Thomas Trenczek (Hrsg.): Inobhutnahme
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 02.08.2023

Thomas Trenczek (Hrsg.): Inobhutnahme. Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Kinder- und Jugendhilfe - Sozialwissenschaftliche Grundlagen und rechtliche Regelungen, Handbuch. Richard Boorberg Verlag (Stuttgart) 2023. 4., überarbeitete Auflage. 492 Seiten. ISBN 978-3-415-07250-3. D: 72,00 EUR, A: 74,10 EUR.
Thema
Das Buch stellt die sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Krisenintervention durch die Kinder- und Jugendhilfe dar, gibt einen differenzierten Überblick über die derzeitige Praxis und erläutert umfassend die rechtlichen Regelungen der sozialpädagogischen Krisenintervention. Alle wesentlichen Rechtsfragen der Inobhutnahme nach dem SGB VIII werden detailliert und praxisbezogen kommentiert. Verantwortliche in den Jugendämtern und den Einrichtungsträgern wie auch der Rechtsprechung werden damit in die Lage versetzt, umfassende Antworten auf alle wesentlichen Fragen der Krisenintervention durch die Kinder- und Jugendhilfe zu finden. Berücksichtigung finden dabei folgende Themen:
- Sozialwissenschaftliche/-pädagogische Grundlagen der Krisenintervention sowie interdisziplinäre Erkenntnisse der Bezugswissenschaften
- Praxis der Inobhutnahme unter Auswertung der empirischen Daten der amtlichen Statistik
- Verfassungs-, familien-, sozial- und migrationsrechtliche Grundlagen der Schutzverpflichtung und Krisenintervention durch die Kinder- und Jugendhilfe (KJH)
- Detaillierte Kommentierung der Bestimmungen für die Krisenintervention durch die KJH
Zahlreiche Übersichten, Tabellen und Fallbeispiele sowie Profile von Einrichtungen zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen ergänzen die Ausführungen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Thomas Trenczek ist Rechts- und Sozialwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Strategien und Methoden konsensorientierter Streiterledigungsformen/Mediation, Jugenddelinquenz, Jugendhilfe und Strafverfahren sowie Jugendhilfe und Kinderschutz. Seit 1996 ist Trenczek Professor für Rechtswissenschaft (Öffentliches Recht, Jugend- und Strafrecht; Mediation/Konfliktmanagement) an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Als Verfasser*innen unterstützen ihn Susanne Achterfeld, Dr. iur. Janna Beckmann, Professorin Dr. Diana Düring, Andreas Neumann-Witt und Dr. phil. Jens Pothmann, die alle entweder aus den Rechtswissenschaften oder der Sozialen Arbeit stammen.
Entstehungshintergrund
Soeben erschienen ist die vierte Auflage dieses Handbuchs und berücksichtigt aktuelle Gesetzesänderungen und Rechtsprechung seit der Vorauflage, die 2017 erschien.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Teile: sozialwissenschaftliche und rechtliche Grundlagen sowie einen Anhang. Vorangestellt sind ein Vorwort zur aktuellen Ausgabe sowie das Vorwort zur zweiten Auflage aus dem Jahr 2008. Die Teile sind stark untergliedert.
Sozialwissenschaftliche Grundlagen
- Krisenintervention in der Kinder- und Jugendhilfe – Sozialpädagogischer Hintergrund
Zum Auftakt widmen sich die Autor*innen ganz grundsätzlich dem Begriff der Krise in der Sozialen Arbeit als kritisches Lebensereignis. Ausführlich werden verschiedene Krisentypen beschrieben. Darunter fallen normative kritische Lebensereignisse, worunter Meilensteine im Lebenslauf wie zum Beispiel der Beginn der Schullaufbahn fallen. Ein zweiter Typ sind non-normative kritische Lebensereignisse, wozu zum Beispiel Unfälle zählen aber auch normative Ereignisse zu Unzeiten, worunter beispielsweise eine Teenager-Schwangerschaft fällt. Ein drittes Feld sind die sogenannten historisch-kritischen Lebensereignisse, wozu Kriege oder Naturkatastrophen gehören.
