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Anton Sterbling: Ideologie und Herrschaftskämpfe

Rezensiert von Arnold Schmieder, 29.01.2024

Cover Anton Sterbling: Ideologie und Herrschaftskämpfe ISBN 978-3-8382-1834-2

Anton Sterbling: Ideologie und Herrschaftskämpfe. ibidem-Verlag (Hannover) 2023. 232 Seiten. ISBN 978-3-8382-1834-2. D: 29,90 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 35,10 sFr.

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Thema

„Herrschaftsideologien“, so bringt Sterbling die beiden Titel gebenden Begriffe seiner Studie zusammen, „sichern ihren absoluten Geltungsanspruch – auch gegenüber bewährten Erfahrungen und kritischen wissenschaftlichen Erkenntnissen – nicht selten durch Machtmittel, durch Verdrängungen, Manipulationen und Umdeutungen, durch lautstarke ‚Propaganda‘, ebenso durch die herrschaftstechnische Marginalisierung oder Minimierung der sozialen Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse oder kritischer Denkalternativen überhaupt ab.“ (S. 196) Das wird in den einzelnen Kapiteln unter Thematisierung relevanter Aspekte ausgeführt. Doch es geht um mehr. Wie auf der Rückseite des Einbandes einleitend hervorgehoben, „bewegt sich das derzeitige politische Denken, Handeln und Geschehen zwischen zwei Polen: rationalem Diskurs und ideologischem Diktat.“ Hier nun hakt der Autor mit seiner Neujustierung des Ideologiekonzepts ein. Sein „heuristisches Anliegen“ zielt darauf, über sein Konzept erkennbar zu machen, „dass es auch in konsolidierten demokratischen Gesellschaften bestimmte Prozesse der Ideologisierung wie auch gewisse Anzeichen und Schwellenwerte ideologischer Gefährdungen signalisiert und erkennbar macht.“ (S. 8 f.) Dabei bezieht er Formen der Herrschaft, Mechanismen des Machterhalts und Funktionen von Autorität in seine Analyse ein, wobei wesentlich auch „Wertordnungen, Interessen sowie Wissens- und Deutungssysteme“ ausgelotet werden. (S. 10) Sterbling kommt zu dem Schluss, dass Ideologien unter einem „funktionalen Gesichtspunkt (…) der Rationalisierung und Bündelung kollektiver Interessen, der Ordnung von Wertvorstellungen (…), der Wirklichkeits- und Weltdeutungen“ dienen, dies dann mit einem „Allgemeingültigkeits- und nicht selten auch Alleingeltungsanspruch“. (S. 201 f.) Der Autor meint aber auch zu wissen, dass es einen „einfachen Lebenskompass (…) nun einmal für den modernen Menschen nicht (gibt).“ Gleichwohl stellen sich laut Sterbling am Ende die „sicherlich nicht einfach zu beantwortenden Fragen: Lohnt es sich, angesichts der fortbestehenden Gravitationskraft und Wirkungsmacht von Religionen und Ideologien – und den Realitäten sozialer Herrschaft – für die Möglichkeit oder Utopie der uneingeschränkten Selbstentscheidungsmöglichkeit des Menschen über seine Mündigkeit und über seine gleichzeitige entsprechende Selbstverantwortung, die natürlich auch die freiwillige Wahl der selbstbeschlossenen oder ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ einschließen würde, zu kämpfen?“ Und falls es sich dann doch lohnen sollte, „in welcher Weise, mit welchen Mitteln und bis zu welchen Grenzen? Und muss dieser Kampf nicht auch stets mit einem wachsamen Misstrauen gegen Ideologien und Ideologen, in welcher Gestalt auch immer, verbunden sein?“ (S. 205 f.)

Autor

Anton Sterbling war bis Ende März 2019 Professor für Soziologie an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/OL. Er ist Mitglied des Präsidiums des „Balkanologenverbandes e.V.“ und Stellvertretender Vorsitzender des „Kulturwerks Banater Schwaben e.V.“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift „Land-Berichte. Beiträge zu ländlichen und regionalen Lebenswelten“.

