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Shaun Gallagher, Dan Zahavi: Bewusstsein und Welt

Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 30.10.2025

Cover Shaun Gallagher, Dan Zahavi: Bewusstsein und Welt ISBN 978-3-495-49224-6

Shaun Gallagher, Dan Zahavi: Bewusstsein und Welt. Phänomenologie und Kognitionswissenschaften. Verlag Karl Alber (Baden-Baden) 2023. 448 Seiten. ISBN 978-3-495-49224-6. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 51,50 sFr.
Reihe: Phänomenologie - 32.

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Autor:innen

Shaun Gallagher ist Professor für Philosophie an der Universität Memphis und Gastprofessor an der Universität Wollongong.

Dan Zahavi ist Professor für Philosophie und Direktor des Center for Subjectivity Research an der Universität Kopenhagen.

Thiemo Breyer ist Professor für Phänomenologie und Anthropologie sowie Direktor des Husserl-Archivs an der Universität zu Köln.

Thema

Das vorgelegte Buch versteht sich als Standardwerk zu grundlegenden Fragen der Phänomenologie bzw. zur „Philosophie des Geistes“ im Vergleich mit empirischen Kognitionswissenschaften (vgl. Rückseite des Buches). Das englische Original trägt den Titel: The Phenomenological Mind. Die beiden Autoren, Shaun Gallagher und Dan Zahavi, wollen eine Brücke bauen zwischen herkömmlicher Phänomenologie und den gegenwärtigen Entwicklungen in den Neuro-, den empirischen Kultur- und Kognitionswissenschaften. Ursprünglich ist das Werk 2012 erschienen und wurde für die dritte Auflage grundlegend überarbeitet, vor allem das dritte Kapitel (Bewusstsein und Selbstbewusstsein) (S. 5) wurde aktualisiert. Die beiden Autoren verstehen sich als kritische Phänomenologen (vor allem im Blick auf Edmund Husserl) im Hinblick auf komplexe Phänomene (z.B. in der Gehirnforschung) und sehen ihr Werk aber andererseits als Fortführung des Denkens von Edmund Husserl und auch Maurice Merleau-Ponty und anderen Strömungen der Phänomenologie. Die Phänomenologie versteht sich traditionell als philosophische Methode, die sich auf die Strukturen von Erfahrung, Bewusstsein und Subjektivität bezieht (vgl. Edmund Husserl (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, erstes Buch…; Maurice Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung). Gallagher und Zahavi versuchen dabei, Beschreibungen aus der phänomenologischen Methode in Beziehung zu empirischen Ansätzen zu setzen. Das „Phänomen“ wird hier wörtlich aus dem Griechischen verstanden als etwas, das mir in den Weg tritt bzw. als Erscheinung. Hier entsteht dann sogleich zwischen Philosophie und Naturwissenschaften eine erste Konfliktszene, denn in den Naturwissenschaften geht es um Kausalzusammenhänge. Die Grundfrage von Gallagher und Zahavi ist: Wie können empirische Daten und naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit phänomenologischer Erkenntnis und Herangehensweise kombiniert werden? Grundsätzlich werden Bewusstsein und Selbstbewusstsein voneinander unterschieden; das Selbstbewusstsein wiederum wird in ein nachdenkendes (=reflexives) und in ein vorreflexives unterteilt. Das vorreflexive Selbstbewusstsein ist im Phänomen schon in der Erfahrung vorhanden, bevor über die Erfahrung nachgedacht wird. Für die subjektive Erfahrung ist das Zeitbewusstsein in Widerfahrnissen entscheidend, also Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Sowohl das Bewusstsein im Allgemeinen als auch im Speziellen das Zeitbewusstsein sind immer intentional, d.h. auf etwas gerichtet, also Bewusstsein von etwas. Beide Autoren diskutieren an verschiedenen Stellen des Buches, wie Wahrnehmung und Erkenntnis und Erfahrung und intentionales Bewusstsein zusammenhängen und wie wir als Leib-Seele-Einheit auf die Welt ausgerichtet sind bzw., wie Welterfahrungen, also im eigentlichen Sinn Phänomene, kontextualisiert werden. In Bezug auf die Leib-Seele-Einheit orientieren sich Shaun Gallagher und Dan Zahavi eher an Maurice Merleau-Pontys als an Edmund Husserls Verständnis des Leibseins, das eben sowohl Wahrnehmung, Selbstbewusstsein und Bewusstsein prägt. Die sich aus dem Verhältnis ergebenden Fragen sind die nach Handlung als Intention, Beweggrund der Handlung, Akteur:innen der Handlung und Praxis und wie Menschen qua Handlung in ihrem Leib-Seele-Sein in Kontakt mit anderen Menschen kommen können. Weiter: Wie kommt es infolge dieses Beziehungsgeflechts zur Erkenntnis von Fremdbewusstsein? In diesem Zusammenhang kommen die beiden Autoren dann zu einem umfassenden Verständnis von Empathie und Intersubjektivität und auch ein wenig zur Intrasubjektivität. Im Unterschied zu den Mainstream-Strömungen gegenwärtiger Gehirnforschung gehen die beiden Autoren nicht von einem hierarchischen Körpermodell aus, in dem das Gehirn eine zentrale und hierarchisch höchste Stelle einnimmt. Im Kontext dieses Körpermodells werden dann Identitäts- und Kohärenzstrukturen des Selbst diskutiert. Bewusstsein könne nicht vom Körper losgelöst betrachtet und gedacht werden. Der Leib bzw. der reflektierende Körper des Menschen sei konstitutiv für Erfahrung, Handlung und auch für das Selbst. Hier liegt der phänomenologische Beziehungsansatz zugrunde, der die Phänomenologie insgesamt prägt.

