Gabriele Cloeters: Patriarchale Gewalt in der Türkei
Rezensiert von em. Prof. Dr. Süleyman Gögercin, 15.11.2023
Gabriele Cloeters: Patriarchale Gewalt in der Türkei. Eine Analyse feministischer medialer Gegenöffentlichkeit.
MARTA PRESS
(Hamburg) 2023.
548 Seiten.
ISBN 978-3-948731-07-6.
D: 58,00 EUR,
A: 60,00 EUR,
CH: 62,00 sFr.
Reihe: Aspekte.
Thema
Laut Studien sind rund ein Drittel der Frauen in der Türkei physischer Gewalt durch ihre (Ex-)Partner ausgesetzt (vgl. S. 38) und jedes Jahr werden hunderte Frauen vor allem von ihren Ehemännern, Partnern oder sonstigen Familienangehörigen getötet. In den ersten sieben Jahren der konservativen AKP-Regierung stieg die Zahl der Frauenmorde laut Angaben des Justizministeriums von 66 im Jahre 2002 auf über 1000 im Jahr 2009, damit um 1400 Prozent (vgl. S. 48). Nicht selten kommen Frauenmörder mit wenigen Jahren Haft davon.
Nicht zuletzt in Anbetracht dieser hohen Zahlen ist Gewalt gegen Frauen eines der zentralen Themen der letzten 40 Jahre in der Türkei. Seit den 1980er Jahren tun sich immer mehr Frauen in der ganzen Türkei zusammen, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzutreten und Öffentlichkeit herzustellen. Diese feministische Bewegung, flankiert durch die internationalen Prozesse im Bereich der Frauenmenschenrechte seit Mitte der 1980er Jahre und durch den EU-Beitrittsprozess der Türkei in 2000er Jahren, bewirkte die Einleitung rechtlicher Reformen mit Maßnahmen und Gesetzen zur Prävention von Gewalt gegen Frauen seit den 1990er Jahren.
So gehörte die Türkei zu einem der ersten Staaten, die das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (bekannt als „Istanbul-Konvention“) im Jahr 2011 unterzeichnet haben. Wie die Bezeichnung vermuten lässt, ist das Ziel dieses Übereinkommens unter anderem das Unterbinden des Problems der Gewalt gegen Frauen sowie Schutz und Unterstützung der Überlebenden patriarchaler Gewalt in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Im März 2021 verkündete jedoch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul Konvention. Dies trieb in der Türkei Tausende Menschen zu Protesten auf die Straßen und mobilisierte Frauenrechtlerinnen landesweit.
Die vorliegende Veröffentlichung analysiert die feministische mediale Gegenöffentlichkeit in der Türkei seit der Entstehungsphase der feministischen Bewegung vor dem Hintergrund feministischer Theorien von (Gegen-)Öffentlichkeit und kommunikationswissenschaftlicher Theorien alternativer Medien. Sie untersucht die patriarchalen Strukturen sowie soziale Normen und problematisiert zugleich die Einschreibung derselben auch in institutionelle Prozeduren.
Autorin
Dr. Gabriele Cloeters ist Turkologin und Historikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die feministischen Bewegungen in der Türkei sowie die türkeibezogene Migrationsforschung mit einem Schwerpunkt auf Genderaspekten von Flucht und Migration in der Türkei (rückwärtiges Deckblatt).
Bei dieser Publikation handelt es sich um die Dissertation der Autorin aus dem Jahr 2020 an der Fakultät für Geisteswissenschaften, Abteilung für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients der Universität Hamburg.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält acht Kapitel, einen Anhang und ein mit 75 Seiten sehr umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie eine Zusammenfassung.
Nach der mit rund 90 Seiten sehr umfangreichen Einleitung erfolgen der theoretische und methodologische Teil (Kapitel II.), der historische Kontext der feministischen Frauenbewegung (Kapitel III.) sowie vier Forschungskapitel zu den jeweiligen Zeitschriften Feminist, Pazartesi, Roza und feminist politika (Kapitel IV. – VII.) und die Schlussbetrachtungen (Kapitel VIII.). Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung.
