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Frank Como-Zipfel, Gernot Hahn u.a.: Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH)

Rezensiert von FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller, 08.11.2023

Cover Frank Como-Zipfel, Gernot Hahn u.a.: Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH) ISBN 978-3-87159-376-5

Frank Como-Zipfel, Gernot Hahn, Daniel Kilian: Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH). Materialien zur Praxis aufsuchender Sozialer Arbeit. dgvt-Verlag (Tübingen) 2023. 156 Seiten. ISBN 978-3-87159-376-5. D: 22,80 EUR, A: 23,50 EUR.
Reihe: Materialien - 76.

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Thema

Hausbesuche gehören über verschiedene Handlungsfelder der Sozialen Arbeit hinweg zum methodischen Kanon seit dem Beginn der Professionalisierung. Schon 1899 publizierte Mary Richmond als eine der Gründerpersönlichkeiten der Sozialen Arbeit ein Konzept des „Friendly Visiting of the poor.“ Während aufsuchende Soziale Arbeit über Streetwork und Outreach öffentliche und halböffentliche Räume in den Blick nimmt ist das tatsächliche Betreten privater Wohnkontexte, zwar ebenfalls aufsuchend, aber doch ein Spezialbereich professionellen Handelns. Die Autoren machen diesbezüglich eine wachsende Publikationstätigkeit zu Thema aus, sehen aber einen ausgesprochenen Mangel an veröffentlichter Beschäftigung mit aufsuchenden Methoden und Verfahren.

Aufbau

Der Materialienband ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil werden die Grundlagen behandelt, beginnend mit den gesetzlichen Grundlagen der Jugendhilfe, der Schulsozialarbeit, der Gerichts- und Bewährungshilfe, der Eingliederungshilfe und der ambulanten Krisenhilfe. Nach einem Kapitel über Hausbesuche als Aspekt von aufsuchender psychosozialer Arbeit generell wird auf die Theoriebezüge eingegangen. Es werden Lebensweltorientierung, Sozialraumorientierung, Lebensbewältigung und das Lebenslagenkonzept skizziert. Mit einem Fallbeispiel wird der Grundlagenteil abgeschlossen.

Im zweiten Teil werden Hausbesuche als allgemeines Handlungsmodell konzipiert und mit sehr handlungsbezogenen Materialen wie Checklisten, Protokollvorlagen, Ablaufplänen und Diagnoseinstrumenten methodisch ausformuliert. Dazu werden ethische Perspektiven angeführt und als eine Art Metamethodik ein Bogen von Setting und Vorbereitung, Zielklärung und Dokumentation, Krisen, soziale Diagnostik, Methoden und Intervention bis zur Beendigung und Evaluation gespannt. Besonders für die soziale Diagnostik werden viele der gängigen Instrumente der Datenerfassung und Strukturierung vorgestellt.

Im dritten Teil, der Diskussion und dem Fazit, wird in einer Zusammenschau festgestellt, dass Hausbesuche integraler Bestandteil einer Vielzahl von Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit sind und dabei eine „besonders wirkmächtige Intervention“. Die Anlässe für Hausbesuche sind dabei vielfältig: von Unterstützungsaufträgen auf freiwilliger Basis durch die jeweiligen Zielgruppen bis zu Kontrollaufträgen von Behörden und Institutionen, beziehungsweise Mischformen mit mehr oder weniger Zwang geht das Spektrum aufsuchender Sozialer Arbeit in privaten Wohnkontexten. Die Autoren sehen hier einen Bedarf für evidenzbasierte Forschung, um die Wirkfaktoren des Handlungsmodells Hausbesuche zu erfassen.

Inhalt

Die Autoren geben durch ihre Gliederung eine klare Übersicht und Strukturierung des Themas Hausbesuche aus methodischer Perspektive. Durch die Verwendung von Beispielen, Diagrammen und methodischen Instrumenten erfüllen sie ihren Anspruch, Materialien zur Praxis bereitzustellen.

Zu Beginn wird ein Überblick über die Konzepte Lebenswelt- und Sozialraumorientierung mit kurzen Referenzen zu Thiersch, Galuske und Röh gegeben. Hier werden die Perspektive der Adressat*innen, deren Eigensinn und konkrete Lebenspraxis, illustriert mit zwei Fallbeispielen, als grundlegend für das professionelle Handeln definiert. Im Anschluss wird der Lebensbewältigungsansatz von Böhnisch skizziert und dessen Bedeutung für Hausbesuche konkretisiert. Das allgemeine Handlungsmodell Hausbesuche wird in sieben Modulen beschrieben.