Aufbau und Inhalt

Nach der Einleitung folgen drei Hauptteile, wobei der erste Teil Annäherungen an die Ideologieproblematik aus dem Unterkapitel Zum Ideologiebegriff besteht. Die Teile II. und III. sind jeweils in mehrere Unterkapitel gegliedert. Im zweiten Teil geht es um wie im Titel angegeben Ideologie, Herrschaft, Nationalismus und entsprechend im dritten Teil um Ideologie, Sprache, Kunst und neue Spielarten ideologischen Denkens. Es folgt ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

In der Vergangenheit sei der Themenkomplex um „Ideologie und Herrschaftskämpfe“ überwiegend von „linken oder neomarxistischen Sozialwissenschaftlern“ behandelt worden. Gleichwohl sieht der Autor „gute Gründe“, die nicht allein in der „erneuten Aktualität des Gegenstandes“ liegen. In seiner „prozess- und verlaufsbezogenen Betrachtungsweise“ tritt Sterbling insbesondere im I. Teil an, den Ideologiebegriff „unter maßgeblicher Berücksichtigung grundlegender Zusammenhänge zwischen diesem und den theoretischen Auffassungen von Werten und Wertordnungen, Interessen und Wissens- und Deutungssystemen“ neu zu konturieren, wobei es ihm angebracht erscheint, „einen deutlichen Unterschied zwischen ideologischen Denkweisen schlechthin und totalitären Ideologien vorzunehmen.“ (S. 8 f.) Der Autor hebt (u.a.) „Erschütterungen durch das alltägliche Gefüge des sozialen Lebens“ und „Kommunikationsstörungen“ als „Symptome wie zugleich eigendynamische Verstärkungsmechanismen des sozialen Krisenzustandes“ hervor, die neben anderen psychosozial misslichen Erscheinungen dann auch „offene Einfallstore für bereitstehende oder sich entwickelnde Ideologien und sonstige Heilsverheißungen jeder Art“ sind. (S. 36) Und gerade weil „wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis ein Feind und eine Gefahr für alle Ideologien“ seien, würden „ideologische Herrschaftssysteme“ danach trachten, „das wissenschaftliche Denken an ihre eigenen Wertvorstellungen und Interessen zu binden oder sich selbst gar (…) eine wissenschaftliche Fundierung zuzuschreiben, eine wissenschaftliche Aura zu verleihen.“ (S. 45) Das alles führe bei „erfolgreich durchgesetzten Ideologien“ zur „Zerstörung sozialmoralischer Orientierungsmuster des Handelns“, zu „kulturellen Verflachungen, Wissensverschüttungen, Schließungen der Lebens- und Welthorizonte und Realitätsverlusten schlechthin.“ Zu beachten seien auch „funktionale Beiträge (…) ideologischen Denkens in politischen Vorgängen und Herrschaftsauseinandersetzungen moderner Gesellschaften“; sie würden zu den „ideellen Bewegungs- und Gestaltungskräften“ gehören und dabei „unterschiedliche und mehrdeutige funktionale Wirkungen und Seiten“ zeigen. (S. 63 f.)

