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Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben

Rezensiert von Peter Flick, 28.09.2023

Cover Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben ISBN 978-3-518-58795-9

Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 316 Seiten. ISBN 978-3-518-58795-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Thema

Bittere Gefühle von Unrecht und Zurücksetzung sind in jedem Leben präsent, sie müssen sich deshalb nicht zwangsläufig zu Ressentiments verfestigen, meint die in Paris lehrenden Psychoanalytikerin und politischen Philosophin Cynthia Fleury. Jeder Mensch hat die Fähigkeit zu seinen Ressentiments auf Distanz zu gehen.

Genau davon will der in seine „Ressentiments verliebte Mensch“ (Fleury) nichts wissen. Er genießt die Bitterkeit und pflegt lieber seinen Groll über vergangenes und fortbestehendes Unrecht, statt etwas an seiner miserablen Lage zu ändern. Die negativistische, „passiv-aggressive“ Grundhaltung entfaltet nicht zuletzt in antidemokratischen Oppositionsbewegungen ihre soziale Sprengkraft.

Autorin und Entstehungshintergrund

In Frankreich hat Cynthia Fleury mit ihrer Diagnose offensichtlich einen Nerv getroffen. Ökonomische oder politische Theorien stoßen an ihre Grenzen, wenn es um politische Emotionen geht, die sich zunehmend gegen die Idee einer liberalen und sozialen Demokratie wenden. Sozialpsychologische Ansätze sind gefragt, um diese Lücke zu schließen. Cynthia Fleurys (*1974), Psychoanalytikerin und Professorin für politische Philosophie, setzt in dem neuen Buch ihre Überlegungen zum Zusammenhang von Gesundheitsfürsorge und Demokratie fort, die sie in,„Les Pathologies de la démocratie“ (2005), „Les Irremplaçables“ (2015) und „Le soin est un humanisme“ (2019) begonnen hat.

Aufbau und Inhalt

Die Essays der Autorin kreisen um drei Themen: die Psychologie eines durch Rachsucht vergifteten Charakters (I), die Erfahrung des Faschismus als Quelle sozialer Ressentiments (II) und einem Plädoyer für eine offene Weltsicht (III).

I. Das Bittere. Was der Mensch des Ressentiments erlebt

In Max Schelers Buch „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (1912) ist der „Mensch des Ressentiments“ jemand, der sich in seinen Rechten und Ansprüchen verletzt fühlt. Er frisst seine Verletztheit in sich hinein, um an ihr herumzukauen, zunehmend verbittert über sein Kauen auf einer „ausgelutschten Speise“ (19). Die Steigerung der „Hassintentionen“ (21) beschreibt Scheler als „Groll“, für Fleury ein Schlüsselbegriff, um seine „negative Lebensenergie“ (21) und das „Hintertreiben des guten Willens“ (21) zu begreifen.

Den zweiten Schlüsselbegriff liefert Nietzsches „Sklaven-Moral“. In der „Genealogie der Macht“ (1887) analysiert er den jüdisch-christlichen Glauben als Quelle moderner Gleichheitsversprechen, die den Sozialneid schüren und die Neigung, die Verantwortung für das eigene Leben an andere abzugeben. Auch wenn sie dieser „diffamierenden Sicht der Gleichheit“ (36) nichts abgewinnen kann, sieht Fleury darin eine treffende Beschreibung von Verfallsformen des modernen Individualismus', die die Tendenz zu einem „falschen Selbst“ (43 f.) befördern. Nur dass Fleury diese „Ich-Schwäche“ und den Verlust eines unabhängigen Denkens nicht einem demokratischen Gleichheitsversprechen anlastet, sondern auf eine in der psychischen Struktur des Menschen angelegte „Unaufrichtigkeit“ zurückführt. „Unaufrichtig“ aber wird ein Mensch, weil er das Ressentiment wählt, auch wenn er sich „im Fieber der Verbitterung“ der „gewählten Schwäche nicht bewusst“ (58) sein mag.

