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Patricia Netti, Ines Boban et al.: »Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich«

Rezensiert von Prof.in Dr. Simone Danz, Lea Jasmin Jendrich, 17.04.2024

Cover Patricia Netti, Ines Boban et al.: »Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich« ISBN 978-3-7799-6790-3

Patricia Netti, Ines Boban, Andreas Hinz: »Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich«. Leben, Lernen und Arbeiten zwischen inklusiven Ansprüchen und exklusiven Traditionen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 185 Seiten. ISBN 978-3-7799-6790-3. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

In ihrem Buch „Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich“. Leben, Lernen und Arbeiten zwischen inklusiven Ansprüchen und exklusiven Traditionen beschreiben Patricia Netti, Ines Boban und Andreas Hinz die Perspektive auf ein Leben mit der angeborenen Besonderheit eines zusätzlichen Chromosoms 21 von der Einschulung bis ins Berufsleben. Die Beiträge von Patricia Netti sind mit begleitenden und einordnenden Kommentierungen durch Ines Boban und Andreas Hinz versehen und verdeutlichen die durchlebten gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten, hierarchischen Strukturen und Exklusionserfahrungen. Zugleich eröffnen sie den Blick auf Inklusion als ein solidarisches Miteinander.

AutorInnen

Patricia Netti (geb. 1987 in Leutkirch) ist seit 2014 technische Mitarbeiterin an der Gemeinschaftsschule Leutkirch und grafische Moderatorin bei Zukunftsfesten. Zuvor absolvierte sie eine Ausbildung als Kunstassistentin und besuchte von 1996 bis 2005 die Integrationsklasse an einer Grund- und einer Hauptschule in Leutkirch.

Ines Boban (geb. 1957 in Hamburg) ist Moderatorin von Zukunftsfesten und gehörte von 2003 bis 2017 zum wissenschaftlichen Team der Universität Halle im Bereich 'Allgemeine Inklusionspädagogik' und war dort auch zuständig für berufsbegleitende Studiengänge der Integrationspädagogik. Zuvor war sie von 1988 bis 1999 Sonderpädagogin in Integrationsklassen an einer Gesamtschule in Hamburg.

Andreas Hinz (geb. 1957 in Hamburg) war von 1999–2017 Professor mit Schwerpunkt Inklusion an der Universität Halle und begleitete zwischen 1986 und 1999 Integrationsversuche an Hamburger Grundschulen.

Entstehungshintergrund

Im Buch wird beschrieben, wie der freundschaftliche, fast familiär erscheinende Kontakt zwischen Patricia Netti, Ines Boban und Andreas Hinz Anlass war für den Impuls, der Erlebniswelt von Patricia Netti Raum zu geben. Auch das partnerschaftliche Arbeitsverhältnis zwischen Ines Boban und Patricia Netti bei Zukunftsfesten und gemeinsam verbrachte Urlaube dürften die Absicht verstärkt haben, diese Lebensgeschichte zwischen Exklusion und Inklusion aus einer kommentierten Innenperspektive heraus einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Aufbau

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil eins umfasst einleitende Hintergrundinformationen über das Buch, seine Gestaltung und Entstehung, sowie eine Danksagung (vgl. S. 7–16).

Im zweiten Teil ist die Biografie von Patricia Netti lebhaft in ihrem eigenen sympathisch-imperfekten Schreibstil dargestellt, versehen mit zahlreichen bildhaften Eindrücken. Die biografischen Texte unterteilen sich hierbei in einundzwanzig Teilabschnitte, die jeweils als Lebensmeilensteine zu verstehen sind. Jeder der einundzwanzig Teilabschnitte wird durch eine sachliche Assoziation, im Rahmen wissenschaftlicher Denkanstöße von Ines Boban und Andreas Hinz untermauert, um die gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten, Exklusionstraditionen und Inklusionserfahrungen in Patricia Nettis Beschreibungen herauszustellen (vgl. S. 19–143).