Aufsattelnd auf dieser theoretischen Positionierung legt Sterbling im II. Teil seine Sicht auf Ideologie und Herrschaft, auf Staaten und Nationenbildung wie Nationalismus dar, wobei er sich vorab mit den Begriffen Macht und Autorität auseinandersetzt und dabei auch ein Augenmerk auf Herrschaftstypen richtet. Er fokussiert in Bezug auf demokratische Parteien darauf, sie müssten darauf „achten und Verantwortung dafür tragen, dass sie nicht in den Sog des extremistischen Aktionismus geraten, denn dies kann auch den Grundkonsens, der die demokratischen Spielregeln sichert, gefährden.“ (S. 92) Auf der Folie dieser aufscheinenden ‚Parteinahme‘ ist es nur folgerichtig, dass der Autor ein Unterkapitel der „ideologischen Legitimation der kommunistischen Herrschaftsordnung“ widmet (S. 96 ff.), aber auch die „Legitimitätsgrundlage islamischer Theokratien und radikalislamischer Staaten“ nicht auslässt (S. 101 ff.), um schließlich auf die „Legitimitätsgrundlage demokratischer Herrschaft“ zu sprechen zu kommen, innerhalb derer er eine „ausbalancierende Konfiguration bestimmter Grundwerte“ hervorhebt, wo er vor allem „Freiheit“ und „Gleichheit“ pointiert (als „Grundlage der Mündigkeit der Bürger“ [S. 139]), aber (u.a.) auch „Gerechtigkeit, insbesondere in einem angemessenen Ausgleichsverhältnis von Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit“. (S. 105) Die immer „deutlicher in Erscheinung tretenden Dilemmata, dieser Herrschaft“ werden erwähnt, insbesondere das „Dilemma des Sozialstaates“, das mit dem „sinkenden Grenznutzen sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und den damit verbundenen Schwierigkeiten ihrer Finanzierbarkeit“ zusammenhängt (S. 107), was aber – „Vorteil ‚offener Gesellschaften‘“ – „grundsätzlich korrigierbar“ sei. (S. 109)

Um „ideologiegeleitete Regulations- und Manipulationsversuche der Sprachverwendung“, um Ideologie und Kunst, da insbesondere um „Widerstandspotenziale künstlerischer Tätigkeit in ideologisch-totalitären Herrschaftssystemen“, um „Sinnkrisen“ und „Verhängnisse der Dominanz des ideologischen Denkens“ geht es, wie der Autor vorausschickt, im III. Teil. (S. 11) Seine Hinweise zu den „Hintergründen des Nichtidentischen von Kunst und anderen kulturell relevanten Deutungs- und Überzeugungssystemen“ komplettiert er mit Verweis und Luhmann als Referenz auf eben „Ausdifferenzierung ‚teilsystemspezifischer Semantiken‘“ und verweist zugleich darauf (orientiert an Habermas), dass es die „instrumentelle Rationalität in der Moderne zu einer gewissen Vorrangstellung gebracht hat.“ (S. 167) Im Zusammenhang seiner Erörterung dessen, was Funktion und Leistung von Kunst sein kann, kommt Sterbling eher kurz auf „die unüberwindlichen Widersprüche und Brüche der Moderne“, von denen er „überpointiert“ meint sagen zu können: „die trotz scheinbarer Geschlossenheit unvermeidlichen Aporien moderner Ideologien bringt nicht zuletzt die Heterogenität und innere Widersprüchlichkeit (…) zum Ausdruck.“ (S. 156) „Heilslehren“ helfen da nicht ab und auch die „Weltanschauungsmotive der Vertreter einer emanzipatorischen ‚menschlichen Zukunft‘“ gehen fehl. Sie operieren mit einer „ideologische(n) Denkfigur“, aus der „Katastrophenszenarien“ quellen, die allerdings an „reale Erfahrungen“ anknüpfen und dramatisiert werden, um die „eigenen ideologischen Heilslehren erfolgreich lancieren“ zu können. Dies sei „häufig mit einem medial geschickt inszenierten und pointiert dramatisierten Aktionismus sogenannter ‚Aktivisten‘ (verbunden), übrigens ein Begriff der frühen kommunistischen Propagandasprache, woran man sich offenbar kaum noch erinnert“. (S. 177) Die hiesigen „Aktivisten“ koppeln ihre „Untergangsszenarien“ mit „unrealistische(n) absolute(n) Forderungen“. (S. 180) Es braucht einen „stabilen Grundwertekonsens“. Der müsse auch für „Multikulturalismus“ gelten, damit eine Gesellschaft nicht in „Parallelstrukturen“ zerfasere. Eine „pluralistische Gesellschaft“ könne dies nach Maßgabe einer funktionierenden „gesamtgesellschaftlichen Integrationsebene“ abwenden. (S. 184 f.) Sterbling sieht auch hier die Wissenschaft in der Pflicht, die sich auf „objektive Erkenntnis“ zu besinnen hat. Doch die Universitäten weichen in Forschung und Lehre (zu) häufig davon ab, insbesondere die „Geistes-, Kultur und Sozialwissenschaften“, die „halbgebildet(e) ‚Weltverbesserer‘“ produzieren, „die allerdings oft auch einflussreiche ‚Medienmacher‘ und ‚Sinnproduzenten‘ unserer Zeit werden.“ (S. 191) In einer Anmerkung macht der Autor jene aus, die „nicht einmal einen Hochschulabschluss schaffen“ und sich „alsbald in den Reihen erfolgreicher ‚progressiver‘ Politiker“ finden, „natürlich linker und grüner Parteien.“ (ebd., Anm. 49)

