Christina Clemm: Gegen Frauenhass
Rezensiert von Sabine Hollewedde, 21.03.2024
Christina Clemm: Gegen Frauenhass. Hanser Verlag (München) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-446-27731-1. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Thema
Christina Clemm widmet sich einem gerne beschwiegenen Thema: „patriarchalem Hass“ gegen Frauen (S. 13). Mit diesem „Hass“ meint die Autorin explizit nicht eine plötzlich jemanden überkommende Emotion, sondern „eine emotionale Gewohnheit oder Geisteshaltung, die auf frauenfeindlichen Ressentiments gründet. Die Ressentiments sind systemisch und systematisch, der Hass ist strukturell, zielgerichtet und dem patriarchalen System nicht nur innewohnend, sondern für dieses stabilisierend“ (ebd.). Clemm zeigt mit ihrem Buch, dass diese frauenfeindliche Haltung kein Problem einzelner Personen oder bestimmter Milieus ist, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen unabhängig von ökonomischer Stellung, Bildung und Herkunft vorherrscht. „Frauenhass betrifft alle Frauen – einige mehr als andere, aber unberührt bleibt keine“ (S. 14). Die Autorin schreibt vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Erfahrungen als Rechtsanwältin über erschreckende Schicksale von Frauen, über ‚häusliche Gewalt‘ bis hin zum Femizid, über ein Rechts- und Polizeiwesen, in welchem sich der alltägliche Sexismus reproduziert, in welchem Tätern Verständnis entgegenbracht wird und Opfer retraumatisierenden Prozeduren ausgesetzt werden. Sie ist der Überzeugung, dass erzählt werden muss, was ansonsten kaum Gehör findet, „sonst bleibt es, wie es ist, und wie es ist, darf es nicht bleiben“ (S. 18). Wie es ist, stellt Clemm eingangs dar: „Alle drei Minuten misshandelt ein (Ex-)Partner seine Frau, jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, an jedem zweiten bis dritten Tag gelingt es einem. Nur die wenigsten Frauen haben nie einen sexualisierten Übergriff erlebt“ (S. 16). Clemm zeigt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der scheinbar harmlosen anzüglichen Bemerkung in der Straßenbahn, der ökonomischen Stellung von Frauen in dieser Gesellschaft bis hin zum Femizid. Das Gemeinsame bezeichnet sie als einen in dieser patriarchalen Gesellschaft tief verwurzelten Frauenhass, der als solcher eigentlich ein „Männerthema“ sein sollte, da er ein „Männerproblem“ sei. Gewidmet ist das Buch „[a]ll jenen, die sich täglich dem Hass entgegenstellen. Zu Hause, auf der Straße, im Verborgenen oder im Rampenlicht.“ Und so lautet auch die abschließende Botschaft der Autorin: „Was wir brauchen, sind Mut und Vielfalt, Wut, Kreativität, Solidarität und Ausdauer. Voller Zugewandtheit und Menschenliebe gegen den Frauenhass – weiterkämpfen!“ (S. 236).
Autorin
Christina Clemm ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Straf- und Familienrecht. Sie vertritt seit beinahe 30 Jahren Opfer geschlechtsbezogener, sexualisierter, rassistisch motivierter, rechtsextremer, LSBTI*-feindlicher, antisemitischer und sonstiger menschenverachtender Gewalt. Sie ist zudem Anhörungsbeauftragte der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und berät unterschiedliche Organisationen zur Prävention und Aufarbeitung geschlechtsbezogener Gewalt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sieben Abschnitte unterteilt. Nachdem Clemm im ersten Kapitel „Kein Ort, nirgends“ das Thema vorstellt und feststellt: „Der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch ihr eigenes Zuhause“ (S. 17), schildert sie in „Lisa M. – ein Fallbeispiel“, welches „frei erfunden“ sei (S. 17), das Muster einer Gewaltspirale, die schließlich im Mord an Lisa M. durch ihren Mann gipfelt. Clemm stellt die Dynamik einer Beziehung dar, in der der Mann zunächst subtil dominiert, schließlich beginnt, seine Frau zu kontrollieren, es zu ersten Fällen körperlicher Gewalt und dann regelmäßiger brutaler Gewalt gegen die Frau kommt. Sie versucht zu fliehen, doch der Mann kann sie trotz großer Vorsichtsmaßnahmen finden und ersticht sie auf offener Straße mit sieben Messerstichen und prügelt zusätzlich auf den bereits leblosen Körper ein.
