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Felix Hasler: Neue Psychiatrie

Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 24.08.2023

Cover Felix Hasler: Neue Psychiatrie ISBN 978-3-8394-4571-6

Felix Hasler: Neue Psychiatrie. Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft. transcript (Bielefeld) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-8394-4571-6.

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Autor und Thema

Die seit Beginn des 19. Jahrhundert im Zuge der französischen Revolution (Philippe Pinel) aufkommende Psychiatrie hatte zunächst erheblich um ihre medizinische Anerkennung zu kämpfen. Um sodann im weiteren Verlauf, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem im Rahmen der Anstalts-Psychiatrie umso stärker ihren ‚medizinisch-biologischen’ Charakter zu betonen, der im Dritten Reich in der ‚Vernichtung unwerten Lebens‘ seine Apotheose fand.

Ein medizinisch-biologisches Modell psychiatrischer Krankheiten, das erst nach dem 2. Weltkrieg, verstärkt seit den 60ger Jahren, durch ein neues Denken zwar nicht abgelöst, doch erheblich erweitert wurde: ‚Therapeutische Gemeinschaft‘, Psychotherapie, Antipsychiatrie, psycholytische Ansätze. Eine erste ‚neue Psychiatrie‘, die bei uns 1975 in einer deutlich Reform-orientierten ‚Psychiatrie-Enquete‘ ausformuliert und 1979 von der Regierung übernommen wurde. Um mit Hilfe der dafür gegründeten Deutschen (Anti-)Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (DGSP) im Rahmen einer neu aufgebauten Sozialpsychiatrie Ansätze vorwiegend ambulanter Art zu realisieren, die freilich immer wieder an ihre finanziellen Grenzen stoßen. [1]

In dieser Situation bot sich seit den 80er Jahren eine ‚neue‘ biologische Alternative an, die in einer Kombination neuer, von der Pharma-Industrie lobbyistisch beworbener Psychopharmaka mit neuen neurologisch effektiven Forschungs-Instrumenten, wie insbesondere die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), hoffte, ein preiswerteres biologisch-neurologisches Erklärungsmodell der psychiatrischen Störungen als ‚Erkrankung des Gehirns‘ zu liefern. Eine ‚Alternative‘, die, ‚naturwissenschaftlich‘ legitimiert, einerseits sämtliche, außerordentlich gut finanzierte Forschungsmittel an sich zog, und die sich andererseits in einer darauf fußenden ‚Elfenbeinturm-Forschung‘ weithin der psychiatrischen Alltags-Praxis entfremdete.

So etwa lauten die beiden zentralen Thesen des Autors – der als Pharmakologe und Wissenschaftsautor an der psychiatrischen Universität Zürich, an der Humboldt-Universität Berlin und am Max Planck-Institut für Kognitions- und Neurowisssenschaften in Leipzig gastweise gearbeitet hat – um für eine ‚neue‘ Praxis-zugewandte Psychiatrie zu werben.

Aufbau und Inhalt

In seinen 11 Kapiteln kritisiert der Autor in einem ersten Teil (Kap. 1 bis 5) den „Aufstieg und Fall eines gigantischen Projekts [der dritten Welle der biologischen Psychiatrie], von großer Hoffnung und großer Enttäuschung“ (S. 8), um in seinem zweiten Teil (Kap. 6 -11) ‚Neuerungen in der praktischen Versorgungspsychiatrie‘ zu besprechen, unter denen insbesondere das in letzter Zeit neu aufgenommene Thema der ‚Neopsychodelika‘ (Kap.9) hervorsticht, zumal der Autor selber in Zürich 10 Jahre an der einschlägigen Forschung beteiligt war.

Nach einer ‚krisenhaften‘ Einstimmung im ersten Kapitel: „Große Hoffnung, große Enttäuschung“ schildert das 2. Kapitel den fehlschlagenden Versuch, in der ‚Genetikforschung und im Neuroimaging‘ die biologischen Wurzeln der psychiatrischen Störungen zu finden, die trotz, oder besser wegen, der ‚explodierenden Datenmengen‘ „keine konsistenten und reproduzierbaren Unterschiede in der Gehirnaktivität von Gesunden und Depressiven finden“ konnte (S. 43). „Weder die molekularbiologische Genetikforschung noch die Bildgebungs-Untersuchungen [konnten] die Erwartungen erfüllen, die Psychiater Thomas Insel [Direkor am National Institute of Mental Health, NIMH] 2005 stellvertretend für eine ganze Generation von neuroenthusiastischen Psychiatrieforschern formuliert hatte.“ (S. 45). Ein Befund, der im dritten Kapitel am Beispiel der Geschichte biologischer Erklärungsversuche in der Schizophrenie-Forschung näher belegt wird.