Gliederung

Das Buch gliedert sich in 11 Kapitel. Bis auf das Einführungs- und Schlusskapitel (11. Kapitel) sind jedem Kapitel vertiefende Literaturangaben beigefügt.

  • Kapitel 1: Einführung: Philosophie des Geistes, Kognitionswissenschaft und Phänomenologie, S. 15–35.
  • Kapitel 2: Methodologie, S. 37–88.
  • Kapitel 3: Bewusstsein und Selbstbewusstsein, S. 89–124.
  • Kapitel 4: Zeit, S. 125–154.
  • Kapitel 5: Intentionalität, S. 155–192.
  • Kapitel 6: Wahrnehmung, S. 193–232.
  • Kapitel 7: Der verkörperte, eingebettete und erweiterte Geist, S. 233–278.
  • Kapitel 8: Handlung und Handlungsfähigkeit, S. 279–310.
  • Kapitel 9: Wie wir Andere verstehen, S. 311–363.
  • Kapitel 10: Selbst und Person, S. 365–396.
  • Kapitel 11: Konklusion, S. 397–403.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 405–436) und ein gemischtes Register (Namen und Sachen) (S. 437–448) beschließen das Buch.

Inhalt

Ad 1:

In der Einleitung wird der Begriff „Geist“ (englisch mind) thematisiert; dieser bezieht sich im weitesten Sinn auf „Mentalität“ (S. 13). Beide Autoren geben dann einen Querschnitt über die letzten 120 Jahre Debatten zum Begriff „Geist“ in philosophischer und psychologischer Hinsicht (S. 16). Exemplarisch werden Frege – Husserl – Stumpf – Russell aufgeführt (S. 17). Die Debatte verschob sich bei den Experimentalpsychologen in Richtung des Begriffs „Bewusstsein“ (S. 19). Zu den Diskursen der Natur- und Geisteswissenschaften gesellen sich heutzutage noch die Neurowissenschaften hinzu (S. 23). In diesem wissenschaftlichen Dreieck hat sich auch die Phänomenologie als Methode der Philosophie etabliert, die „dem untersuchten Phänomen Aufmerksamkeit“ schenken möchte (S. 25). Edmund Husserl versteht unter Phänomenologie eine Analyse, „wie die Dinge erlebt werden“ (S. 25). Die beiden Autoren schreiben dazu: „Eine wichtige Vorbedingung des Geistes ist folglich, dass sie eine phänomenologisch sensible Beschreibung der vielfältigen Strukturen der Erfahrung einbeziehen soll.“ (S. 25). Die Phänomenologie versucht also, Wahrnehmung zu sortieren und bestimmte Erfahrungsstrukturen der Wahrnehmung zu analysieren (S. 29). Es geht um die Erlebnisqualität von Wahrnehmung und um einen phänomenologischen Zugang zum Bewusstsein, zur subjektiven Erfahrung und zum Selbstbewusstsein – alles Herausforderungen des „Geistes“.

Ad 2:

In diesem Kapitel werden methodologische Fragen beantwortet, z.B. geht es um Kognition und Bewusstsein (S. 37) oder auch um eine Perspektive zur ersten und dritten Person (S. 37). In der Hirnforschung wird im Moment z.B. die Beobachtungsperspektive der dritten Person favorisiert, die für die Hirnforschung essenziell sein dürfte. Die erste Person-Perspektive ist dann wiederum im psychologischen Experiment wichtig, wenn es um die Erfahrung der Versuchsperson geht (S. 39). Diese Innenperspektive ist „eine Tätigkeit des reflektierenden Bewusstseins“ (S. 40). Die Unterscheidung von innen und außen unterliege aber, so die beiden Autoren, einem naturalistischen Trugschluss einer „naiven Alltagsmetaphysik“ (S. 49). Die Welt existiere, so Husserl, unzweifelhaft und die Hauptaufgabe der Phänomenologie bestehe darin, „diese Unbezweifelbarkeit … wirklich zu verstehen und ihre Legitimität zu prüfen, was aber