Arnold Köpcke-Duttler: Erinnern und Widerstehen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.08.2023

Arnold Köpcke-Duttler: Erinnern und Widerstehen. Plädoyer für eine globale Erinnerungs-Kultur.
Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2023.
146 Seiten.
ISBN 978-3-86585-334-9.
D: 25,90 EUR,
A: 26,70 EUR.
Reihe: Edition Neuer Diskurs - Band 34.
Thema
Leid kann nicht durch Leid ersetzt, Krieg nicht durch Gewalt verhindert werden
1991 hat das Europa-Parlament in Straßburg das Kolloquium „Das Universelle und Europa“ durchgeführt. Die europäische, historische, politische und gesellschaftliche Entwicklung wurde als janusköpfig beschrieben: „Wie Gott Janus hat Europa zwei Gesichter, eine doppelte Identität, schwankend zwischen Gut und Böse“ (Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7-8/1992, S. 5f; siehe auch: Helmut König, u.a., Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6485.php). Das kollektive Gedächtnis ist gebracht und gemacht. Erinnerungen werden markiert und manipuliert (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​12634.php). Ethnisches und internationales Erinnern wird festgemacht an Dokumenten und Orten (Pim den Boer, u.a., Europäische Erinnerungsorte, Bd. 3: Europa und die Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/​13336.php).
Autor
Der Rechtsanwalt und Pädagoge Arnold Köpcke-Duttler bringt sich ein in den Dialog zwischen juristischen und pädagogischen Auffassungen (Pädagogik und Rechtswissenschaft im Gespräch, 2005, www.socialnet.de/rezensionen/3106.php). Mit dem Essay „Erinnern und Widerstehen“ greift er die beiden anthropologischen und existentiellen Anforderungen für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben auf: Anpassung (Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​30373.php) und Widerstand (Daniel Hechler, u.a., Hrsg., Widerstand denken, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/8131.php). Der Blick richtet sich dabei an den lokalen und globalen Anspruch, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Ausdruck bringt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Wir brauchen eine globale, demokratische Erinnerungs-Kultur. Die Anzeichen, Wege- und Richtungsweiser dafür sind vorhanden. Die Suche nach Menschlichkeit ist angesagt.
Aufbau und Inhalt
Köpcke-Duttler gliedert seine essayistischen Überlegungen in den hinführenden Teil, in dem er „Erinnern und Widerstehen“ als allgemeingültige, ethische Einstellungen zum Ausdruck bringt. In der Einleitung zeigt er „Wege der Erinnerung“ auf. Es gilt zu erkennen, dass Erinnern ein Gefängnis sein kann (Avishai Margalit, Über Kompromisse und faule Kompromisse, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11536.php). Es kommt darauf an, das Böse zu erkennen und zu verhindern. Es sind Zeugen und Taktgeber wie die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Hanna Arendt, die die Ethiken des Lebens einforderte (Bruno Heidlberger, Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30701.php).
In den folgenden Kapiteln setzt er sich mit den Leuchttürmen der Menschheit auseinander, die, wie der polnische Kinderarzt, Pädagoge und Ethiker Janusz Korczak (1878 – 1942), für die allgemeingültigen, nicht relativierbaren, eindeutigen Menschenrechte eintraten und einen wichtigen und wertvollen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis beanspruchen: „Aufrecht stehend, stelle ich meine Forderung, denn ich verlange nichts für mich. Gib den Kindern einen guten Willen, unterstütze ihre Anstrengungen, segne ihre Mühen“.
Das von den Vereinten Nationen 1989 proklamierte „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ ist getragen von den humanen Vorstellungen auch eines Janusz Korczak. Köppke-Duttler erinnert an die jüdische Lehrerin und Reformpädagogin Clara Grunwald (1877 – 1943), die in der Weimarer Republik die Montessori-Pädagogik zur Anerkennung und Wirkung brachte. Beide, Korczak und Grunwald, sind Opfer des nationalsozialistischen Verbrechens. Mit dem im jüdischen Talmut und dem indischen Mythos grundgelegten Ertragen des eigenen Leidens als Leidensfähigkeit mit dem Anderen entsteht so Nächstenliebe.