In dem darauffolgenden Kapitel „Wir wollen uns lebend!“ geht es um Femizide und darum, wie unzulänglich juristische und polizeipraktische Verfahrensweisen gerade bezogen auf dieses Thema in Deutschland sind. Clemm betont, dass nicht feministischer Kampf solche Gewalt gegen Frauen provoziere, sondern die erschreckend hohen Femizidraten vielmehr Ausdruck einer „sich bislang nach jedem erkämpften Fortschritt wieder einpendelnden Politik der Ungleichheit“ seien (S. 46). Patriarchaler Hass werde nicht nachhaltig bekämpft, „da er die herrschenden Lebensverhältnisse stützt.“ (ebd.) Die Autorin stellt hier wie durchgehend den Zusammenhang von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Unterdrückung von Frauen, ja die ‚Nützlichkeit‘ des Patriarchats für das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis heraus. „Die Verfügungsmacht [eines Mannes über seine Frau; S.H.] ist nicht mehr rechtlich abgesichert – und dennoch gesellschaftlich gedeckt“ (S. 47). Auch wenn ein einzelner Mann „wahrscheinlich nicht aus der Absicht heraus [seine Frau tötet; S.H.], das Patriarchat zu stützen“, seien diese scheinbar privaten ‚Tragödien‘ nur innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft zu begreifen und durch diese gedeckt: „Er tötet in dem Bewusstsein, dass der Verlust seines Ansehens durch das Dulden der Handlungen der Frau massiver ist als der, ein Frauenmörder zu sein“ (ebd.). Daher sei es unbedingt nötig, Gewalt gegen Frauen und Femizide als strukturelle Probleme zu begreifen: „Es bedarf der Analyse der Strukturen, die all diese Morde zulassen und Tätern ermöglichen, trotz vorheriger Ankündigung und Gefahr bringenden Verhaltens weiterzumachen“ (S. 48).
Unter Bezugnahme auf Klaus Theweleit und Veronika Kracher betont Clemm, dass der Frauenhass rechtsextreme, antisemitische und islamistische Gewalttäter miteinander verbinde, und kritisiert, dass in der Regel diese Verbindung nicht wahrgenommen werde. „Dahinter steckt der Mythos, dass es bei häuslicher Gewalt einer besonderen Dynamik zwischen Täter und Opfer bedürfe, um den Täter zu seinen Taten zu bewegen. Hätte sie sich anders verhalten, dann wäre es nie so weit gekommen. ‚Zu einem Streit gehören immer zwei.‘ Aber das ist so schlicht wie falsch. Zum Zuschlagen, Töten, Misshandeln braucht es genau einen“ (S. 52 f.). Immer noch werde – gerade in Deutschland – Gewalt gegen Frauen als eine ‚private Angelegenheit‘ angesehen und auch so behandelt. Der Vergleich etwa mit Spanien zeige, dass es auch anders ginge, dass der Schutz von Frauen staatlicherseits deutlich wirksamer gestaltet werden könnte. Während in Spanien Männer, die ihre (Ex-)Partnerinnen mit dem Tod bedrohen, mit elektronischen Fußfesseln versehen werden, sodass sie sich nicht unbemerkt der bedrohten Frau nähern können, werde hingehen in Deutschland „den Frauen geraten, die Stadt zu verlassen und darauf zu hoffen, dass er sie nicht findet. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten und Tätern ist ein hohes Gut, der Freiheitsbegriff hierzulande so individualisiert, dass das Gemeinwohl kaum Berücksichtigung findet, besonders dann nicht, wenn es das Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung von Frauen betrifft“ (S. 56).
Bezeichnend ist der Umgang der deutschen Justiz mit Femiziden, worin sich ebenfalls eine durch und durch patriarchale Gesellschaft manifestiere. Die Anwältin Clemm stellt fest: „Mordmerkmale wie Rassismus, Antisemitismus oder Frauenhass gibt es nicht“ (S. 63). Solcherart Motive könnten zwar als „niedrige Beweggründe“ von einem Gericht gewertet werden – doch hier tue sich ein Spielraum auf. „Beweggründe gelten nach ständiger Rechtsprechung als niedrig, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders […] verachtenswert sind“ (ebd.). Es gibt daher in Bezug auf Frauenmorde keine einheitlich Rechtsprechung. Laut BGH können „Motive der Wut, Ärger, Hass, Eifersucht oder Rache niedrig sein […], wenn sie nicht menschlich verständlich sind.“ Der Maßstab zur Beurteilung, ob eine Tötung ‚menschlich verständlich‘ sei, sei ein „allgemein sittlicher“. Hier zeigt sich frappant, dass auch das Recht „‚durch männliche Sichtweisen geprägt‘“ ist (S. 63, zit. Habermann) und was dies konkret bedeutet. Clemm zitiert eine Ausführung des Bundesgerichtshofes zur Bewertung einer Tötung, welche in vielen Urteilen angeführt werde: „‚Auch die Tötung des Intimpartners, der sich vom Täter abwenden will oder abgewendet hat, muss nicht zwangsläufig als durch niedrige Beweggründe motiviert bewertet werden. Gerade der Umstand, dass eine Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, darf als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden.‘“ (S. 64, zit. BGH).
