Kategorie an sich an ein sinnstiftendes Narrativ, also eine Symbolisierung gebunden, was es eher unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass es dafür mehr als ein somatisches Korrelat geben könnte. Juckel und Mavrogiorgou bearbeiten den Stoff in souveräner Weise sehr lesbar auch für Studierende und vielleicht sogar für Schüler-innen der gymnasialen Oberstufe.
Aufbau/​Inhalt
Der Text gliedert sich in 6 Kapitel:
1. Einleitung S. 11/23
2. Zeit: Die Sorge um Vergänglichkeit S. 24/108
Im Gefolge ihrer Untersuchung entwickeln Juckel und Mavrogiorgou auch einen Test in Form eines Polaritätenprofils, den Fragebogen zur Selbsteinschätzung von Zeiterleben (FSZ): In 20 Dimensionen sollen die Testteilnehmer-innen für die jeweilige Position entscheiden, ob eine Aussage gar nicht oder vollkommen zutrifft. Die Fragen haben es in sich
1. In der letzten Zeit:
a) erscheinen mir Zeitabläufe und Bewegungen beschleunigt
b) erscheinen mir Zeitabläufe und Bewegungen verlangsamt
2. Ich habe das Gefühl, dass es keine Zukunft für mich gibt.
3. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit für mich stillsteht.
4. Meine Umgebung erscheint mir verlangsamt, als würde alles in Zeitlupe ablaufen.
5. Ich habe das Zeitgefühl verloren, ich lebe nur noch im hier und jetzt.
6. Ich habe das Gefühl meine Lebenszeit vertan zu haben.
7. Es fällt mir schwer, mich an meine Vergangenheit zu erinnern.
8. Ich bin in der Lage vorauszuahnen, was als Nächstes in meinem Leben passiert.
9. Ich fühle mich schuldig, wenn ich an meine Vergangenheit denke.
10. Ich habe das Gefühl, die Zeit bricht auseinander. Ich erlebe das Vergehen der Zeit nicht mehr kontinuierlich.
11. Ereignisse folgen nicht mehr aufeinander. Jedes Ereignis steht für sich, ohne Zusam menhang
12. Ich nehme das Voranschreiten der Zeit als belastend war.
13. An die Zukunft zu denken fällt mir schwer und bereitet mir Angst.
14. Ich habe das Gefühl, dass die Zukunft auf mich zurast.
15. Ich lebe nur in der Zukunft.
16. Ich kann der Vergangenheit nicht entkommen, sie scheint sich immer weiter auszudeh nen
17. Ich bin ständig überrascht und habe das Gefühl, im nächsten Moment könnte alles pas sieren
18. Ich fühle mich, als hätte ich keine Vergangenheit.
19. In der Vergangenheit:
a) Ist die Zeit sehr schnell vergangen.
b) Ist die Zeit sehr langsam vergangen.
20. Die Zukunft erscheint mir sinnlos.
Mag sein, dass die Beantwortung des Fragebogens ein Subjekt in eine Existenzkrise treiben kann. Ich habe den Eindruck, diese Fragen ließen sich im Grunde am Ende einer jahrelangen Psychotherapie eher implizit beantworten, weil unsere Abwehrmechanismen aus gutem Grund verhindern, dass wir diese Antworten stets präsent haben.
Als philosophische Fragen in einem Seminar für werdende Psychiater-innen finde ich diese Fragen jedoch äußerst relevant und befürchte, so etwas dürfte im Gegenstandskatalog nicht vorgesehen sein.
3. Endlichkeit: Die Angst vor dem Tod S. 115/159
In diesem Kapitel entwickeln die Autoren ihre therapeutische Perspektive, die vor allem auf die Verleugnung der Unabwendbarkeit des Sterbens hinausläuft. Um diese Problematik systematisch erfassen und auswerten zu können entwickeln sie den Bochumer Fragebogen zur Einstellung zum Tod und zur Angst vor dem Tod (BOFRETTA, Mavrogiorgou & Juckel 2020). Der Fragebogen ist wie der Fragebogen zurzeitempfindung als Polaritätenprofil konstruiert mit den Antwortpositionen. Es gibt in diesem Fall 22 Items, die zur subjektiven Bewertung der Einstellung zum Tod auffordern, z.B. 8: Das Unbekannte, das mit dem Tod beginnt, macht mir Angst oder 19: Es tröstet, dass es für mich ein Weiterleben nach dem Tod gibt. Die Fragen lassen sich auf eine atheistische oder agnostische aber auch auf eine christlich religiöse Einstellung beziehen. An Anderer Stelle bezeichnet sich der Autor als Agnostiker und die Autorin als Christin (Juckel und Mavrogiorgou, 2023)
4. Liebe als Zuwendung: Gegenprinzip von Tod und Zeit? S. 166/188
In diesem kurzen Abschnitt entwickeln die beiden Autoren gleichzeitig mit einer hoffenden und wohl auch utopischen Perspektive ein sehr reflektiertes Plädoyer für die Anerkennung der Bedeutung der Liebe für den therapeutischen Prozess. Nach Turgenews Motto: >>Die Liebe ist stärker als der Tod und die Schrecken des Todes. Allein Liebe erhält und bewegt unser Leben<< wird herausgearbeitet, auf welche Weise die Liebe hilft, Todesangst zu bewältigen. Nötig sei dafür Agape, die nicht-sinnliche Weltliebe, eigentlich Gottesliebe, auch wenn vielfältige Beispiele auch Literatur, Religion und Philosophie, vor allem Ontologie, die Argumente untermauern. Genauso berechtigt wäre es, das Scheitern des Glaubens oder des Sozialismus auf einen Mangel an Liebe zurückzuführen.