Als Wegbereiter des hebräischen Humanismus erinnert der Autor im nächsten Kapitel an den Rabbiner Leo Baeck (1873 – 1956), an den Schriftsteller Elie Wiesel (1928 – 2016), an den Philosophen Franz Rosenzweig (1886 – 1926) und den Theologen Martin Buber (1878 – 1965). Im Kapitel „Kindersoldaten: Gewalt, Dialektik der Erinnerung, Heilung“ werden die Ungeheuerlichkeiten von Kriegen am Beispiel des Leidens von Kindern, und der erzwungene Missbrauch von Kindern als Kämpfer thematisiert. Es sind Konventionen und Friedensaufrufe, und es sind lindernde, therapeutische Konzepte, um Gewalt- und Kriegserinnerungen von Kindern zu bearbeiten.
Mit der von Theodor W. Adorno angeregten Kulturkritik setzt sich Köpcke-Duttler mit „Auswärtige(r) Bildungs- und Kulturpolitik“ und kritische(r) Erinnerungspolitik auseinander: „Indem die Erinnerungskultur das eigene (Mit-)Verschulden und die Empathie mit fremdem Leid in sich aufnehme, könne die negative Last der Geschichte in zukunftsweisende Werte verwandelt werden“. Im ethischen Erinnerungsdiskurs kommt den Opfern als Individuen und Kollektive Aufmerksamkeit zu. Im Kapitel „Wider die Opfer-Konkurrenzen und für eine dialogische Erinnerungskultur“ diskutiert der Autor das Konzept der „inklusiven Opfergemeinschaft“ von Aleida Assmann: „Eine ethische Erinnerungskultur ist stets in sich eine dialogische“, individuell, lokal und global (Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​26913.php).
Im Kapitel „Holocaust und Menschheitsverbrechen“ nimmt der Autor die Kontroverse auf, die sich 2021/2022 zwischen dem Historiker Dirk Moses und dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik auftat. Es geht um die Frage, ob der Holocaust mit anderen Menschheitsverbrechen vergleichbar, oder ein unvergleichliches Ereignis, ein Zivilisationsbruch sei (Omri Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Universalismus als rettende Alternative, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29631.php). Das Kapitel „Menschlichkeit im Eingedenken von Auschwitz, Hiroshima, Apartheid und darüber hinaus“ nimmt den religiösen, abendländischen, christlichen, katholischen Diskurs über Schuld und Vergebung auf.
Der Theologe Johann Baptist Metz (1928 – 2019) sah in der „solidarischen (globalen) Gerechtigkeit“ die Möglichkeit zum interreligiösen Bewusstsein. Auf den von ihm und anderen religiösen Denkern vorgezeichneten Weg kann es gelingen, partizipatorische und antizipatorische Erinnerungskulturen zu entwickeln. Mit dem Schlussbeitrag „Aus-Wege“ nimmt er die Zuversicht und Hoffnung auf, die Bertolt Brechts Werk so aktuell macht: Den Diktatoren, Tyrannen, Rassisten und ihren ideologischen Systemen ihren Machtmissbrauch aus den Händen zu schlagen, durch Widerstand und zum Aufstand der Gerechten, mit Verstand und Aufklärung.
Diskussion
„Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ – diese Aufforderung verdeutlicht, dass ein auf Erinnerung, Erlebnis, Erfahrung und Erkenntnis beruhendes, dialogisches, gerechtes und menschenwürdiges Leben möglich ist. Es zu erreichen, braucht Lebensmut und -kraft und die Kompetenz zur Resonanz (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php). Gutes, erfolgreiches, humanes Erinnern muss gelernt werden, weil Vergangenes Bestandteil und vielfach Basis des Gegenwärtigen und zukünftig Guten sein kann. Es sind die Erfahrungen, die es zu reflektieren und zu ordnen gilt!
Fazit
Arnold Köpcke-Duttler gelingt es, mit dem interdisziplinären Blick die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie eine Lebensbalance zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Erinnern und Widerstehen zustande kommen kann!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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