Im Modul 1 geht es um Zielklärung und Dokumentation. Auftragsklärung und Zieldefinition werden als unerlässlich für jedes professionelle Handeln gesetzt und somit auch für Hausbesuche. Die Gefahr, zu stark problemfokussierte Ziele zu formulieren und dabei die Ressourcen aus den Augen verlieren, wird thematisiert und mit literaturbegründeten Fragerastern bearbeitet. Zur Dokumentation werden mehrere Materialen vorgestellt.

Im Modul 2 wird auf die Settings und die Vorbereitung eingegangen. Mit Listen werden die unterschiedlichen Aspekte beleuchtet. Prominent wird das Thema Sicherheit gesetzt und dazu werden eigene Checklisten gezeigt.

Im Modul 3 wird die ethische Dimension beleuchtet. Die Machtposition der Fachkräfte verlangt ein besonderes Maß an Sorgfalt. Eine Orientierung an den Werten kann im professionellen Handeln zu ethischen Konflikten führen. Das Prinzip der informierten Zustimmung kann dabei Lösungen bringen, die Autoren diskutieren hier aber auch nachvollziehbar kritisch. Eine zweiseitige Checkliste zu ethischen Aspekten von Hausbesuchen zeigt konkret die Breite der ethischen Dimension.

Im Modul 4 werden Krisen thematisiert. Krisenintervention im Hausbesuch wird an den gängigen Modellen beschrieben und Fragen der Abklärung von Gefährdungslagen und Suizidalität bearbeitet. Auch hier werden entsprechende Checklisten vorgestellt.

Im Modul 5 wird auf Soziale Diagnostik eingegangen. Kurz wird die Diskussion um den Diagnosebegriff umrissen und dann werden sehr ausführlich verschiedene Verfahren dargestellt.

Im Modul 6 geht es um Methoden und Intervention, also um die Frage, wie die Begegnung im privaten Raum gestaltet wird, wie die Gesprächsführung aussieht und welche Themen sie umfassen kann.

Im Modul 7 werden Beendigung und Evaluation der Hausbesuche behandelt. Dazu werden ein Protokollbogen vorgestellt und Einschätzungsskalen sowohl für die Fachkräfte als auch für die Adressat*innen. Zum Abschluss wird ein Beobachtungsleitfaden präsentiert, der auf die Perspektive der Fachkräfte abzielt.

Im abschließenden Diskussionsteil wird die Frage der Entscheidung für oder gegen Hausbesuche mit einer Checkliste beleuchtet, es wird die Zieldefinition nochmals thematisiert und die Ablaufphasen werden komprimiert dargestellt. 

Diskussion

In einer ersten Lesung lässt sich an den letzten Satz des Geleitwortes von Peter Pantucek anschließen: „Es hätte so ein Buch schon längst geben sollen.“ Hausbesuche werden in verschiedenen Kontexten Sozialer Arbeit gemacht, und dabei wird oft genug vorausgesetzt, dass es sich nur um eine Variante grundlegender psychosozialer Arbeit handelt – also Information und Beratung nicht am Büro- oder Besprechungstisch sondern am Küchen- der Wohnzimmertisch. Dieses Buch thematisiert und begründet die Notwendigkeit eines eigenen methodischen Konzepts mit entsprechenden Leitfäden, Ablaufplänen und Arbeitsinstrumenten. Eine oberflächliche Vorstellung von Hausbesuchen zu überwinden, ist ein Verdienst dieses Buches.