Der dritte Teil rundet das Buch mit einer Rahmung ab, die Nettis Leben und Wachsen unter dem Blickwinkel von hierarchischen Herrschaftstraditionen einerseits und dem Partnerschaftlichkeitsmodell von Riane Eisler anderseits beleuchtet und gewichtet (vgl. 145–170).

Inhalt

Teil 1 dient der Einführung in das Buch und erläutert die unterschiedlichen Formatierungen der Textteile sowie den Entstehungshintergrund des Buches. Ines Boban und Andreas Hinz machen ihren Anspruch deutlich, keine bloße Datenverarbeitung mit Patricia Nettis biografischen Beschreibungen vorzunehmen, sondern eine ehrwürdige Ergänzung und Betonung der Perspektive zu leisten (vgl. S. 11).

Teil 2 ist in mehrere Teilabschnitte gegliedert. In Teilabschnitt 1 bis 10 widmen sich die Erzählungen dem Aufwachsen in einem Mehrgenerationenhaus und der Aushandlung der eigenen Lebenswelt mit wechselnden fachlichen Bezugspersonen im Kleinkindalter (vgl. S. 20–23). Später setzen sich die eigenen Eltern als InklusionsunterstützerInnen aktiv für die Beschulung Nettis in einer Integrationsklasse ein und leisten Widerstand gegen paternalistisches Vorgehen, was Patricia zum Vorbild wird. Durch ihre Klassenlehrerin Edith Mang erlernt sie Selbstständigkeit und Eigeninitiative, Empowerment und Demokratie, die sie auf ihren beruflichen Weg vorbereiten (vgl. S. 24–39). Bei ihrem ersten Zukunftsfest zeigt sich Patricia vielseitig, authentisch und integriert. Schon bald begleitet sie selbst Zukunftsfeste als Unterstützerin und verhilft auch anderen Menschen mit angeborenen Besonderheiten dazu, determinierende Lebensumstände zu meistern und Möglichkeiten zu erkennen (vgl. S. 40–59). Eine durch die Eingliederungshilfe des Landesratsamt finanzierte Qualifizierung zur Kunstassistentin stellt sich als impulsreiche Zeit des Wachsens und Entwicklung des Selbst heraus, die Netti dazu verhilft ihre kritisch-reflexiven Eigenschaften zu schulen. Nach dem Prinzip der Übertragung und Gegenübertragung zeigt sich Patricia helfend und Hilfe annehmend und erhält als Aktivistin für Inklusion die Auszeichnung des „Goldenen Chromosoms“ (vgl. S. 60–73).

Die Beschreibungen begleiten die Entwicklung von Patricia Netti. Mittlerweile, unter anderem mit Ines Boban als technische Assistentin und grafische Moderatorin bei Zukunftsfesten arbeitend (Teilabschnitt 11 bis 21), erfährt Patricia Netti einen hohen Lernzuwachs, partizipiert und ist motiviert. Partnerschaftlichkeit und Zwischenmenschlichkeit sowie sozialer Austausch sind wichtige Attribute in ihrem Leben, die sie auf ein Praktikum an ihrer ehemaligen Schule, ihrem heutigen tarifentlohnten und steuerpflichtigen Arbeitsplatz, vorbereiten und begleiten. Zuversichtlich und engagiert geht sie dort ihren Aufgaben nach (vgl. S. 74–96). Patricia Netti berichtet über ihre Freude an Musik, Sport, einem kritischen Medienumgang und von BrieffreundInnen sowie über vielfältige und bunte Aktivitäten der Ferienwochen bei der evangelischen Akademie Bad Boll, von der Besonderheit bereichernder Beziehungen und ihren ersten und dann regelmäßigen Urlauben ohne Eltern. Selbstausdruck und Freiheit erlebt Patricia Netti insbesondere beim Malen. Hierbei setzt sie sich gerne mit menschlichen Körpern und Sexualität auseinander (vgl. S. 97–121). Ihr heutiger Arbeitsplatz und ihre zahlreichen Nebentätigkeiten bilden Nettis Komfortzone ab und lassen sie Verbundenheit mit ihrem sozialen Umfeld und der Natur spüren, sodass sie sich verantwortungsbewusst und engagiert zeigen kann und Zukunftswünsche sowie Ängste und Sorgen gekonnt reflektiert (vgl. S. 122–144). Die äußeren Dimensionen ihres Lebens und die innere Dimension ihres Erlebens zeigen auf, wie Patricia Netti zu einer loyalen, klugen und interessanten Persönlichkeit wird, deren Biografie als Vorbild für gelingende Inklusion gelten kann (vgl. S. 140 ff.).