In der Einleitung beschreibt die Autorin den Untersuchungsgegenstand, den Forschungsstand und die Einordnung der Studie. Sie geht auf die patriarchale Gewalt in der Türkei und die Relevanz des Problems als Forschungsgegenstand ein und verortet den Gewaltbegriff in der Studie. Bevor dann im letzten Teil der Einleitung der Aufbau der Studie dargelegt wird, wird die Quellenauswahl und der Quellenzugang erläutert und in die in den Forschungskapiteln analysierten vier Zeitschriften Feminist, Pazartesi, Roza und feminist politika eingeführt.
Im Kapitel II. stellt die Autorin die theoretischen und methodischen Grundlagen der Studie vor, indem sie zunächst (Abschnitt II.1) feministische Theorien von Öffentlichkeit umreißt wie das Konzept der subalternen feministischen Gegenöffentlichkeit von Nancy Fraser oder kommunikationswissenschaftliche theoretische Konzepte, die sich mit alternativen Medien auseinandersetzen. Des Weiteren wird ausgeführt, wie die theoretischen Konzepte für die Studie nutzbar gemacht werden. Zuletzt werden in diesem Abschnitt Begriffsbestimmungen vorgenommen und die Relevanz des theoretischen Konzeptes für die Analyse der ausgewählten vier Zeitschriften beschrieben. Im nächsten Abschnitt (II.2) erläutert die Autorin das methodische Vorgehen bei der Studie: die qualitative Inhaltsanalyse der vier Zeitschriften zum Thema der patriarchalen Gewalt.
In Kapitel III geht es um den historischen Kontext: Die feministische Frauenbewegung in der Türkei. Diese historische Einführung gibt einen Einblick in die verschiedenen Phasen feministischer Frauenbewegung sowie in das breite Spektrum von feministischem Aktivismus. Die Autorin geht zunächst auf den osmanischen Feminismus sowie auf den sogenannten „kemalistischen Staatsfeminismus“ ein. Es folgt eine kritische Betrachtung der Vereinnahmung von Frauenfragen durch die kemalistische Elite, die aufgrund mangelnder grundsätzlicher Veränderung patriarchaler Strukturen durch die kemalistischen Reformen innerhalb feministischer medialer Diskurse zentral ist. Der folgende Abschnitt (III.2) handelt von der sogenannten Neuen Frauenbewegung, die in den 1980er Jahren entstand und deren Medien im Zentrum der Studie stehen. Dieser Abschnitt wird für die nächsten Kapitel herangezogen, um die Inhalte der feministischen Zeitschriften vor ihren historischen und sozialen Hintergründen zu kontextualisieren.
In Kapitel IV. stehen die Inhalte der ersten autonomen feministischen Zeitschrift in der Türkei, Feminist, im Mittelpunkt der Analyse. Die Autorin betrachtet die Diskussionen der Zeitschrift zur Gewalt gegen Frauen als eine „feministische Gegenöffentlichkeit zur patriarchalen Gewalt“ in den 1980er Jahren. Neben einer radikal-feministischen Patriarchatskritik wird in der Zeitschrift Feminist insbesondere die weitverbreitete häusliche Gewalt in der Türkei öffentlich skandalisiert, der ideologische Standort bestimmt und es werden organisatorische Strategien gegen die Gewalt entwickelt. In ihrem Zwischenfazit ordnet die Autorin die Zeitschrift unter anderem „in die Zeit des Übergangs von der ersten Mobilisierung zu spontanen feministischen Protesten und Kampagnen, zu einer zunehmenden Konsolidierung und Institutionalisierung feministischer Politik gegen Gewalt gegen Frauen und weitere Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung“ ein (S. 228).