Diskussion

Gleich zu Beginn eröffnet sich Sterbling den Leser:innen in der Weise, dass ihn die in seinem Buch „zusammengeführten Überlegungen und Erkenntnisse (…) schon sehr lange (beschäftigen), wie nicht zuletzt aus den Literaturhinweisen ersichtlich sein dürfte.“ (S. 11 f.) In der Tat umfasst das Literaturverzeichnis über auffällig viele Seiten seine eigenen Schriften, was irritierend sein mag, dem Autor aber nicht angekreidet werden sollte, zumal er umfangreich (wenige) Klassiker und (zum großen Teil) ältere Literatur zu seinem Thema durchforstet hat. Ob seine Studie, die sich um die prominenten Begriffen Ideologie und Herrschaft bzw. Herrschaftskämpfe und anrainende soziologische Phänomene rankt, was so neu nicht ist, unter Ideologiekritik rubrizieren lässt, ist fraglich. Wo er Adorno als Referenz heranzieht und dessen (an Brecht adressierte) Kritik an der „‚offiziellen Ideologie des sowjetischen Machtbereichs‘“ (zit. S. 151) in den Raum stellt, darf man ihm mangelnde Kenntnis der Argumentationsfigur dieses bekannten Vertreters der Kritischen Theorie vorwerfen, deren Begründung, was, wenn man will, unschwer nachzulesen ist, nicht so holzschnittartig ist wie Sterblings knappe Ausführung zur „ideologischen Legitimation der kommunistischen Herrschaftsordnung“. (S. 96 ff.) Die aber dockt an die (ideologisch?) vorherrschende Meinung an, die öffentliche und veröffentlichte (die bei Sterbling ansonsten nicht ungeschoren wegkommt).