Das Kapitel „Verlorene Ehren“ handelt zunächst von „Gewaltspiralen“ und psychischen Strukturen der Täter. „Isolation und Kontrolle“ (S. 79 ff.) werden „[a]nfangs oft als Fürsorge getarnt“ Teil der psychischen Gewalt gegen die Opfer. Clemm führt Beispiele von Klientinnen an, um die Wirkung solcher psychischen Gewalt zu demonstrieren. Schließlich zeigt sie, dass es einen „strukturellen Nutzen geschlechtsbezogener Gewalt“ gibt: „Die Gewalt gegen Frauen bewirkt nicht nur individuell etwas, sie ist gesamtgesellschaftlich antifeministisch, denn sie verhindert die Gleichstellung der Geschlechter und Freiheit der Frauen. Durch die permanente Gewalt oder auch nur die Möglichkeit, Gewalt zu erfahren, werden Frauen aktiv darin behindert, sich selbst fortzuentwickeln, in ihren beruflichen und privaten Lebensentwürfen voranzukommen“ (S. 115). Folglich betont Clemm: „Das Private ist politisch, die Unantastbarkeit der Zweisamkeit gehört hinterfragt. Nichts spricht gegen einen ersten Liebestaumel, Isolation aber kann gefährlich sein“ (S. 116).
Sexualisierte Gewalt komme in allen Lebensbereichen vor. Unter der Überschrift „Macht, nicht Sex“ führt Clemm ihre These aus, dass es bei dieser Form der Gewalt „nicht oder nur am Rand um Sex“ gehe. „Nicht die sexuelle Befriedigung oder ein sogenannter Trieb stehen im Vordergrund, sondern eine besonders erniedrigende Form der Machtausübung und Diskriminierung“ (S. 118). In diesem Kapitel geht die Autorin u.a. auf das Phänomen der Maskulinisten ein, eine „Bewegung“, „die sich um die Selbstwirksamkeit von Männern sorgt, die Männlichkeit in Gefahr sieht, die behauptet, Männer hätten keine Rechte mehr, würden gecancelt und gegängelt“ (S. 131). Ein YouTuber namens „SuperExtreme“ wird beispielhaft angeführt, der behauptet, Frauen müssten durch Männer ‚erzogen‘ werden und sich in seinen Videos darüber beklagt, als Mann diskriminiert zu werden, wohingegen Frauen in dieser Gesellschaft alles erlaubt sei. Ein weiteres verstörendes Beispiel sind die sogenannten Pick Up Artists (PUA). „Sie bieten Männern Kurse an, in denen sie lehren, wie man Frauen ‚ins Bett kriegt‘“ (S. 132). Sexualisierte Gewalt wird in solchen Kreisen gerechtfertigt und als Teil wahrer Männlichkeit gefeiert. Ein prominentes Beispiel misogynen Gedankengutes in der Popkultur sind die Texte von Till Lindemann. Der Sänger der „Neue Deutsche Härte“-Band Rammstein verbreitet seit vielen Jahren „auf großer Bühne sexistische Inhalte“ (S. 133) und konnte in einem angesehenen deutschen Verlag einen Gedichtband veröffentlichen, in welchem er u.a. lustvoll die Vergewaltigung einer betäubten Frau beschrieb. Die Autorin will an solchen Beispielen demonstrieren, dass die Annahme naiv ist, solche ‚künstlerischen‘ Äußerungen hätten keine Entsprechung in der Praxis. – Clemm geht weiter u.a. auf „Frauen als Ware“ (S. 139 ff.) ein sowie auf „weibliche Körper im Krieg“ (147 ff.) und stellt schließlich die Alltäglichkeit der sexualisierten Gewalt gegen Frauen dar.