Auch die kritische Perspektive zum Instrument Hausbesuch wird ausführlich behandelt: Neben dem Näherbringen von Hilfe und Unterstützung geht es auch um ein mögliches Eindringen in privaten Raum, es wird sozialdiagnostisch eruiert und dabei die Lebenswelt auch teilweise kontrolliert. Einmal ist auch ausdrücklich von einem „Zwangskontext“ die Rede. Hier spiegelt sich im Buch der lückenhafte Diskurs über Zwang in der Sozialen Arbeit wider. Es werden Ängste und Gefühle der Fremdbestimmung als „Nebenwirkung“ etwas verharmlost um dann wieder klar festzuhalten: In vielen Fällen widersprechen sich „die Ziele zwischen den Interessen der Klient*innen und Kostenträger“ deutlich. Die Gegenstrategie lautet, einen Konsens zu den Zielen herzustellen, welche berufsethisch und rechtlich begründet sind. Aber lässt sich der häufige Widerspruch von Zielen der Adressat*innen und Kostenträger durch Berufsethik und Recht auflösen? Wenn Mandate kollidieren oder nur ein Kontrollmandat vorliegt, wie viel Konsens ist da möglich? Was ist, wenn hier grundlegende Ansprüche wie Transparenz (Stichwort verdeckte Ziele), Akzeptanz und Ressourcenorientierung nicht erfüllt sind? Hier zeigt sich der lückenhafte Fachdiskurs zu Zwangskontexten: Forschungen zeigen, dass der „in vielen Fällen vorliegende Widerspruch“ nicht aufgelöst wird oder nicht aufgelöst werden kann. Wie schnell greifen Fachkräfte zum Etikett „Scheinkooperation“ und verschieben damit die (fehlende) Konsenskompetenz von sich zu den Adressat*innen? Die Berufsethik ist dabei wenig hilfreich, weil sie Freiwilligkeit postuliert bzw. die Realität von Zwangskontexten weitgehend ausklammert.

Generell ist die Perspektive der der Adressat*innen ausbaufähig. Während bei den Instrumenten Sozialer Diagnostik die Beteiligung dieser betont wird, werden zur Nachbereitung ethischer Aspekte nur Einschätzungen der Fachkraft herangezogen. Offen bleibt das Thema der Beschwerdemöglichkeiten von Adressat*innen in Bezug auf Hausbesuche (auch hier spiegelt sich der generelle Mangel an Beteiligung der Zielgruppen in der Sozialen Arbeit). Es wird zwar prominent auf die Gefahren eingegangen, die Fachkräfte bei einem Hausbesuch erwarten können, aber nicht darauf, welche Gefahren für Adressat*innen bestehen könnten. Dazu gehört dann auch die konsequente und nicht begründete Bezeichnung der Adressat*innen und Nutzer*innen als „Klient*innen“. Die hohe Sensibilität der Sozialen Arbeit in Bezug auf Gendersprache sollte auch andere Begrifflichkeiten umfassen. Hat sich im internationalen Fachdiskurs der Begriff „Service User“ durchgesetzt, so hält die deutschsprachige Bezeichnungspraxis (durchaus in Entsprechung zur professionellen Praxis) an einer Klientelisierung fest.

So wird auch nicht auf das Konzept des Familienrates, der eine besondere Form von Hausbesuchen vorsieht, eingegangen. Somit fehlt der Hinweis auf den Sorgebegriff, der den Problembegriff ergänzen bzw. ganz ablösen soll. Damit einher geht die Aussparung des Settings, wo Professionelle eine dezidierte Einladung zu Hausbesuchen erhalten. Mit einer ausdrücklichen Einladung ändern sich die Prämissen fundamental.

Ganz im Sinne der Autoren ist zu fragen, ob nicht die trotz Konsensbemühungen weiterhin bestehenden Zwangskontexte eigene methodische Konzepte brauchen. Hier wäre an die bestehende Publikation anzuschließen.

Fazit

Das Buch Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche schließt eine Lücke im Bezug auf aufsuchende Soziale Arbeit im privaten Wohnkontext von Adressat*innen und ist somit ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung. Dabei stellt es umfangreiches und sehr nützliches Arbeitsmaterial zur Verfügung, das das professionelle Handeln wesentlich erleichtern kann. Die Realität von nicht aufgelösten bzw. nicht auflösbaren Zwangskontexten und die Frage nach mehr Einbeziehung der Adressat*innen könnte in einem Folgeband methodisch behandelt werden.

Rezension von
FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller
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Es gibt 1 Rezension von Hubert Höllmüller.

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Zitiervorschlag
Hubert Höllmüller. Rezension vom 08.11.2023 zu: Frank Como-Zipfel, Gernot Hahn, Daniel Kilian: Allgemeines Handlungsmodell Hausbesuche (AHH). Materialien zur Praxis aufsuchender Sozialer Arbeit. dgvt-Verlag (Tübingen) 2023. ISBN 978-3-87159-376-5. Reihe: Materialien - 76. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31216.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.


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