Für Fleury liegt der Schlüssel einer Überwindung des Ressentiments in der welterschließenden Funktion der ästhetischen Sprache, die dem Leben wie der Kunst einen individuellen Stil verleiht. Mit Gilles Deleuze („Nietzsche und die Philosophie“,1962/1973) liest sie Nietzsches Philosophie des Tragischen als therapeutische Katharsis, die zu einer gesunden „Distanz zum Unglück der Welt“ (81) führt. Die „stoische, fast >aristokratische< Übung“ lehrt die Freiheit, „sich selbst ein ethisches Ziel“ (82) aufzuerlegen. Nietzsches „Amor fati“ als „Kraft zur Bejahung des Selbst und des Lebens“ (84) lässt sich für Fleury deshalb zwanglos an Beschreibungen Donald W. Winnicotts zur Psychodynamik von Übertragung und Gegenübertragung (102 ff.) und an Montaignes Ratschläge zum Umgang mit „negativen Energien“ des Ressentiments (112 ff.) anschließen.

II. Faschismus. Zu den psychischen Quellen des kollektiven Ressentiments

Welche Lehren bietet die europäische Geschichte des Faschismus? Fleury geht in ihrer Antwort mit Pierre Labories Arbeit zum französischen Widerstand im Vichy-Frankreich (171) und Robert O. Paxtons „Anatomie des Faschismus“ (172 ff.) nur am Rand auf die historische Forschung zu dem Thema ein. Im Zentrum stehen neben den moralphilosophischen Reflexionen Theodor W. Adornos, die die Erinnerung an die „Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (140) in der Sozialphilosophie verankert haben, aber vor allem Wilhelm Reichs Darstellung des „autoritären Charakters“ in „Massenpsychologie im Faschismus“ (1933).

Nach Ansicht Reichs ist es den faschistischen Bewegungen gelungen, die durch eine repressive Moral gehemmten libidinösen Energien in einer Massenbewegung freizusetzen und zu kanalisieren. Eine durch autoritäre Strukturen erzeugte „Freiheitsunfähigkeit“ der Massen (vgl. 154 f.) stellt für Fleury eine zivilisatorische Herausforderung dar, die in jeder Generation neu bewältigt werden muss, um „die Weitergabe des Ressentiments von Generation zu Generation zu beenden.“ (155). Allerdings dürfe der Rechtspopulismus von heute nicht einfach mit dem „historischen“ Faschismus gleichgesetzt werden. Das „militärische Ideal“ einer durch Krieg und Gewalt erneuerten Nation (vgl. 176) stehe nicht mehr im Zentrum ihrer Strategie. Allerdings drängen sich „Ähnlichkeiten“ in den Mustern der Krisenrhetorik auf und ein Wiederaufleben der „Ästhetik des Krieges“ (178) möchte siefür die Zukunft nicht ausschließen.

III. Das Meer. Eine offene Welt für den Menschen

„Deklosion“ oder „Öffnung“ (vgl. 195 ff.) ist der Leitbegriff eines ethnopsychiatrischen Reformkonzepts, das der aus Martinique stammende Psychiater Frantz Fanon entwickelt hat. Krankenhäuser und Psychiatrien zu sozialen Orten zu machen, die den Einzelnen mit seiner besonderen Krankengeschichte wahrnehmen (vgl. Anerkennung der Singularität, 253 ff.) ist ein Ziel, dem sich auch Cynthia Fleury mit ihrem Projekt an der psychiatrischen Abteilung der GHU Paris verpflichtet fühlt (252).