Im ausführlichen vierten Kapitel geht es dem ‚Psychiatrischen Neurozentrismus und seinen Folgen‘ an den Kragen: „Die Sichtweise, psychische Störungen seien Erkrankungen des Gehirns hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Psychiatrie zu einer ausgemachten Sache verfestigt, zu einer wissenschaftlichen Gewissheit, die es sich nicht weiter zu diskutieren lohne.“ „Ein wissenschaftsideologisches Gedankengebäude, gezimmert aus vorläufigen Annahmen, gewagten Behauptungen und unbestätigten Hypothesen.“ (S. 58). Die vor allem mit ihrer ‚Serotoninhypothese der Depression‘, „zweifellos einer der größten und unerschütterlichsten Mythen in der Geschichte der modernen Medizin“ (S. 59), den ‚Dauerboom‘ der Antidepressiva, insbesondere der SSRI begründet hat, ungeachtet seiner unbekannten Wirkmechanismen und seiner unerwünschten Nebenwirkungen. Auch das jüngste Versprechen einer ‚personalisierten Psychiatrie‘ mit Hilfe einer „Biomarker-basierten Therapievorhersage“ versage: „Weder gibt es individuelle Störungsformen, die sich durch biologische Marker oder spezifische Genprofile unterscheiden ließen, noch gibt es passgenaue Psychopharmaka, die eine auch nur halbwegs selektive Wirkung entfalten.“ (S. 78).

Gleichwohl, so schließt das fünfte Kapitel diesen ersten Teil, fließe noch immer der ganz überwiegende Teil der Forschungs-Milliarden seit 2012 in die Big Science/Big Data Projekte (S. 81), wie etwa das Human Brain Project der EU, „das Gehirn im Computer zu simulieren“ (S. 87), die BRAIN Initiative in den USA, die für die Laufzeit von 12 Jahren mit 4,5 Milliarden Dollar rechnet (S. 87), oder das seit 2009 laufende ‚Human Connectome Project‘, in dem 40 Forschungsgruppen aus einem Dutzend US-amerikanischer Universitäten‘ „den Beziehungsstatus unserer Nervenzellen klären wollen.“ (S. 88). Weithin vergebliche, doch keineswegs aufgegebene Bemühungen, die daran zweifeln ließen, ob die Psychiatrie ‚überhaupt ein medizinisches Fach sein‘ müsse (S. 99). Doch gäbe man damit zugleich den medizinischen Schutzstatus auf: „Von Krankenversicherungszahlungen über den Kündigungsschutz bis zur Invalidenrente.“ (S. 102). Weshalb die NIMH das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5 von 2013) in einer neuen, lediglich die Symptome deskriptiv aufzählenden Form beibehielt, denn „Die Diagnosemanuale sind der Klebstoff, der das Kartenhaus Psychiatrie zusammenhält.“ (S. 104).

Seinen zweiten ‚positiven‘ Hauptteil leitet das sechste Kapitel mit einem Blick auf die ‚Telepsychiatrie und die digitalen Interventionen‘: Vom warnend-kontrollierenden ‚digital phenotyping‘ durch das Smartphone über erste online-Therapien etwa mit Hilfe kognitiver Verhaltenstherapie – ‚Das Gesamtangebot an Gesundheits-Apps für Smartphones und Laptops wird gegenwärtig auf etwa 300.000 geschätzt, davon 10.000 bis 20.000 mit Bezug zu psychischer Gesundheit‘ (S. 115) – bis hin zur ‚Tablette, die mit einem Sensor die Therapietreue überwacht (S. 126). Nachdem im siebenten Kapitel das Comeback der ambulant orientierten Sozialpsychiatrie – etwa das Soteria-Projekt (S. 147) – und im achten Kapitel die Beteiligung der Betroffenen – etwa im Trialog – angesprochen wurden, schildert das neunte Kapitel die – ebenfalls (seit 2018) wieder aufgenommenen – psycholytischen Ansätze, [2] die etwa MDMA (Ecstasy) für die Behandlung posttraumatischer Störungen und Psilocybin bei Depressionen, ‚eingebunden in eine absichtsvolle Psychotherapie‘ (S. 168), einsetzen wollen. Die aber auch in ‚über 90 Start-up Firmen auf der Website von Psychedelic Alpha‘ und schamanistischen Reiseangeboten einen ‚wahrhaften Goldrausch erleben‘ (S. 167): „Am bedenklichsten aber ist, dass immer mehr selbsternannte Schamanen […] vom Psychedelik-Boom profitieren wollen und in der Grauzone der Legalität ihre privaten Therapiedienste anbieten.“ (S. 186).