unmöglich ist, solange wir ihre Gültigkeit einfach als gegeben hinnehmen …“ (S. 52). Husserl nennt dieses Reduktionsverfahren Epoché (S. 53). Dieser Begriff stammt aus dem Griechischen und meint Zurückhaltung bzw. ein Sich-Enthalten-von-Urteilen (vgl. Gustav Eduard Benseler u.a.: Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch. 13. Auflage. B. G. Teubner, Leipzig 1911; Spaltenangabe mit ~: Lexikon-Stichwort έποχή, Seite 341). Bei Husserl dient diese Zurückhaltung methodisch dazu, dass vorgefasste Urteile bei der subjektiven Betrachtung von Phänomenen keine Rolle spielen (sollen). Letztlich versuchen Gallagher und Zahavi, indem sie auf diesen Husserl‘schen Begriff zurückgreifen, zu verdeutlichen, dass sich phänomenologische Analyse und empirische Forschung nicht ausschließen, sondern sich sogar komplementär zueinander verhalten können. Hier liegt ein Unterschied zum Phänomenologie-Prozess nach Husserl vor, der die Phänomenologie als strenge Wissenschaft verstanden hat, die nicht auf naturwissenschaftliche Erklärungen oder psychologische Beschreibungen verwiesen ist. Epoché wird bei Gallagher und Zahavi so verstanden, dass es auf die Reduktion des Datenmaterials ankomme, d.h. wie das Phänomen unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist. Husserl versteht die Epoché als „Ausschalten“ oder „Einklammern“ aller Vorannahmen über die Existenz der Welt. Anders als bei Gallagher und Zahavi wird bei Husserl das reale Dasein der Dinge ausgeklammert, um sich ganz auf den Modus zu konzentrieren, wie die Dinge dem Wahrnehmenden erscheinen (S. 53f). Trotzdem fragen auch Gallagher und Zahavi nach den „ursprünglichen Formen des Verstehens, die unserem Glauben an Objektivität vorausgehen“ (S. 55): Wie konstituiert sich also Objektivität bzw. wie ist die Erscheinung von Objekten? Epoché und phänomenologische Reduktion sind miteinander verbundene Elemente (S. 56): „Sobald wir die phänomenologische Einstellung einnehmen, achten wir darauf, wie öffentlich zugängliche Objekte … in unserer Erfahrung erscheinen.“ (S. 57) es geht also um die „Erfahrungsstrukturen“ und „Verstehensweisen“, „mit denen diese Arten der Erscheinung korreliert sind.“ (S. 57) Zudem geht es Gallagher und Zahavi – im Unterschied zu Husserl – auch um das erlebende Subjekt (S. 58) und so lässt sich bei Husserl definieren: „Die Epoché und die Reduktion sind Elemente des Reflexionsprozesses, der die Phänomenologie zu einem transzendentalen philosophischen Unternehmen macht.“ (S. 59) Anders als Husserl lassen die beiden Autoren demgegenüber auch Aussagen und Erkenntnisse anderer Wissenschaften zu und verdeutlichen dieses Verfahren zum Beispiel am Phänomen von Sinnestäuschungen (S. 73ff). Im Prinzip geht es Husserl und den Neo-Phänomenologen um das „reine“ Phänomen, also um die reine Erfahrung und ihren intentionalen Strukturen. Husserl formulierte den Leitsatz der Phänomenologie: „Zu den Sachen selbst!“ Husserl analysierte das Bewusstsein von oben als Struktur der Erfahrung; Gallagher und Zahavi verstehen das Bewusstsein – in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty – als gelebte leiblich-soziale Erfahrung. So öffnen die beiden die Phänomenologie hin zur empirischen Forschung, vor allem zur qualitativ-empirischen Forschung (S. 78ff).