Das Kapitel V. analysiert die feministische Gegenöffentlichkeit zur patriarchalen Gewalt in der Zeitschrift Pazartesi. Die Autorin erläutert hier zunächst die Erweiterung der feministischen Öffentlichkeit der 1980er Jahre, bevor die Reflexion patriarchaler Gewalt vor dem Hintergrund der Institutionalisierung und Pluralisierung feministischer Politik im Laufe der 1990er Jahre und der institutionalisierten staatlichen Gewalt thematisiert sowie auf die Erweiterung der Frauenbewegung um Aktivistinnen mit unterschiedlichen sozialen, ethnischen und politischen Hintergründen eingeht. Nach einer Analyse der kritischen Betrachtung der rechtlichen Ebene und Analyse dessen, wie die Nachrichten aus feministischer Perspektive der Zeitschrift Pazartesi neu bewertet werden, erfolgt das Zwischenfazit, in dem die Autorin die Diskussionen in der Zeitschrift unter anderem als „eine Fortführung und Erweiterung der feministischen Diskurse zur patriarchalen Gewalt, wie sie in den 1980er Jahren in der feminist geführt wurden“ (S. 297), bewertet.
In Kapitel VI. werden die Inhalte der feministischen Gegenöffentlichkeit zur patriarchalen Gewalt in der kurdisch-feministischen Zeitschrift Roza betrachtet und die unterschiedlichen Schwerpunkte der kurdisch-feministischen Diskussionen zum Problem der Gewalt gegen Frauen, die auf dem ethnischen Hintergrund der Aktivistinnen basieren, herausgearbeitet. Analysiert wird zunächst die staatliche und kriegsbedingte Gewalt gegen Kurdinnen durch die massiven Frauenrechtsverletzungen im Rahmen des Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Nationalbewegung. Des Weiteren wird die kritische Betrachtung der staatlichen Assimilationspolitik und der intersektionelle Gewaltbegriff kurdischer Feministinnen analysiert. Zuletzt wird auf die Gewalt gegen Frauen innerhalb der kurdischen Gesellschaft eingegangen. Auch dieses Kapitel schließt mit einem Zwischenfazit, in dem festgehalten wird, dass „insbesondere der verschärfte Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurd*innen zur Zeit der Herausgabe der Roza sowie Positionierung als kurdisch-feministisch (.) die Diskussionen der Zeitschrift“ prägen (S. 352f).
Im letzten empirischen Kapitel VII. wird die feministische Gegenöffentlichkeit zur patriarchalen Gewalt in der Zeitschrift feminist politika analysiert, die auch als Online-Zeitschrift erschien. Die Analyse erfolgt vor dem Hintergrund des zunehmenden Konservatismus in Gesellschaft und Politik seit der Übernahme der Regierung durch die AKP im Jahr 2002 und dessen Folgen für patriarchale Gewalt aus feministischer Sicht. Nach einer systemkritischen Analyse („patriarchaler Kapitalismus, neoliberaler Neokonservatismus, gesellschaftlicher Militarismus“), wird die Kritik der Zeitschrift feminist politika an dem „hegemonialen“ Gewaltbegriff untersucht, der insbesondere durch die Medien, das Rechtssystem und durch die Politiker*innen getragen wird. Weiter wird die kritische Analyse des Rechtssystems durch die Zeitschrift untersucht, das trotz grundlegender rechtlicher Reformen gegenüber patriarchaler Gewalt nicht präventiv wirkt, da diese nicht zu einem Rückgang der Gewalt gegen Frauen führten, sondern die Zahl der Frauenmorde in den 2000er Jahren dramatisch zunahm. Vor dem Zwischenfazit dieses Kapitels widmet sich der nächste Abschnitt der feministischen Debatte um die Möglichkeiten und die Gefahren Neuer Medien für feministischen Aktivismus bezüglich der Gewalt gegen Frauen. Im Zwischenfazit hält die Autorin fest: „Die feminist politika analysiert patriarchale Gewalt aus einer sozialistisch-feministischen Perspektive heraus. Dabei bewertet die Zeitschrift sexistische gesellschaftliche Strukturen, die genderkonservative Politik und Rhetorik der AKP-Regierung, die wirtschaftliche Ausbeutung von Frauen, die mangelnde infrastrukturelle Unterstützung durch Frauenhäuser sowie die inkonsequente Anwendung von Gesetzen zur Prävention und Bestrafung von Gewalt gegen Frauen als strukturelle Grundlagen der Gewalt.“ (S. 414)
