Davina Höblich, Dominik Mantey (Hrsg.): Handbuch Sexualität und Soziale Arbeit
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 26.01.2024
Davina Höblich, Dominik Mantey (Hrsg.): Handbuch Sexualität und Soziale Arbeit.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
342 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6477-3.
D: 58,00 EUR,
A: 59,70 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779961628. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779969549.
Thema
Der Sammelband beansprucht „erstmals den praxisorientierten, empirischen und theoretischen Stand des Fachdiskurses zu Sexualität und Sozialer Arbeit in Form eines Handbuches“ abzubilden. Dazu werden theoretische Grundlagen und Konzepte, relevante Arbeitsfelder, Handlungsformen und Herausforderungen erschlossen und in einer Vielzahl von Einzelbeiträgen diskutiert.
Herausgeber*innen und Autor*innen
Die Herausgeber*innen lehren Soziale Arbeit an den Hochschule RheinMain (Davina Höblich, mit dem Schwerpunkt Bildung, Ethik und Arbeit mit Kindern und Jugendlichen), bzw. der Hamburger Fern-Hochschule (Dominik Mantey). Für die einzelnen Beiträge wurden namhafte Autor*innen vorwiegend aus dem Hochschulbereich gewonnen, z.B. Heinz-Jürgen Voß, Heino Stöver oder Ulrike Schmauch.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch ist neben dem Autor*innenverzeichnis in die Abschnitte „Grundlagen und theoretische Konzepte“, „Sexualität in unterschiedlichen Arbeitsfeldern“, „Handlungsformen und – konzepte“, sowie „Herausforderungen und Themen für die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit“ gegliedert.
Grundlagen und theoretische Konzepte
Im Grundlagenkapitel werden in acht Kapiteln die Bereiche Sexualität im Lebenslauf, bezogen auf Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Lebensältere erschlossen, rechtliche Aspekte diskutiert und der Bezug zwischen Sexualität und Sozialer Arbeit, etwa in der Theoriebildung, im historischen Überblick zur Sexualität in der Praxis Sozialer Arbeit, der empirischen Forschung zur Sexualität in der Sozialen Arbeit, zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in der Sozialen Arbeit und zum Zusammenhang von Sexualität, Recht und Sozialer Arbeit dargestellt. Die Bezüge sind vielgestaltig und es zeigt sich, dass sich der Diskurs zur Sexualität in der Gesellschaft, vor allem im Zusammenhang mit den in der jeweiligen Epoche geltenden moralischen Rahmungen, auch im Verhältnis von Sexualität und Sozialer Arbeit wiederspiegelt. Anknüpfungspunkte sind z.B. die Bedeutung von Sexualität für Gesundheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, Differenz- bzw. Normalitätskonstruktion, Teilhabe, Macht- und Kontrollaspekte u.a. So wie der gesellschaftliche Diskurs eine stetige Entwicklung und Ausbreitung aufweist, findet sich auch im Feld der Sozialen Arbeit eine stärkere Beschäftigung um Sexualität, sodass die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit diese Positionen zusammengefasst abzubilden (und so für Ausbildung und Praxis zugänglich zu machen) mehr als gegeben ist (12), wodurch auch der Anschluss an den internationalen Diskurs befördert werden kann und muss (13).
Sexualität in unterschiedlichen Arbeitsfeldern
Im Folgekapitel werden im Überblick unterschiedliche Arbeitsfelder Sozialer Arbeit in Bezug auf Sexualität, bzw. Sexualitäten aufgegriffen. Die Beiträge befassen sich auf jeweils ca. zehn Seiten mit den Bereichen Kindertageseinrichtungen, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit, stationäre Jugendhilfe, ambulante Hilfen zur Erziehung, Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen, Behindertenhilfe, Soziale Altenarbeit, Strafvollzug, Suchthilfe, Sexarbeit und Schwangerenkonfliktberatung. Der Fokus liegt dabei auf sexualpädagogischen und bildungsbezogenen Konzepten und Methoden, lebensweltlichen Aspekten (z.B. Strafvollzug, Migration/Flucht) oder besonderen Problem- bzw. Bedürfnislagen (z.B. Sucht, Schwangerschaftsabbruch, Behinderung). Die Ausführungen der einzelnen Beiträge ermöglichen einen Überblick zur jeweiligen Thematik bzw. über das konkrete Arbeitsgebiet, wobei z.T. aktuelle Forschungsbefunde erschlossen, oder typische Fallkonstellationen vorgestellt werden.
Handlungsformen und -konzepte
Der vom Umfang her kürzeste Abschnitt thematisiert drei Aspekte: die Gestaltung einer Sexualkultur in Institutionen der Sozialen Arbeit, den Themenkomplex Sexualität und Beratung und die Gruppenarbeit zum Thema Sexualität. Die Beiträge definieren grundlegende Begriffe (Sexualität, Sexualkultur), deren institutionelle und kontextuelle Rahmung und Anwendung in konkreten Interventionsformen, z.B. als soziale Gruppenarbeit, Bildungsangebot, sexualitätsbezogene Einzelfallarbeit, oder sexualpädagogischen Ansatz. Die drei Beiträge zeigen Sexualität in ihrer Komplexität und die Notwendigkeit einer bewussten Gestaltung sexualitätsbezogener Phänomene, sei es als Umgang mit Teamdynamiken, als Inhalt in Beratungsformaten oder als explizites themenspezifisches Gruppenangebot. Die komplexen Anforderungen an Fachkräfte (263) liegen u.a. in den institutionellen Rahmenbedingungen, der biografischen Prägung der Fachkräfte, spezifischen Kommunikationskompetenzen und Wissensbeständen rund um das „Thema Sexualität“.