An dieser Stelle kommen mir Zweifel hinsichtlich der Argumentation der Autoren. Die Fähigkeit zur Liebe setzt ja wie auch die zur Trauer eine große emotionale Reife voraus. Das, ich erkenne Dich uneingeschränkt an, trotz Deiner Fehler, ist wohl nicht zu erwarten, allenfalls ist es zu hoffen.
Uneingeschränkt gültig sind dagegen ihre Aussagen über die Bedeutung von Dialog und Intersubjektivität. Dass Begegnungen mit psychisch kranken Menschen oft Langzeitbegegnungen sind, da sie sich über viele Jahre erstrecken können, selbst wenn eine stationäre Behandlung heute manchmal nur wenige Tage andauert, ist ebenso wahr wie kaum mehr selbstverständlich, da der Druck der Kostenträger sich nicht auf dialogische Prozesse, sondern fast ausschließlich auf die Frage konzentriert, ob man einen gegebenen Patienten ohne Beziehungskontinuität modular oder sogar digital behandeln könnte (aus klinischer Behandlung entlassen muss man typischer Weise, sobald eine medikamentöse Einstellung abgeschlossen ist und der Patient in einem einigermaßen stabilen Zustand ist).
5. Fazit und Ausblick S. 193/195
6. Zusammenfassung S. 196/
Literatur S. 199
Diskussion
Das vorliegende Werk nährt die Hoffnung, dass die Barbarisierung und Ökonomisierung der Psychiatrie der letzten Jahre ein Ende finden wird. Nicht nur die unsägliche Zielsyndrompsychiatrie gilt es dabei hinter sich zu lassen sondern auch die Banalisierung der Psychopathologie, wie sie in ICD und DSM um sich gegriffen hat. Auch wenn die Autoren die Vorstellung von ‚Mehrfachdiagnosen‘ noch nicht aufgeben können (siehe Kommentar zu einer Kasuistik von Straus), kann natürlich nur ein Subjekt psychisch erkranken auf seine jeweils einzigartige Weise; auch die Vorstellung von Krankheiten, die die Person befallen, muss letztlich auch überwunden werden.
Dass es letztlich Liebe ist, die die Heilung bewirkt, vertreten die Autoren mit Freud gemeinsam, vgl. Krutzenbichler, Essers 1991. Und jeglicher therapeutische Prozess kann Heilung nur mittels sinnstiftende Erfahrung bewirken.
Fazit
Der handliche Text von Georg Juckel und Paraskevi Mavrogiorgou ist uneingeschränkt zu empfehlen. Er sollte natürlich auch von Medizin studierenden und zukünftigen Psychiater-innen gelesen werden. Er eignet sich aber auch sehr gut für Studierende der Sozialen Arbeit und Heilpädagogik, die mit diesem Buch eine hervorragende Einführung in eine humanistische Psychiatrie erhalten.
Literaturverzeichnis
Benedetti, Gaetano (1992): Psychotherapie als existentielle Herausforderung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Binswanger Ludwig (1956): Drei Formen missglückten Daseins, Tübingen: Max Niemeyer
Boss, Medard (1957): Psychoanalyse und Daseinsanalytik, Bern und Stuttgart: Hans Huber
Gebsattel, Viktor E. Freiherr von(1954): Prolegomenia einer Medizinischen Anthropologie, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer
Foucault, Michel (1973): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt: Suhrkamp
Frankl, Viktor E. (1966/2005): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse in Viktor E. Frankl: Gesammelte Werke Band 4, Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag
Fuchs, Thomas (2021): Randzonen der Erfahrung. Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie, Freiburg/München: Karl Alber
Heinz, Andreas (2023): Das kolonisierte Gehirn und die Wege der Revolte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Jaspers, Karl (1946): Allgemeine Psychopathologie. (Letzte von Jaspers bearbeitete Neuauflage)Heidelberg/​Berlin: Springer
Juckel, Georg und Paraskevi Mavrogiorgou (2023): Wie die Seele wieder Frieden findet. Warum die alten Geschichten der Bibel und heute Halt geben, Paderborn: Bonifatius
Krutzenbichler, Sebastian H. Und Hans Essers (1991): Muss denn Liebe Sünde sein. Über das Begehren des Analytikers, Freiburg: Kore
Mavrogiorgou & (2020): Bochumer Fragebogen zur Einstellung zum Tod und zur Angst vor dem Tod (BOFRETTA)
Scharfetter, Christian (2012) Scheitern. In der Sicht auf Psychopathologie und Therapie, Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis
Straus, Erwin (1935/1978): Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin/​Heidelberg: Springer
Yalom, Irving D. (1989) Existentielle Psychotherapie, Köln: Edition Humanistische Psychologie
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 21.08.2023 zu:
Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou: Zeit - Endlichkeit - Liebe. Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen. Schattauer
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-40067-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31174.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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