In den Schlussbetrachtungen (Kapitel VIII.) werden neben einem abschließenden Überblick der theoretischen Verortung der Studie die wesentlichen Ergebnisse der inhaltlichen Analysen vier feministischer Zeitschriften zusammengefasst und eine strukturkritische Analyse der Gewalt gegen Frauen vorgenommen. Eines der Ergebnisse ist die Feststellung, dass die Feministinnen sich „unterschiedlicher Strategien bedienen, um das Problem der Gewalt gegen Frauen zu thematisieren wie der tiefgreifenden Kritik gesellschaftlicher Tabus, der Politisierung der Privatsphäre, einer provokativen Sprache sowie der Verwendung einer spezifisch feministischen Terminologie und feministischer Slogans.“ (S. 423) Die Analysen zeigen ferner deutlich, dass die Zeitschriften auch Repräsentationsstrategien entwickelt haben, die Möglichkeiten des Widerstandes und des Protestes gegen die Frauenrechtsverletzung hervorheben und damit die Frauen nicht mehr nur den Status als Opfer von patriarchaler Gewalt haben.
Nach dem Aufzeigen der inhaltlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Zeitschriften wird abschließend festgehalten, dass patriarchale Gewalt in der Türkei in den gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen verankert ist und daher die Forderungen von Feministinnen auch auf deren Veränderungen hinzielen.
Diskussion
Mit ihrer Studie hat Cloeters ein hochaktuelles Thema aufgegriffen und das Problem der Gewalt gegen Frauen durch die Analysen von vier verschiedenen Zeitschriften als einen integralen Teil der feministischen Gegenöffentlichkeit im Rahmen der feministischen alternativen Medien untersucht. Die Studie zeigt, dass die untersuchten Zeitschriften das Problem der patriarchalen Gewalt gegen Frauen vor ihren historischen, sozialen, ideologisch-politischen und auch ethischen Hintergründen behandeln und mit jeweils anderen Schwerpunkten diskutieren. Als ein Teil der medialen Kultur setzen sie sich nicht nur für eine rechtlich-formale Gleichstellung von Frauen ein, sondern bringen auch die strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung auf die politische Tagesordnung.
Die Arbeit ist insgesamt sinnvoll gegliedert und theoretisch fundiert. Die Gliederungspunkte sind gut nachvollziehbar und differenziert behandelt. Die Arbeit ist in einer flüssigen, differenzierten Sprache verfasst und gut lesbar.
Fazit
Die Studie besticht durch gute und sorgfältige Aufarbeitung von Theorie, Diskussionsstand und engagierte und sehr gewissenhafte Durchführung der Empirie und Auswertung. Für Personen, die an den in dieser Veröffentlichung behandelten Themen interessiert sind, ist dieses Buch eine lohnende Lektüre.
Rezension von
em. Prof. Dr. Süleyman Gögercin
Duale Hochschule BW Villingen-Schwenningen, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 108 Rezensionen von Süleyman Gögercin.
Zitiervorschlag
Süleyman Gögercin. Rezension vom 15.11.2023 zu:
Gabriele Cloeters: Patriarchale Gewalt in der Türkei. Eine Analyse feministischer medialer Gegenöffentlichkeit. MARTA PRESS
(Hamburg) 2023.
ISBN 978-3-948731-07-6.
Reihe: Aspekte.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31185.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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