Corina Caduff, Christoph Schlingensief u.a.: Ein letztes Buch
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.08.2023

Corina Caduff, Christoph Schlingensief, Christopher Hitchens, Cory Taylor, Jenny Diski u.a.: Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben. rüffer & rub Sachbuchverlag (Zürich) 2023. 2. Auflage. 256 Seiten. ISBN 978-3-907351-22-2. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 35,00 sFr.
Sterben ist natürlich
Jedes Lebewesen, ob Pflanze, Tier, Mensch, ist endlich! Entstehen – Leben – Vergehen ist ein biologischer und ontologischer Prozess! Die anthropologische Betrachtung des Endlichkeitsbewusstseins beginnt mit der Frage: „Wer bin ich“, und den Nachfragen: „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“ (Kant). Wenn ein Tod nicht abrupt, gewaltsam oder als Unfall eintritt, sondern sich im Lebensprozess ereignet, kommt es darauf an, sich der Endlichkeit bewusst zu sein und ein gutes Sterben zu erhoffen (vgl. z.B.: Otfried Höffe, Die hohe Kunst des Alterns, 2018,). Das Nachdenken über das eigene Sterben vollzieht sich individuell und insgeheim; es kann aber auch ein gemeinschaftlicher, öffentlicher Akt sein. Über diese Form des Sterbe-Denkens geht es hier!
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
In der Literaturgeschichte haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder darüber nachgedacht – und ihre Gedanken zu Papier gebracht – wie sie sich ihr eigenes Sterben vorstellen, erhoffen, wünschen (K. H. Kromberg, Hrsg., Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf, Goldmann-Tb 6889, 11/85, 290 S,). Es sind autobiographische und erdachte Sterbeberichte, die im wissenschaftlichen, anthropologischen Diskurs thematisiert, erforscht und veröffentlicht werden; z.B. beim Forschungsprojekt „Sterbesettings“, das von der Berner Fachhochschule 2020 – 2023 unter der Leitung der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Corinna Caduff durchgeführt wurde. Das Forschungsteam analysierte neun literarische Sterbebücher von Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren unheilbaren, meist langwierigen und schmerzhaften Erkrankungen öffentlich und literarisch auseinandergesetzt haben und „das Erleben des eigenen Sterbens thematisier(t)en“. Im literarischen Diskurs wird diese Form der autobiographischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod als „Sterbeliteratur“ eingeordnet: „Im Sterben muss man sich nicht nur von der Welt, von allen Nächsten und von allem Tun und Lassen verabschieden, sondern auch von sich selbst; vom eigenen Bewusstsein, vom eigenen Körper, von den eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen“. Bei der Auswahl der präsentierten „Sterbeliteratur“ haben die Forscherinnen und Forscher zum einen das zunehmend wahrzunehmende öffentliche Interesse an der Thematik von Sterben und Tod aufgegriffen, zum anderen setzen sie sich damit auseinander: „Wie stirbt man in unserer hochgradig individualisierten westlichen Gesellschaft…?“. Sie wählen aus der (aktuellen) zahlreichen, vielfältigen „Sterbeliteratur“ zu Lebzeiten und posthum erschienenen Erzählungen und Berichten Arbeiten von Christoph Schlingensief (1960 – 2010), Christopher Hitchens (1949 – 2011), Cory Taylor (1955 – 2016), Jenny Diski (1947 – 2016), Péter Esterházy (1950 – 2016), Michael Paul Gallagher (1939 – 2015), Paul Kalanithi (1977 – 2015), Julie Yip Williams (1976 – 2018), und Roth Schweikert (geb. 1964, gestorben 2023) aus.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung durch die Herausgeberin, werden mit den ausgewählten Sterbeberichten Fenster und Türen aufgemacht, um sich bewusst zu werden und zu traue(r)n, die Tatsache des eigenen endlichen Lebens in den Blick und in das Bewusstsein zu nehmen. Der Autor, Aktionskünstler und Regisseur Christoph Schlingensief (1960 – 2010) hat mit dem Tagebuch seiner Krebserkrankung versucht, seinem Sterben sein Leben und seine Hoffnungen entgegen zu setzen: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“. Es ist die Balance zwischen der Wahrnehmung der tödlichen Diagnose (Krebs) und den Willens- und Hoffnungsanstrengungen, dass „jede Krankheit ( ) eine Kraft (ist), die zur Schöpfung gehört, sie ist ein Teil dieser Schöpfung, die man nicht einfach einsperren (oder ignorieren, JS) darf“. Es sind Halteseile und Fallstricke, die hinführen zu Verleugnungen – „Ich doch nicht!“ – und zur Suche nach religiösen, weltanschaulichen oder atheistischen Antworten.