Ad 3:

In diesem Kapitel geht es um die Frage nach unbewussten Wahrnehmungen und unbewussten Handlungen (z.B. Routinen im Straßenverkehr), also um das Verhältnis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein (S. 81). Das Selbstbewusstsein wird hier als Merkmal einer Erfahrungsdimension charakterisiert, d.h., immer dann, wenn reflektiert wird, ist ein Bezug zu einem Etwas hergestellt (S. 91), d.h. als Erlebnis bereits vor der Reflexion vorhanden. Dass Bewusstsein immer schon ein Bewusstsein von etwas ist, wird in der Phänomenologie als Intention bezeichnet und bezieht sich zuerst auf die Erste-Person-Perspektive. In der Fachdiskussion werden unterschiedliche Formen des Selbstbewusstseins unterschieden (S. 93–96). Gallagher und Zahavi gehen davon aus, dass jeder bewussten Erfahrung ein Selbsterleben vorausliegt, d.h., es gibt eine Wahrnehmung, ohne dass darüber nachgedacht werden muss, was als präreflexives Selbstbewusstsein eingeführt wird (S. 96ff). Das reflexive Selbstbewusstsein meint dann das bewusste Nachdenken über das Ich des Subjekts und das präreflexive Selbstbewusstsein kennzeichnet die in jeder Erfahrung vorhandene und vorausgesetzte Selbstbezogenheit. Die beiden Autoren rekurrieren mit dieser Sentenz zwar auch auf Edmund Husserl (S. 100), darüber hinaus aber auch auf Husserls Lehrer Franz Brentano (S. 103) und kommen zur folgenden These. „Das Selbstbewusstsein unterscheidet sich nicht nur vom normalen Objektbewusstsein, sondern ist überhaupt kein Objektbewusstsein.“ (S. 105) Aber das reflexive Selbstbewusstsein ist dagegen ein „explizites, begriffliches und objektivierendes Bewusstsein…“ (S. 114). In der Reflexion wird Erfahrung transformiert (S. 117).