Und wenn schon ältere Schriften bedacht werden dürfen, fragt sich, warum der Autor diesbezüglich nicht Manès Sperbers Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ (dt. 1976) als Beleg heranzieht. Dieses Werk atmet den Geist tiefer Skepsis bis Ablehnung allen ideologisch befangenen Denkens, falscher Illusionen. Sperber, der als ‚Ex-Kommunist‘ gehandelt wird, war ernüchtert und enttäuscht vom Stalinismus und seinen Folgen. Gleich im Vorwort schreibt er in Bezug auf sein Werk, „daß die Politik nur Rohstoff, aber nicht das Thema ist“, endet jedoch mit dem Aufruf zum Mut: „ohne Illusionen zu leben.“ Damit sind im Sinne Sperbers auch und wesentlich Ideologien gemeint. Und wo Sterbling heutige, zumeist jüngere „Aktivisten“ in den strengen (demokratisch gemeinten) Blick nimmt und ins Gebet, ist er an das Werk „Menschheit und Mutter Erde“ (dt. 1979) von Arnold Toynbee (der sich im Literaturverzeichnis des Autors findet) zu erinnern, der langlebigen Kulturen deren Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit testierte und als entscheidende Triebkraft der Geschichte nicht abstrakte Ideen ausmachte, sondern die Arbeit konkreter Menschen, was ihm einhellig testiert wird. Gleich eingangs schreibt Toynbee: „Der Mensch ist der Bewohner der Biosphäre, der mächtiger ist als diese selbst.“ „Der Mensch“? Ist er identisch mit dem System, in dem er lebt, den Desideraten aus kapitalistischer Ökonomie? – was nicht, auch nicht in Verfolgung des Begriffs ‚Arbeit konkreter Menschen‘, Toynbees Thema ist, wohl aber den derzeitigen Aktivist:innen dämmert. Um den „Frieden zu bewahren“ und die „Biosphäre vor der Verunreinigung durch den Menschen zu schützen oder ihre unersetzlichen Rohstoffquellen zu erhalten“ sieht Toynbee auf den letzten Seiten seines Buche seine „weltumfassende politische Organisation“ und einen Abschied von Nationalstaaten an. Das, so meint er, könnte sich so lange hinauszögern, „bis die Menschheit sich weitere Katastrophen zugefügt hat, Katastrophen solchen Ausmaßes, daß sie schließlich in eine globale politische Einheit als kleinerem Übel einwilligen will.“ Dieses ‚kleinere Übel‘ scheint bislang keine Option, dafür haben die Katastrophen ein Ausmaß angenommen, um das Toynbee nicht wissen konnte. Er endet mit der Frage: „Wird der Mensch die Mutter Erde ermorden oder erlösen?“, wobei – nimmt man den Inhalt der Kämpfe heutiger Aktivist:innen und der allermeisten Wissenschaftler:innen ernst – die Zeiger eher in Richtung ‚Ermordung‘ wandern. Ideologielastig ist das nicht. ‚Erlösung‘ entpuppt sich als Geschäft, dem strenge Zügel, zum Teil gewaltsame, angelegt werden, und auf die „Politik“ optiert, die im Sinne Sperbers eben nur „Rohstoff“ ist, die sich ‚ideologisch‘ mantelt.

In Anbetracht seines kalendarischen Alters dürften diese beiden Bücher an Sterbling nicht vorbeigegangen sein, die vor Jahrzehnten für heftige Pro-und-Contra-Diskussionen gesorgt haben, allerdings tendenziell mehr unter ‚links‘ und radikaldemokratisch Gesinnten. Immerhin, und deshalb werden hier die dickleibigen Bände von Sperber und Toynbee nur punktuell und kursorisch in Erinnerung gebracht, wurden schon dort scheint’s zwei belangvolle Diskussionsstränge von im Endeffekt politischer Relevanz präsumiert: eine Animosität bis elaborierte Gegnerschaft gegen ideologisch eskamotierte politische Herrschaftsinteressen und eine rasant zunehmende Ruinierung der (Über-)Lebenschancen auf diesem Planeten, nicht nur der „Formen des psychosomatischen Lebens“ (Toynbee), wofür inzwischen und kaum noch überhörbar eine (weltumspannende) kapitalistische Ökonomie (letzt)verantwortlich gemacht wird, was am „Grundkonsens“ (s.o.) kratzt und daher auch der ideologischen Abschattung bedarf. Heute wären entsprechend etliche Regalmeter in dieser Weise kritischer Literatur hinzuzufügen. Doch da scheint nicht Sterblings intellektuelle Heimat zu sein, weil er einen wie von ihm begründeten Ideologieverdacht hegt.