Im weiteren Verlauf des Kapitels werden Verhaltensweisen des Menschen auf eben jene Krisen beschrieben. So finden sich hier zum Beispiel Übersichten über häufig auftretende Muster, die Kinder und Jugendliche in schweren Krisen zeigen, sowie über Verlaufsphasen von Krisen und Resilienzfaktoren. Im weiteren Verlauf wird beschrieben, welche Ziele grundsätzlich durch Krisenintervention erreicht werden sollen, und was speziell in diesem Zusammenhang das Wesen der Inobhutnahme als Krisenintervention ausmacht.
Ein nächster Unterabschnitt beschäftigt sich mit Gefährdungseinschätzungen und Diagnoseinstrumenten im Vorfeld einer Inobhutnahme und deren immenser Bedeutung für den gesamten Prozess.
- Praxis der Krisenintervention in der Kinder- und Jugendhilfe
Das erste Unterkapitel widmet sich der Praxis der Inobhutnahme unter Berücksichtigung verschiedener ‚Zielgruppen‘: Es geht also darum, welche Notwendigkeiten es in den jeweiligen Gruppen gibt, welche Vorgehensweise sinnvoll und (gesetzlich) notwendig sind und wie sie mit sozialpädagogischem Handeln in Einklang zu bringen sind. Betrachtet werden die Bereiche Säuglinge und jüngere Kinder, Mädchen und junge Frauen, Kinder und Jugendliche mit kompliziertem Hilfeverlauf und Junge Volljährige (zu den beiden Bereichen siehe unten im Abschnitt Diskussion) sowie Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Anschließend werden sozialpädagogische Grundsätze und Rahmenbedingungen für die Krisenintervention durch Inobhutnahme beschrieben, bevor die Autor*innen einen Blick auf die Zahlen von Verfahren im Zusammenhang mit Mitteilungen über (eventuelle) Kindeswohlgefährdungen nach § 8a SGB VIII, Inobhutnahmen und familiengerichtlichen Entscheidungen werfen. Die Zahlen zu Inobhutnahmen werden ausführlich analysiert.
Es folgt ein Unterkapitel zur Innensicht in die Praxis der Jugendschutzstellen, bevor als Abschluss die Bereitschaftspflege als spezielle Form der Inobhutnahme gerade für jüngere Kinder dargestellt wird.
Rechtliche Grundlagen
Mit rund 250 Seiten ist dies der umfangreichere Teil des Buches, der sich in folgende Kapitel untergliedert.
- Rechtliche Grundlagen der Krisenintervention in der Kinder- und Jugendhilfe
Dieses Kapitel bildet eine tief angelegte Einführung in die Rechtsbereiche, die zum Thema Inobhutnahme gehören. So werden zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben und familienrechtliche Grundsätze für Krisenintervention in der Kinder- und Jugendhilfe eingeführt, bevor das Thema Sorgerechtseingriff bei Kindeswohlgefährdung bearbeitet wird. Es folgt eine grundsätzliche Darstellung des familiengerichtlichen Verfahrens sowie der Mittel, die das Familiengericht zur Abwendung von Gefährdungen für Kinder und Jugendliche anordnen kann.
Daran anschließend geht es um die Grundsätze des Kinder- und Jugendhilferechts: An wen wird Hilfe eigentlich adressiert? Welches Verständnis hat der Gesetzgeber von der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt? Ein Fokus dieses Kapitels liegt auch auf dem gesetzlich normierten Schutzauftrag, den sowohl freie als auch öffentliche Träger der Jugendhilfe gegenüber den jungen Menschen haben. Dazu gehört auch die Frage, inwieweit sich eigentlich der öffentliche Träger der Jugendhilfe an Beschlüsse des Familiengerichts halten muss bzw. wie es mit dem Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz eigentlich aussieht.
Es folgen grundlegende Aspekte des Straf- sowie Asyl- bzw. Aufenthaltsrechts.