Vor dem Hintergrund therapeutischen Erfahrungen macht Fleury zwei Vorschläge einer „Ich-Erweiterung“ als präventiver Schutz gegen Rückfälle in ein Ressentiment. Zunächst geht es um die „Sorge für sich und für andere“ („Zur Ich -Erweiterungen I“, 283 ff.). Im Einzelnen zielen sie auf die Erweiterung des sprachlichen Horizonts und der kreativen Fähigkeiten durch die Beschäftigung mit Literatur und Kunst; dann auf die Tugenden der „Liebe und Freundschaft, im aristotelischen Sinn“ (284) und den Sinn für Humor („vis comica“). In einem zweiten Kapitel („Zur Ich-Erweiterung II“, 290 ff.) erinnert sie mit Karl Popper und Hermann Broch an die liberale und pluralistische Wertorientierung des demokratischen Rechtsstaats, der unterschiedliche Elemente einer „freien Persönlichkeitsentwicklung wie (..) von Gemeinschaftsgefühlen“ (Broch, 292) im republikanische Staatsbürgerethos zusammenfügt. Das wird von ihr am Beispiel des französischen „Laizismus'“ verdeutlicht. Erst ein religiös neutraler Staat mache es auf der Basis universalistischer Werte möglich, das „persönliche Verhältnis zur Transzendenz“ ohne Zwang von außen zu klären (vgl. 294 f.). Der „Sinn des politischen, sozioökonomischen Kampfes“(302) aber soll sich, so Fleury,nicht darin erschöpfen, für „materielle Sicherheit“ (302) zu sorgen, da soziale Ressentiments, wie Pierre Bourdieu feststellt, vor allemaus einem „positionsbedingten Elend“ (303) herrühren.

Diskussion

Dass sich so viele Menschen für die „Unaufrichtigkeit“ entscheiden und dabei Affinitäten zum Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien entwickeln, erklärt Fleury mit einem von Scheler und Nietzsche suggestiv gezeichneten Bild der „negativistische(n) und oppositionelle(n) Persönlichkeit“ (92), die sich im existenziellen Dauerwiderstand gegen Staat und Gesellschaft befindet. Die soziale Physiognomie eines „passiv-aggressiven Charakters“ (92) mag auf ein bürgerliches Milieu der „Mitläufer“ des Rechtspopulismus' zutreffen, weniger auf den offenen Zynismus der intellektuellen Drahtzieher und politischen Strategen, die kalkuliert ihre Hassreden in den sozialen Medien verbreiten.

Auch die Massenpsychologie, wie sie in der Nachfolge Freuds von Reich und Broch fortgeführt wurde, darf in ihrem Erklärungswert nicht überschätzt werden. In historischer Hinsicht eignet sich dieser Ansatz dazu, Teilaspekte faschistischer Politik zu erklären, wie die inszenierten plebiszitären Massenveranstaltungen mit ihrer charismatischen Führerverehrung und ihrer durch Ressentiments geschürten Gruppendynamik. Aber sie tragen nichts zum Verständnis der staatlichen Institutionen im Faschismus bei. Vor allem erscheint die Massenpsychologie und ihre Vorstellungen von sklavischer „Hörigkeit“ der Massen wenig plausibel, um die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Mentalitätsveränderungen und Regressionen in westlichen Gesellschaften plausibel zu machen. In der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) wandelt sich auch die Gestalt des traditionellen „autoritären Charakters“ zu einem rebellischen, „libertären Autoritarismus“ (siehe Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit, 2023).

Fazit

Trotz dieser Einschränkungen zeigt Fleurys Buch, dass es auch heute gelingen kann, Einsichten der Psychoanalyse für eine politische Psychologie fruchtbar zu machen. Wichtig erscheint vor allem ihre Begründung, warum die Bekämpfung von Ressentiments einen langen Atem und ein präventives Handeln im Bereich der Bildungs- und Sozialpolitik erfordern. Für Fleury ist es illusionär zu glauben, man könnte tief in Sozialbiografien wurzelnde Ressentimenthaltungen in einem politisch-therapeutischen Diskurs kurzfristig „korrigieren“.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 28.09.2023 zu: Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. ISBN 978-3-518-58795-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31215.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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