So löblich Sterbling für Demokratie eintritt und dies nicht ohne moderate kritische Bedenken am Ist-Zustand, entlässt sein Text doch in Rückfragen über seine Befunde zu „konsolidierten demokratischen Gesellschaften“ und vor allem zu jenem zweiten ‚Pol‘ neben dem „rationale(n) Diskurs“, nämlich dem Gefährdungspotential aus einem „ideologische(n) Diktat“. (s.o.) Seine abschließenden Fragen lauten, ob es lohne, „für die Möglichkeit oder Utopie der uneingeschränkten Selbstentscheidungsmöglichkeit des Menschen“ und gegen jene (Kantische) „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu kämpfen, und ob „dieser Kampf nicht auch stets mit einem wachsamen Misstrauen gegen Ideologien und Ideologen, in welcher Gestalt auch immer, verbunden sein“ müsse. (s. o) Sperber würde zustimmen. Doch ohne herablassende Beckmesserei ist auch darauf zu verweisen, dass für die historisch und aktuell gar nicht so ‚utopische‘ „Möglichkeit“ der Abschaffung oder ‚nur‘ Domestizierung von Herrschaft und „Selbstentscheidungsmöglichkeit“ wie Selbstbestimmung gestritten wurde und wird – was dem Autor bekannt sein dürfte. So ernüchternd die Ausgänge auch waren und sind, Ideologien lieferten und liefern Rechtfertigungsnarrative für den Status quo jeweiliger Herrschaftssysteme. Rumort also nach Lektüre des Buches und den Fragen des Autors eine dadurch provozierte weitere Frage: Wie steht es, vor allem derzeit und nicht nur hierzulande, um demokratisch legitimierte Herrschaft und auf welche ideologischen Versatzstücke greift sie je nach Opportunität zurück resp. revitalisiert sie und installiert im gang und gäbe Denken und Handeln jene „ideologischen Denkweisen“ (s.o.)? Die Antworten von „Aktivist:innen“ dürften für Sterbling wenig ersprießlich ausfallen.

„Wollen wir mündig sein und alle Verantwortung selbst übernehmen oder wollen wir Fremdbestimmung akzeptieren und damit einen Teil oder im Grenzfall alle Verantwortung auf andere Personen oder ‚Schicksalsmächte‘ übertragen?“, fragt Sterbling am Ende, um darauf zu antworten, das „Recht und die Chancen eines jeden Menschen, sich zumindest in dieser Grundfrage frei zu entscheiden, wäre sehr wichtig und im Sinne elementarer Menschenrechte eigentlich unabdingbar, ist aber – wie jeder Sozialwissenschaftler bei einem Rundblick in die heutige soziale Welt weiß oder ahnt – eine ‚ewige Utopie‘.“ (S. 204) Man muss nicht gleich die Keule des Vorwurfs einer wissenschaftlichen Affirmation und Legitimation schwingen, was zwischen den Zeilen aufscheine, man kann oder könnte sich auf Diskussion der Bedenken einlassen, man darf oder dürfte aber auch die vom Idealismus ererbten Begriffe einer menschlichen Fähigkeit zur ‚Vernunft‘ und ‚Aufklärung‘ in Anklang bringen. Es sind, schaut man sich ein wenig in der Sozialphilosophie um, wohl keine „halbgebildete(n) ‚Weltverbesserer‘“ (s.o.), die dem Autor ein Graus sind, welche dann den Begriff „menschliche Emanzipation“ (Marx) in ernsthafte Diskussionen einbringen und dabei inhaltlich ausbreiten, was auf Praxis verweist. Praktisch – in Wort und Tat – werden nicht nur hierzulande ‚politische, meist links- und/oder radikaldemokratische Aktivist:innen‘, die auch zeigen, dass die von Sterbling hochgehaltene Freiheit und Gleichheit nur um den in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften immanenten Preis gleichzeitiger Unfreiheit zu haben ist und eklatante Erfahrung der Ungleichheit alltäglich für immer mehr Menschen. Alles „korrigierbar“ (s.o.), meint Sterbling. Sehen ‚Aktivist:innen‘ auch so, nur anders, und zwar nach Form und Inhalt.

Fazit

Es mag billig erscheinen, wenn man Sterblings unbestreitbar materialreiche Präsentation seines Themas um „Ideologie und Herrschaftskämpfe“ und seiner daraus folgenden Botschaft mit Matthäus 7,3 bedenkt, nämlich der Sache mit dem Splitter und dem Balken im Auge. Legitim aber ist es und wohl auch dringend geboten, einen kritischen Blick auf das eigene ‚Haus‘ und die ‚herrschenden Hausherren‘ zu richten.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245