- Krisenintervention nach dem SGB VIII
Dieses Kapitel ist das fast 140 Seiten starke Herz des Buchs. Hier wird dezidiert dargelegt, wie mit Gefährdungsmeldungen nach § 8a SGB VIII umzugehen ist und wann diese zu einer Inobhutnahme führen (können). Dazu werden alle Phasen einer Inobhutnahme beschrieben und zahlreiche Fragen beantwortet. Wann endet eigentlich eine Inobhutnahme? Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten während der Inobhutnahme aus und welchen Grundsätzen folgt sie? Wer trifft während einer Inobhutnahme Entscheidungen für die/den Minderjährigen? Auch freiheitsentziehende Maßnahme und unter Umständen die Anwendung von Zwangsmitteln zur Krisenintervention werden diskutiert. Abgerundet wird das Kapitel von Verfahrensfragen und der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen.
Den Anhang bilden ein umfassendes Literatur- und Stichwortverzeichnis.
Diskussion
Mehr geht nicht: Umfassender als hier kann man das Thema Inobhutnahme mit als seinen Facetten nicht beleuchten. Durch eine klare und vor allem kleinschrittige Gliederung bietet sich der Titel nicht nur zum bloßen Durcharbeiten an, sondern auch zum Nachschlagen bei konkreten Fragen. Fettungen im Text, visualisierte Darstellungen wichtiger Aspekte und Informationskästen sorgen durchgängig für eine gute Lesbarkeit. Und so hält das Buch vollends, was es auf dem Cover verspricht: Es ist ein Handbuch im besten Sinne, das Standard für alle Fachkräfte sein sollten, die mit dem Thema Inobhutnahme und Krisenintervention in Kontakt kommen.
Auf den ersten Blick verwirrend mag es wirken, warum im Kapitel Praxis der Krisenintervention das Thema Junge Volljährige betrachtet werden, können diese doch aufgrund eben jener Volljährigkeit gar nicht mehr in Obhut genommen werden. Aber der Abschnitt macht besonders Sinn, weil er in Bezug zur häufig üblichen Praxis gesetzt wird, junge Menschen kurz vor dem 18. Geburtstag eben nicht mehr in Obhut zu nehmen, weil sie kurz vor der Volljährigkeit stehen. Ein großes Plus in diesem Kapitel ist der Abschnitt Kinder und Jugendliche mit kompliziertem Hilfebedarf. Darunter fallen häufig die sogenannten Systemsprenger (als feststehende Begriff und daher nicht gegendert), die von einem Abbruch in den nächsten schlittern und mangels Anschlussmaßnahme in Obhut genommen werden, um sie in entsprechenden Einrichtungen ‚zu parken‘ – was in der Regel die Tatbestandsmerkmale einer Inobhutnahme gar nicht erfüllt und außerdem Plätze für akute Notfälle blockiert. Besonders spannend an dieser Stelle: Auch Jugendliche, die vom Jugendhilfesystem entkoppelt sind und gar keine Hilfe wollen, werden in diesem Kapitel näher betrachtet. Der Umgang mit ihnen ist komplex, stellt doch der Lebensmittelpunkt auf der Straße mit den damit verbundenen Gefahren zweifelsohne eine Kindeswohlgefährdung dar, die eine Inobhutnahme rechtfertigt. Es stellt sich bloß die Frage, ob das zielführend ist, wenn der junge Mensch die Inobhutnahmestelle aufgrund seiner miserablen Erfahrungen mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sehr schnell wieder verlassen wird.
Fazit
Auch in der vierten Auflage bleibt dieser Titel ein oder vielleicht sogar das Standardwerk zur Inobhutnahme. Der hohe Preis wirkt sicherlich abschreckend auf den ersten Blick, aber das Buch ist jeden Euro wert und bietet auch für erfahrene Praktiker*innen viele Informationen.
Rezension von
Wolfgang Schneider
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 02.08.2023 zu:
Thomas Trenczek (Hrsg.): Inobhutnahme. Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Kinder- und Jugendhilfe - Sozialwissenschaftliche Grundlagen und rechtliche Regelungen, Handbuch. Richard Boorberg Verlag
(Stuttgart) 2023. 4., überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-415-07250-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31213.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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