In Teil 3 kommentieren Ines Boban und Andreas Hinz Patricia Nettis Biografie, um allgemeine Aspekte herauszuarbeiten. Sie thematisieren in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Logiken der gewaltfreien, solidarisch ausgerichteten Theorie der Partnerschaftlichkeit nach Riane Eisler und einem hierarchischen Herrschaftsmodell (vgl. S. 146ff). So werden kontroverse und inklusive Prozesse in Patricias Leben zwischen Dominanz und Demokratie, sowie das Aufbrechen von mächtigen institutionellen Traditionen durch Aktivismus deutlich.

Diskussion

Der Titel des Buches „Ich mache mir einfach mehr Gedanken über die Gesellschaft als über mich“. Leben, Lernen und Arbeiten zwischen inklusiven Ansprüchen und exklusiven Traditionen hätte nicht besser gewählt werden können. Durch lebhafte und sehr authentische Schilderungen gewinnen die LeserInnen Einblick in die Erlebnisse und die Lebensgeschichte von Patricia Netti. Dies wird von Ines Boban und Andreas Hinz begleitet, die in einer dominatorischen (also herrschaftsorientiert strukturierten) Welt den Blick auf partnerschaftlich nutzbare Gestaltungsräume schärfen und vielfältige Anregungen und Methoden sowie Resonanzerleben aber auch Widersprüche beschreiben. Der Blick auf die Gesellschaft, um die sich Patricia Netti Gedanken macht, zeigt die mitmenschliche und gesellschaftliche Dimension von Inklusion und den Weg, auf den sich Institutionen und die darin Handelnden machen müssen. Das Buch zeigt mit seinen unterschiedlichen Facetten unterstützende, aber auch behindernde Faktoren auf, die Möglichkeiten eröffnen, statt nach den Begrenzungen zu fragen. So zeigt die Beschreibung von Patricia Nettis biografischen Erfahrungen die Möglichkeiten auf, wie ein gelingendes Miteinander erreicht werden kann, ohne dabei jemals moralisierend oder belehrend zu wirken.

Fazit

Die bewegende Balance zwischen Erlebnisschilderungen und Wissenschaftlichkeit verleiht diesem Buch seine Ausdruckskraft und seinen innovativen Wert. Für interessierte LeserInnen ist es genauso geeignet wie für Studierende oder pädagogische Fachkräfte und zeigt anhand sehr nachvollziehbarer Schilderungen, was Inklusion bedeutet. Das Buch ist aber auch deshalb sehr lesenswert, weil das Beschriebene mit vielen Fotos und eingängigen Zeichnungen verdeutlicht wird und praxistaugliche Methoden zur Erweiterung von inklusiven Handlungsspielräumen sehr eingängig beschrieben sind. 

Rezension von
Prof.in Dr. Simone Danz
Professorin für inklusive Kinder- und Jugendhilfe, Frankfurt University of Applied Sciences (FRA UAS)
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Lea Jasmin Jendrich
B.A. in Sozialer Arbeit – Bildung in Kindheit und Jugend

Es gibt 4 Rezensionen von Simone Danz.
Es gibt 1 Rezension von Lea Jasmin Jendrich.

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ISSN 2190-9245