Der britisch-US-amerikanische Intellektuelle, Kritiker und Publizist Christopher Hitchens (1949 – 2011) hat es sich in seinem Leben nicht leicht gemacht. Mit den passiven, fatalistischen Einstellungen – „Da kann man nichts machen!“ – konnte er nichts anfangen. In seinem Sterbebuch „Endlich – Mein Sterben“ setzt er sich mit seiner Krebserkrankung auseinander, sucht und nimmt Nachrichten und Informationen über neue Heilungs- und Therapiekonzepte auf und vollzieht alle ärztlich und onkologisch verordneten Methoden. Doch er nimmt an, dass sein Sterben sich unerbittlich vollzieht.
Die australische Schriftstellerin Cory Tayler (1955 – 2016) erhält kurz vor ihrem 50. Geburtstag die Diagnose: Hautkrebs. Ihr leidvolles, aber auch wohlgestimmtes Leben mit der Krankheit dauert zehn Jahre. Den Prozess des Nicht-Gesund-Seins und Noch-nicht-Sterbens beschreibt sie in ihrem Buch: „Sterben – Eine Erfahrung“ (2018). „Das Buch durchdringt auf empathische und umsichtige Weise wesentliche Fragen, die sich uns allen stellen oder stellen werden, und ist damit im besten Sinne eine Hinführung ans Sterben“.
Die britische Schriftstellerin Jenny Diski (1947 – 2016) hat in ihrem Buch „In Gratitude“ (2016) über Sterbeliteratur von anderen Sterbenden geschrieben, u.a. dem von Doris Lessing. Als Diski selbst die Diagnose „Krebs“ erhält, beschreibt sie minutiös die von den Ärzten angeordneten und veranlassten (möglichen) Heilungsmethoden und Prognosen. Sie nimmt bereitwillig und hoffnungsvoll auf, wenn von den Ärzten Stillstand der Krebswucherung, gar Verkleinerung und damit Krankheitsüberwindung diagnostiziert wird – und die Ungewissheiten steigen: Wie wird die Welt ohne mich sein?
Der ungarische Autor Péter Esterházy (1950 – 2016) schildert im „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ (2016/2017), gewissermaßen mit „ontologischer Heiterkeit“ und „Zwiegespräch“ mit der (persönlichen) Krankheit, wie er mit dem Krebs umgehen solle: Selbstverständlich oder ausgrenzend. Es ist der fiktiven wie der reale Dialog, der die Krankheit zum Ich macht!
Der irische Katholik und Theologe Michael Paul Gallagher (1939 – 2015) plädierte mit seinem Sterbebuch „Into Extra Time: Living Through the Final Stages of Cancer and Jottings Along the Way“ (2016) für „Gläubig sterben“. Es ist nicht die kritiklose, überkommene Gläubigkeit an das Jenseits, sondern eine erdbewusste, religiöse Überzeugung, dass es einen Gott gibt, die ihm die Entscheidung – Chemo oder Paliativität – leicht macht und mit dem er die mit ihm Fühlenden und Begleitenden auffordert: „Betet für mich!“.
Der Arzt Paul Kalanithi (1977 – 2015) hat in seinem Sterbebuch „ When Breath Becomes Air“ – „Bevor ich jetzt gehe“ (2016) sein kurzes Leben nach der Diagnose „unheilbarer Lungenkrebs“ (2013) reflektiert. Die Veränderungsprozesse, die sich vom Arzt zum Patienten vollziehen, bieten die Möglichkeiten, die neuronale Praxis eines Chirurgen kennen zu lernen und sich mit der Theorie und Praxis auseinander zu setzen. Das Dilemma aber, wie Kranke und Sterbende mit der (verbleibenden) Zeit umgehen und bewältigen können, bleibt.