Herausforderungen
Aktuelle Themen und Fragestellungen, Herausforderungen und mögliche Belastungen für die Disziplin und Profession Soziale Arbeit werden im letzten Abschnitt thematisiert. Die fünf Beiträge greifen die Frage nach Sexualität in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen auf, thematisieren die Aspekte Sexualität-Scham und Sexualität-Gewalt im Kontext Sozialer Arbeit, gehen auf den Aspekt Sexualität-Medien-Soziale Arbeit ein und befassen sich mit postheteronormativen Perspektiven im Kontext Sexualität und Soziale Arbeit. Die Texte zeigen auf, welche zentrale Bedeutung Sexualität für die Soziale Arbeit -gemeint ist hier: jede Soziale Arbeit- hat und welche Notwendigkeit eines bewussten, fachlich kompetenten Umgangs mit Sexualität, Sexualitäten in ihren ganz unterschiedlichen Auftretungsformen (ob als Thema in der Arbeit mit Kindern, ob als besonders sensibler Aspekt in Machtdiskursen, ob als pädagogisches Bildungsthema, oder als „unterschwelliges“ Thema in der Altenarbeit oder der Behindertenhilfe) gegeben ist. Die Chance solche Themen in Ausbildungsprozesse zu integrieren ist „leider verpasst worden“ (283), sodass die Chance sexueller Bildung in der Hochschulausbildung eher von Zufällen abhängt, oder von der Tatsache, ob das Studium an der einzigen Hochschule mit sexualpädagogischem Curriculum in Bachelor und Master (in Merseburg) absolviert wird. Die Herausforderung für die gesamte Soziale Arbeit liegt, so der Eindruck nach der Lektüre des Buches, insbesondere des letzten Abschnitts darin, Sexualität als zentralen Aspekt anzuerkennen und angemessen in Ausbildung, Praxis und Forschung aufzugreifen.
Zielgruppe des Buches
Fachkräfte Sozialer Arbeit in Ausbildung und Praxis, sowie Lehrende in diesem Bereich.
Diskussion
Das von Davina Höblich und Dominik Mantey herausgegebene Handbuch gibt einen Überblick über die aktuelle Forschung, die theoretischen und methodischen Ansätze zur sexuellen Bildung und führt in Grundfragen zur Sexualität ein. Damit wird das höchst relevante Thema für Ausbildung und Praxis erschlossen und regt zu einem bewussten Umgang, zu einer professionellen Gestaltung sexualpädagogischer Interventionen an. Das Handbuch zeichnet sich dabei durch eine grundlegende sozialarbeiterische Perspektive aus, indem lebensweltliche Bedingungen und konkrete Lebenssituationen spezifischer Zielgruppen in unterschiedlichen Lebensabschnitten (Kinder, Erwachsene, Lebensältere, Menschen mit Fluchterfahrung, mit Suchtproblemen etc.) fokussiert und im Zusammenhang mit Fragen und Bedingungen von Sexualität diskutiert werden. Insofern handelt es sich bei diesem Handbuch um einen Meilenstein für Disziplin und Profession, einerseits weil der aktuelle Wissensstand erschlossen und andererseits, weil bestehende Lücken in Methodenbildung, Forschung und Ausbildung Sozialer Arbeit benannt werden. Das Handbuch kann hier wichtige perspektivische Aufgaben übernehmen. Es wird an der Praxis und vorwiegend den Hochschulen liegen, ob diese Perspektive künftig stringenter aufgegriffen wird, oder weiter übersehen wird.
Als Handbuch greift der Band wichtige Aspekte und Arbeitsfelder auf. Einzelne Bereiche fehlen, was auch in der Einleitung der beiden Herausgeber*innen so benannt wird, teils, weil fehlende Beiträge nicht generiert werden konnten (etwa zur sozialraumorientierten Perspektive auf Sexualität, oder zum internationalen Diskurs), teils weil wichtige Arbeitsbereiche -aus unterschiedlichen Gründen- nicht angesprochen werden konnten, oder wurden. So kommt der Aspekt sexueller Gewalt durch Fachkräfte (z.B. in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe) deutlich zu kurz, Hinweise auf traumasensible Interventionen und Traumapädagogik im Umgang mit sexuell traumatisierten Zielgruppen fehlen gänzlich. Der Bereich Sexualdelinquenz, z.B. in Arbeitsfeldern der Bewährungshilfe, Strafvollzug und Maßregelvollzug fehlt ebenfalls (allerdings findet sich ein hervorragender Text von Jens Borchert zum Thema Sexualität in der Haft!). Unabhängig davon ist den beiden Herausgeber*innen ein hervorragender erster Aufschlag eines Handbuchs zum Thema Sexualität und Soziale Arbeit gelungen. Dem Buch ist eine breite Leser*innenschaft zu wünschen, ebenso zügige Neuauflagen, welche den Fortschritt des Diskurses dokumentieren und die bestehenden Leerstellen ausfüllen.
Fazit
Das Handbuch Sexualität und Soziale Arbeit führt umfangreich in Grundlagen und theoretische Konzepte ein, greift wichtige Arbeitsfelder auf, beschreibt Handlungsformen und -konzepte und benennt die bestehenden Herausforderungen und offenen Themen für Disziplin und Profession. Als Grundlagenwerk für Ausbildung und Praxis sollte der Band in keiner Bibliothek fehlen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 26.01.2024 zu:
Davina Höblich, Dominik Mantey (Hrsg.): Handbuch Sexualität und Soziale Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6477-3.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779961628. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779969549.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31209.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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