Nachdem Hasler im zehnten Kapitel noch einmal auf die Risiken der Antidepressiva eingegangen ist: „Unerwünschte Arzneimittelwirkungen und noch mehr die Gefahr einer Medikamentenabhängigkeit sind die Erzfeinde des Pharmamarketings“ (S. 198), wirbt er im abschließenden elften Kapitel für eine ‚pragmatische Psychiatrie‘, die, wie in der somatischen Medizin, „akzeptieren [muss], dass auch psychische Erkrankungen unheilbar und tödlich sein können“ (S. 208). Während die naturwissenschaftlich arbeitende akademische Psychiatrie sich, verständlicherweise, „noch weiter abkoppelt – nicht nur von der Lebenswelt der Patienten, sondern auch vom Rest ihrer fachärztlichen Kollegen“ (S. 210), müsse eine ‚neue Behandlungskultur lebenspraktische Verbesserungen für die psychisch Belasteten‘ bereitstellen und „akzeptierte Möglichkeiten geben, seltsam zu sein.“ (S. 214).

Diskussion

Die von Hasler einmal mehr [3] aufgenommene Kritik der dominierenden biologischen Psychiatrie ist stimmig vorgetragen und mit einem 30 Seiten langen Literatur- und Quellen-Verzeichnis gut belegt. Eine immer aufwändigere Gehirnforschung, die ohne praktisch relevante Ergebnisse bleibt, sowie eine Pharmaindustrie, die ohne neuartige Medikamente zu liefern, an den problematischen SSRI und SSRNI-Medikamenten gut verdient, werden wohl auf Kosten einer an sich schon lange bekannten ‚alternativen‘ Psychiatrie bis zum Aufkommen einer neuen Psychiater-Generation vorerst fortbestehen. Angesichts dessen bieten die von Hasler aufgezeigten bisherigen Alternativen aus der altbekannten, bewährten, aber unterfinanzierten Sozialpsychiatrie, aus dem neumodischeren Internet und der berechtigten Forderung nach einer praxisnahen Beteiligung der Betroffenen noch immer nur hoffnungsvolle Ansätze. Ansätze, die jedoch im psychiatrischen Alltag bei „7,6 Minuten Zeit für einen Patienten“ (S. 121) das generelle Problem der herrschenden ‚regulativen Idee‘ des ‚etablierten kategorialen nosologischen Denkens‘ (S. 97) kaum bewältigen können. Hier hätte wohl eine gründlichere Analyse des dieses Denken begleitenden Psychotherapie-Marktes – „Ein Comeback für die Neurose“ (S. 200) – nahegelegen, die durch die Hoffnung auf eine Neo-Psychedelik (9. Kapitel) kaum ersetzt werden kann.

Fazit

Wer sich über den aktuellen Stand der Kritik an der gegenwärtig noch immer dominierenden, doch praxisfernen, biologischen Psychiatrie und deren Widerstand gegenüber alternativen Ansätzen informieren möchte, findet in diesem Buch die dafür notwendigen Argumente.


[1] Vgl. Stephan Quensel: Irre – Anstalt – Therapie. Der Psychiatrie-Komplex. Springer VS (Wiesbaden) 2018. Besprochen in: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23327.php

[2] Vgl. Gregor Hasler (2022): Higher Self. Psychedelika in der Psychotherapie. Klett Cotta. Besprochen in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/​30464.php

[3] Vgl. Stefan Weinmann: Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2019. Besprochen in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/​26191.php

Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 24.08.2023 zu: Felix Hasler: Neue Psychiatrie. Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft. transcript (Bielefeld) 2023. ISBN 978-3-8394-4571-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31205.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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