Die US-amerikanische, aus Vietnam stammende Anwältin Julie Yip-Williams (1976 – 2018) stirbt als Mutter von 6- und achtjährigen Töchtern, mit 42 Jahren an Darmkrebs. Mit ihrem Buch – „The Unwinding oft he Miracle. A Memoir of Life, Death, and Everything That Comes After“ (2019), in deutscher Sprache 2020 erschienen als „Das Wunder vom Legen und Sterben – Ein bewegendes Memoir voller Hoffnung und Kraft“, will die Autorin ihren Kindern eine Erinnerung an sie hinterlassen. Ihr Schreiben ist geprägt von der Sorge um die zurückbleibenden Angehörigen. Es ist ein optimistischer Lebensbericht, der bestimmt ist von dem Willen, „gut zu sterben“.
Der Schlussbeitrag der Sterbe-Erzählungen handelt von der 1964 geborenen Schweizer Schriftstellerin, Theaterautorin und Literaturdozentin Ruth Schweikert, die die Diagnose einer schweren Brustkrebserkrankung erhielt und nach Jahren der Therapie die ärztliche Nachricht bekam, den Krebs überwunden zu haben. Sie nahm den positiven Bescheid von 2019 auf und schrieb das Buch „Tage wie Hunde“. Es sind Erinnerungen an Schmerzen, Hoffnungslosigkeit, Ängste, Verzweiflung, aber auch an Lichtblicke, Hoffnungen und Empathie – und die Lust und Last zu leben. Sie ist am 4. 6. 2023 gestorben.
Diskussion
Der individuelle und nahe Sterbeprozess zeigt sich meist darin, dass Sterbende in ihrer Außen- und Umweltwahrnehmung eingeschränkt sind: „Der physische Bewegungsradius verringert sich zusehends, und in gleichem Maß nimmt in vielen Fällen das Interesse an gesellschaftlichen und politischen Diskursen ab“. Deshalb ist Sterben nicht nur eine persönliche, sondern auch eine soziale, empathische Tatsache. Es sind die schriftstellerischen, erzählerischen Fähigkeiten, die Menschen dazu bringen, über ihr eigenes Ende nachzudenken und dies auch öffentlich äußern. Im literarischen Diskurs wird betont, dass über das Sterben schreiben Denk- und Reflexionsgrenzen weitet, Ungesagtes und Ungedachtes sag- und denkbar macht. Über den eigenen Tod nachdenken heißt auch nichts anderes als den Resonanzboden des Lebens bereiten (vgl. paralleldazu: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022,). Es gilt die Aufforderung, selbstbestimmt zu sterben, angesichts der prägenden, überkommenen und übernommenen Einstellungen und der ethischen, moralischen, politischen, weltanschaulichen Werte- und Normenvorstellungen kein leichtes Unterfangen. Selbst sterben und Sterben lassen, das sind intellektuelle Erkenntnisse, die eingeübt und entdeckt werden müssen (Klaus Günther, Sterben neurobiologisch betrachtet: Letzte Lebensphasen unter Leistungs- und Heroismusdruck,2021,).
Fazit
Es sind die Herausforderungen, eu zên (ζεν), gut (zu) leben (Aristoteles, sowie: Rainer Sörries, Vom guten Tod, 2015,), und es ist die Schwierigkeit, dies individuell und kollektiv zu verwirklichen; vor allem dann, wenn die Tatsache der Endlichkeit des Daseins sich durch unheilbare Krankheiten ankündigt. „Ich werde (muss) Sterben!“ wird zum existentiellen, intellektuellen Anspruch. In der „Sterbe-Literatur“ werden Anregungen und Hilfen angeboten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.08.2023 zu:
Corina Caduff, Christoph Schlingensief, Christopher Hitchens, Cory Taylor, Jenny Diski u.a.: Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben. rüffer & rub Sachbuchverlag
(Zürich) 2023. 2. Auflage.
ISBN 978-3-907351-22-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31189.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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