Richard Münch: Polarisierte Gesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.11.2024
Richard Münch: Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 449 Seiten. ISBN 978-3-593-51703-2. D: 45,00 EUR, A: 46,60 EUR.
Aufklärung statt Indoktrination
Lokal und global entwickeln sich Gesellschaften gespalten und uneins. Es sind die egozentristischen, populistischen und kapitalistischen Verläufe, die ein „Immer-Mehr“ und das „Sofort“ fordern, ohne Rücksicht auf Gemeinsamkeit und Gemeinwohl. Die natürlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, wie sie als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) postuliert wird – „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – scheint im öffentlichen Bewusstsein abhandengekommen zu sein.
Entstehungshintergrund und Autor
Die Spaltung der Gesellschaften in die Habenden und Habenichtse, in Kosmopoliten und Kommunitaristen, in Globalisten und Nationalisten, in Rationalisten und Traditionalisten, in Einheimische und Fremde…, bedarf der individuellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Der Bamberger Gesellschaftstheoretiker und Makrosoziologe Richard Münch legt eine Analyse vor, in der er Ursachen und Gründe der Spaltungstendenzen nennt, nach Möglichkeiten sucht und benennt, wie es gelingen kann, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt sein wollen: „Es geht nicht nur um die sachlich richtige Strategie, sondern elementar auch um die Teilhabe an der Machtausübung, die Entscheidung über Gemeinkosten und ihre Verteilung sowie zukünftige Chancen der Teilhabe zum Wohlstand“. Sozialwissenschaftlich betrachtet, kann sich eine Analyse der gespaltenen Gesellschaft einerseits kulturtheoretisch (Andreas Reckwitz) oder verteilungs- und konflikttheoretisch nähern; letzteres unternimmt der Autor, indem er „weniger Kulturtheorie und mehr … Konfliktsoziologie“ einbringt. Es sind Klassen- und Gruppenunterschiede und –kämpfe, die sich als „materielle Kämpfe um die Verteilung knapper Güter“ zeigen. Richard Münch richtet seinen Blick dabei auf die Möglichkeiten und Wirklichkeiten auf unternehmerischen, wirtschaftlichen Denkens und Handelns, wie ein gesellschaftlicher Zusammenhalt „zwischen globaler Vernetzung und lokaler Verwurzelung“ zustande kommen kann.
Aufbau und Inhalt
Neben Vorwort und Einleitung gliedert der Autor seine Arbeit, indem er die „Spaltungslinien der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft“ benennt – als den „Kampf um den richtigen Ort der Demokratie“, als Unterscheidung zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital, als politische Einstellung, als Widerspruch und Zusammenhang von „Ökonomie versus Ökologie“ (siehe dazu auch: Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php), als die Auseinandersetzung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Es wird deutlich: „Das Ende der klassen- und gruppenübergreifenden Solidarität in der Dienstleistungswirtschaft und Wissensökonomie“. Die industriellen und globalbestimmten, ökonomischen Aktivitäten lassen Begriffe und Gliederungen wie „Arbeiterklasse“ obsolet erscheinen: „Der Wandel vom Pluralismus zum Multikulturalismus (und Egoismus, JS) kennzeichnet eine Erosion der modernen Zivilgesellschaft durch ihre totale Politisierung“.
Als Treiber und Marker stellt sich „Populismus (als) Aufstand gegen die ‚abgehobenen‘ Eliten“ dar. „Die kulturalistische Deutung des Populismus verstellt… den Blick auf die politischen Beteiligungskämpfe und die ökonomischen Verteilungskonflikte“. Die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Ansprüchen verschwimmen hin zu Erwartungshaltungen und Forderungen zum „Ich“, dass das „Wir“ ausschließt. Die Prämisse, „dass bessere Bildung für alle nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die soziale Integration der Gesellschaft förderlich ist“, wird aber in den gespaltenen Gesellschaften wiederum zum ungerechten Bumerang von Bevorzugung und Benachteiligung, hin zu ungerechten Entwicklungen, dass die bereits Wohlhabenden und Mächtigen immer wohlhabender und mächtiger, und die Benachteiligten und Habenichtse immer ärmer und machtloser werden.
Die Suche nach gerechten Veränderungen und Lösungen bedingen, sich der Frage zuzuwenden: Wie kann wirtschaftliche Innovationskraft und gesellschaftlicher Zusammenhalt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus hergestellt werden? Der Autor differenziert vier Perspektiven: „Soziale Integration jenseits des geschlossenen Wohlfahrtsstaates“, als Teilhabe für alle Gesellschaftsmitglieder – „Bessere Bildung für alle“, als Chance, ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben zu führen – „Globale Vernetzung und lokale Verwurzelung im unternehmerischen Mittelstand“, als innovative, infrastrukturelle förderliche Politik – „Soziale Integration durch institutionalisierte Konfliktaustragung“, als Befreiung von „Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und Rollenzwängen“.
Diskussion
Der anthrôpos, der Mensch, ist in der Lage und fähig, seinen angeborenen Verstand zu benutzen. Es ist zu erinnern, dass das menschliche Lebewesen sein erd-, umwelt- und kosmosbewusstes Denken und Handeln aktivieren muss, hin zu einer tragfähigen, gegenwartsbestimmten und zukunftsorientierten Entwicklung (Brundtland-Bericht von 1987). Das Ideal einer „Massenwohlstandsgesellschaft“ ist gefährdet durch eine interessen- und klassengesellschaftliche Entwicklung.
Fazit
Es ist gut, hilfreich und weiterführend, dass Richard Münch wissenschaftlich die Tendenzen von gespaltenen, menschenunwürdigen Gesellschaften aufzeigt und Ansätze anbietet, wie sie verhindert werden können. Dass er sich dabei auf ökonomische Entwicklungen bezieht und anthropologische, kulturelle Verläufe nur streift, ist seinem professionellen, soziologischen Anspruch geschuldet.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 29.11.2024 zu:
Richard Münch: Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Campus Verlag
(Frankfurt) 2023.
ISBN 978-3-593-51703-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31181.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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