Ad 4:

In diesem Kapitel wird die phänomenologische Konstruktion der Zeit bzw. Zeitlichkeit angegangen (S. 125). Gallagher und Zahavi diskutieren Erkenntnisse der Gedächtnisforschung und kommen dabei auf den Zusammenhang von Retention (Behalten) – Protention (Vorausgriff) und Konstitution der Gegenwart (S. 134ff): „Wenn ich etwas habe, verschwindet jeder auftretende Bewusstseinsmoment nicht einfach im nächsten Moment, sondern wird in einer intentionalen Gegenwart aufrechterhalten und bildet so eine Kohärenz, die sich über eine erlebte zeitliche Dauer erstreckt.“ (S. 136) Zeit ist also kein scharf abgrenzbarer Rahmen, sondern Kontinuum, das das Bewusstsein gestaltet – das Erleben selbst hat eine temporale Struktur (S. 141f). Erinnerung und (zukünftige) Erwartung werden so in der Erfahrung verankert (S. 148): „Die menschliche Zeit ist die Zeit unserer Lebensgeschichten. Sie ist eine erzählte Zeit, eine Zeit, die durch die symbolischen Vermittlungen von Erzählungen strukturiert und artikuliert wird…“ (S. 154).

Ad 5:

Das Konzept der Intentionalität bedeutet, dass sich Bewusstsein auf etwas richtet (S. 155) – es geht immer um die Beziehung auf einen Inhalt, um eine Richtung, um ein Objekt oder eine immanente Gegenständlichkeit (S. 158): „Vielmehr ist >Intentionalität< ein allgemeiner Begriff für das über sich selbst hinausgehende Sich-Ausrichten des Bewusstseins … Intentionalität hat mit der Gerichtetheit oder dem >Von-Sein< … des Bewusstseins zu tun, das heißt mit der Tatsache, dass, wenn man wahrnimmt oder urteilt oder fühlt oder denkt, sich der geistige Zustand auf etwas bezieht oder von etwas handelt.“ (S. 159) Unterschieden werden verschiedene Formen von Intentionalität, wie z.B. Wahrnehmungsintentionalität, Gedenkintentionalität oder Handlungsintentionalität (S. 173–178). Jede Erscheinung ist eine Erscheinung von etwas für jemanden (S. 179). Intentionalität ist also konstitutiv für das Bewusstsein, aber auch für das Selbst (S. 183) – Intentionalität wird dabei aus einer erstpersonalen Perspektive wiedergegeben (S. 191).

Ad 6:

Wahrnehmung wird als intentionaler Akt verstanden und die Welt ist in der Wahrnehmung „konkret, sinnlich und anschaulich“ (S. 193). In diesem Kapitel erörtern Gallagher und Zahavi zudem die Ansätze von Husserl und Merleau-Ponty zum Thema Wahrnehmung. Wahrnehmung ist kein passives Aufnehmen von Reizen, sondern stellt eine aktive, intentionale Beziehung zur Welt her und die „Direktheit der Wahrnehmung bedeutet, dass es keine Vermittlungsinstanz (Bild oder Repräsentation) zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt gibt.“ (S. 197) In der Phänomenologie wird der Wahrnehmung eine primäre Rolle zugestanden („Primat der Wahrnehmung“) (S. 205). Wahrnehmung ist die anthropologische Möglichkeit, der Welt Sinn und Bedeutung für den Wahrnehmenden zu geben (S. 222). Beide Autoren orientieren sich in diesem Kapitel stärker an Merleau-Ponty als an Husserl, denn sie übernehmen von Merleau-Ponty den Primat der Wahrnehmung: Im Vordergrund steht die sinnlich gegebene Wahrnehmung als Basis philosophischen Nachdenkens – der Körper, d.h. der Leib, ist in seiner Körperlichkeit/​Leiblichkeit bei Merleau-Ponty ursprünglich Subjekt, denn er eröffnet die Welt-Beziehung des Menschen und er ist zugleich die Bedingung der Wahrnehmung und des Erlebens. Die Erfahrung des Subjekts ist eingebettet in eine „In-der-Welt- und in eine Mit-der-Welt-Dimension“. Subjekt-Objekt-Differenzierungen verschwimmen in diesem Modell. Die Leib-Wahrnehmung und Welt sind bei Merleau-Ponty miteinander verwoben. Bei Husserl erscheint der Leib als „Körperding“ innerhalb der intentionalen Welt des Bewusstseins (Husserl 1931, Ideen II) und erweitert das Bewusstsein als transzendentales Bewusstsein; bei Merleau-Ponty bleibt der Leib der Ort der Weltöffnung und ist deswegen auch kein Objekt, sondern Subjekt der Wahrnehmung: Der Leib hat die Welt nicht – er ist im Gegenteil in der Welt. Wahrnehmung ist bei Husserl ein intentionaler Akt des Bewusstseins, der Gegenstände als Gegebenheit konstituiert. Merleau-Ponty sieht Wahrnehmung als primär an; sie ist zuerst vorreflexiv und dabei weltöffnend und so Ursprung von Erkenntnis. Auch die Reduktion bzw. die Epoché unterscheidet sich bei beiden Denkern. Bei Husserl ist eine Reduktion das Einklammern aller Sinneswahrnehmungen, um zum reinen Bewusstsein zu kommen und Merleau-Ponty sieht das Bewusstsein immer schon als leiblich und situiert und immer schon in die Welt verwoben, sodass eine vollständige Epoché unmöglich ein dürfte. Gallagher und Zahavi sehen im Bewusstsein ein leiblich-situiertes Moment: Das Bewusstsein entstehe in der Welt und sei nicht losgelöst von ihr – Husserl charakterisiert das Bewusstsein als transzendentales Bewusstsein, das die Bedeutung und Ordnung der Welt herstelle.

Ad 7:

In diesem Kapitel sehen die beiden Autoren, dass der „Geist“ verkörpert, eingebettet und erweitert sei, aber nie losgelöst sein könne vom Leib (S. 233): „Kognition ist nicht nur verkörpert, sondern situiert und in die Welt eingebettet, und zwar, weil sie verkörpert ist.“ (S. 237) Der Körper sei kein Objekt, sondern Subjekt: „Der Körper ist keine Trennwand zwischen mir und der Welt; vielmehr prägt er unsere primäre Weise, in-der-Welt zu sein.“ (S. 245) Der Körper ist also nicht neutral, sondern mit Gefühlen, Trieben, Empfindungen usw. ausgestattet (S. 248): Ich bin Leib (S. 260).

Ad 8:

Im englischen Original wird Handlungsfähigkeit mit Agency wiedergegeben. Die Grundfrage des Kapitels ist: Wie geht Bewusstsein in Handeln über und was bedeutet überhaupt „Handeln“? Der Werkzeugbereich des Menschen ist dabei relativ klar (S. 281) – aber was ist zum Beispiel mit reflexartigen Bewegungen? Einige Phänomenologen beschreiben diese Bewegungen als „subintentional“ (Brian O‘ Shanghnessy) andere als präintentional (Mark Rowlands) (S. 283). Das bedeutet aber, dass auch diese Handlungen als teleologische Handlungen zu identifizieren seien (S. 284) und „wir müssen die gelebte Situation berücksichtigen, in der sie stattfinden…“ (S. 284). Eine Handlung sei immer dann intentional, wenn mit einem Ziel vor Augen gehandelt wird oder es einen bestimmten Grund zu handeln gibt (S. 287). Ein Bewusstsein von Handlungen aufzubauen, setze voraus, die Handlung in kleine Teilschritte zu zerlegen (S. 290). Gallagher und Zahavi untersuchen dabei die Intentionalität in Aktion und auch die Rolle praktischer Vernunft: Wann wird eine Handlung als die eigene Handlung erkannt? (S. 294ff): „Sowohl das Gefühl der Handlungsfähigkeit als auch das Gefühl der Zugehörigkeit sind vollkommen verkörpert und situiert. Sie beinhalten leibliche Bewegung, das periphere Nervensystem (Proprizeption, Kinästhesie), autonome und vestibuläre Prozesse sowie affektive und intentionale Aspekte“, Handlungsfähigkeit und tatsächliche Handlungen seien komplexe leibliche Systeme konstituiert durch die Handlung selbst auf das dazugehörige Bewusstsein (S. 299).

Ad 9:

Soziale Kognition, Empathie und Intersubjektivität sind das Thema dieses Kapitels im Blick auf das Verstehen bzw. das Bewusstsein anderer Menschen. Zwei klassische Theorien wie „Theory of Mind“ und die „Simulationstheorie“ werden dargestellt und kritisch geprüft. Gerade die Simulationstheorie gewinnt in den Neurowissenschaften immer mehr an Bedeutung. Gallagher und Zahavi sehen jedoch in der neurowissenschaftlichen Datenlage auch „alternative und sparsamere“ Interpretationsmöglichkeiten (S. 325). Die beiden Autoren plädieren deshalb für eine empathische Wahrnehmung des Anderen: „Wir gehen von der Anerkennung der Tatsache aus, dass sich der Körper des Anderen radikal von jeder anderen physischen Entität unterscheidet und dass sich unsere Wahrnehmung der körperlichen Präsenz des Anderen dementsprechend von der Wahrnehmung physischer Dinge unterscheidet. Der Andere ist in seiner körperlichen Präsenz als ein gelebter Leib gegeben, ein Leib, der sich aktiv an der Welt beteiligt“ (S. 329). Das Moment der Einfühlung und damit verbunden der Analogieschluss sind bedeutsam (S. 332): „… meine Erfahrung meiner eigenen Subjektivität muss eine Antizipation des Anderen enthalten.“ (S. 325) Gallagher und Zahavi plädieren für einen direkten Zugang zu anderen Menschen nicht über inferenzielle Prozesse, sondern qua „leiblicher“ empathischer Einfühlung. Wir verstehen andere Menschen also nicht durch theoretische Schlussfolgerungen, sondern durch direkte, leiblich vermittelte Begegnung und durch die Befähigung zur Empathie. Intersubjektivität wird so als ein grundlegendes anthropologisches Merkmal qualifiziert.

Ad 10:

Das Kapitel 10 ist spannend, weil es die Beziehung zwischen selbst und Person zu klären versucht. Die Autoren gehen zuerst einmal von unterschiedlichen wissenschaftlichen Definitionsversuchen des Selbst aus (S. 365), was nicht als Nachteil, sondern als komplementäre Bereicherung empfunden wird. Das Selbst muss immer wieder neu gefunden werden und es ist eingebettet in eine bestimmte Narration (S. 370): „Das Selbst ist kein Ding, es ist nichts Festes und Unveränderliches, sondern etwas, das sich weiterentwickelt.“ (S. 370) Das Selbst werde mitunter durch eine „narrative Selbstinterpretation konstruiert“ (S. 371). Dieser narrative Ansatz betont sowohl die zeitliche als auch soziale Dimension des Selbstseins (S. 371): „Wer wir sind, hängt von der Geschichte ab, die wir (und Andere) über uns erzählen.“ (S. 372) Dieses narrative Selbst ist „jedoch nichts substanziell Reales“ (S. 373). In diese Narration des Selbst sind meine Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen eingebettet, die in Gänze mich erst zur Person werden lassen (S. 379) – mit „Person“ ist also das Ergebnis meiner „kommunikativen Verflechtung“ gemeint (Husserl) (S. 380).

Ad 11:

In ihrem Schlusskapitel fassen die beiden Autoren zusammen, dass die philosophische Methode der Phänomenologie für sie eine Grundlage für die Theorie des Geistes sein kann. Bewusstsein zu verstehen, sei als integrativer Prozess von Erfahrung, Leiblichkeit und sozialer Interaktion und Intentionalität zu fassen. Beide Autoren unterscheiden dabei die Bedeutung der erstpersonalen Perspektive (S. 403).

Diskussion

Gallagher und Zahavi argumentieren gegen Husserls Auffassung der Phänomenologie als „strenger Wissenschaft“ für eine Verbindung zwischen Phänomenologie und modernen Kognitionswissenschaften: „Geist“ wird als verkörperte, situierte soziale Erfahrung verstanden. Ihre zentrale Frage lautet: Wie entsteht Bewusstsein im Zusammenspiel von Körper, Geist und Umwelt? Husserl stellt demgegenüber die einfache Frage: Wie sind Erkenntnis und Erfahrung von Welt überhaupt möglich? Husserl bevorzugt die Methode der Reduktion, die von Gallagher und Zahavi als unzureichend kritisiert wird. Erfahrung soll in ihren Alltagsmodi und leiblich-sozialen Kontexten verstanden werden. Bewusstsein entstehe nicht losgelöst von der Welt, sondern in ihr. Husserl setzt dagegen, dass Bewusstsein – in einem Kant‘schen Sinn – die Bedeutung und Ordnung der Welt konstituiere. Deshalb ist bei Husserl Bewusstsein immer auch zugleich transzendentales Bewusstsein. Die Husserl‘sche Vorstellung, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas sei, wird übernommen, aber gleichzeitig auch um die körperliche und handlungsbezogene Dimension erweitert. Auch das präreflexive Selbstbewusstsein wird übernommen, jedoch fokussiert als Basis für ein Selbst- und Weltverständnis. In dieser Vorstellung setzen aber Gallagher und Zahavi voraus, dass der „Leib“ des Menschen konstitutiv für Bewusstsein, Wahrnehmung, Handlung und Denken sei – all das sei „verkörpert“. Das Subjekt wird bei beiden Autoren als „verkörperte eingebettete Person“ wahrgenommen. Bei Husserl ist das Subjekt transzendentales ICH.

Menschliches Bewusstsein und Handlungsfähigkeit des Menschen lassen sich weder auf Gehirnprozesse noch auf kybernetische Informationsverarbeitung reduzieren, weil Bewusstsein immer „verkörpert, situiert und intentional“ und in der Welt verankert sei und durch den Leib vermittelt werde und Bewusstsein auf etwas und dessen Bedeutung gerichtet bleibe. Das subjektive Erfahren sei keine Innerlichkeit, sondern Basis jedes Verstehens von Geist, Handlung und Erkenntnis. Die gelebte Erfahrung wird in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, was präreflexives Selbstbewusstsein, Leiblichkeit und Intersubjektivität miteinschließt. Das Buch stellt für einen ungeübten Lesenden harte Kost dar, die sich aber lohnt, wenn genügend Geduld und Zeit aufgewendet wird. Die Sprache der beiden Autoren ist nicht barrierefrei, sondern immer wieder auch philosophisches Kauderwelsch. Trotzdem sind die Seitenblicke auf Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty sehr lohnend und können die Position der beiden Autoren schärfen.

Fazit

In ihrer Einführung wollen die beiden Autoren Dinge so beschreiben, wie sie unmittelbar wahrgenommen werden und ins Bewusstsein treten. Gallagher und Zahavi nehmen die grundsätzlichen Annahmen Husserls auf, erweitern sie aber um empirische Zugänge aus den Kognitions- und Neurowissenschaften. Wer genügend Geduld beim Lesen aufbringt, wird belohnt und erkennt, was letztlich Phänomenologie bedeutet.

Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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ISSN 2190-9245