„Smash the Patriarchy“ lautet der Titel des folgenden Kapitels. Clemm plädiert dafür, nicht bloß für eine Teilhabe an der Macht zu kämpfen, sondern die Machtstrukturen zu zerschlagen: „Wer eine gerechte Gesellschaft für alle will, dem kann es nicht um Teilhabe an Macht gehen, sondern der muss für ihre Abschaffung kämpfen. Deshalb ist es kein Zufall, sondern Vorsatz, dass Personen, die gegen Rassismus, Klassismus und Sexismus eintreten, Personen, die die Geschlechterordnung grundsätzlich infrage stellen, zurückgedrängt, geschlagen und auch getötet werden“ (S. 184). Da patriarchale Gewalt heute allgegenwärtig geworden sei, sei „es schwer […], sie überhaupt als solche zu begreifen, geschweige denn sie zu bekämpfen“ (S. 187. Subtile Ungerechtigkeiten lauerten heute in jedem Lebensbereich und Sexismus beginne „viel früher, als er je in den Bereich der Justiziabilität gelangt“ (ebd.). Und genau darin liege die schwer zu durchbrechende, die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisierende Funktion von Sexismus. Clemm geht auf Antifeminismus, das Erstarken rechter politischer Kräfte, auf transfeindliche Gewalt und auf gravierende Probleme im Gesundheitswesen ein.
Das abschließende Kapitel ist betitelt mit „Solidarität ist unsere Waffe“. – Und dieser Titel ist Resümee und Aufforderung zugleich. „Solidarität und Empathie müssen gelernt werden, sie auszuüben ist keine Selbstverständlichkeit“ (S. 231). Die Autorin zitiert aus dem Manifest des chilenischen Kollektivs LASTESIS namens „Verbrennt Eure Angst!“. Hierin heißt es eingangs: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle“ (S. 231, zit. LASTESIS). Damit endet die Autorin mit einem emphatischen Aufruf zur Solidarität. Es folgen konkrete, an den Problemen von Frauen und non-binären Personen, die Gewalt erlebten, ausgerichtete Maßnahmenforderungen sowie Aufforderungen zur gelebten Solidarität. „Was wir brauchen? Nicht weniger als einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, nicht weniger als eine Revolution für das Leben“ (S. 235).
Diskussion
Christina Clemm zeigt mit ihrem Buch „Gegen Frauenhass“, wie tief misogynes Denken in der bürgerlichen Gesellschaft verwurzelt ist. Das Buch widerspricht der immer noch verbreiteten Auffassung, häusliche Gewalt gegen Frauen sei ein individuell-privates Problem oder gar auf ein unzulängliches Verhalten der Frau oder eine unglückliche psychologische Konstellation zurückzuführen. Clemms Buch führt der Leserin mitunter drastisch vor Augen, dass es sich um ein systemisches Problem handelt, das bis in die Rechtsprechung und die staatliche Exekutivgewalt hineinreicht und durch diese gestützt wird. Die Autorin zeigt, wie schwierig es für Frauen ist, in bedrohlichen Situationen Schutz zu bekommen, und wie skandalös weithin der juristische Umgang mit einem Femizid in Deutschland ist. So sind Frauenhass oder Eifersucht keine Mordmerkmale, was in der Praxis bedeutet, dass Männer, die ihre (Ex-)Partnerin töteten, oftmals nur mit einer kurzen Freiheitsstrafe zu rechnen haben, da das Töten der Frau im Affekt ggf. als ‚menschlich verständlich‘ gewertet werde, nicht aber als „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe“ stehend (S. 63). Clemm führt beispielhaft einen Fall an, in welchem „der Erste Senat des Bundesgerichtshofs das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes […] abgelehnt [hat], in dem ein Mann seine Partnerin, die ihm gerade eröffnet hatte, dass sie Gefühle für einen anderen Mann habe, und auf seine Nachfrage angab, mit diesem bereits intim gewesen zu sein, getötet hat. Es sei nachvollziehbar, dass er in Verzweiflung und Wut das Leben seiner Frau beendete“ (S. 64 f.). Im Strafgesetzbuch wird unter § 213 der „[m]inder schwere Fall des Totschlags“ angeführt. Dieser besagt, dass der Totschläger, wenn er „durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch zur Tat hingerissen [wurde] […], so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren.“ In der Praxis bedeutet dies, dass ein Femizid, wenn etwa die Frau zuvor sich von dem Mann trennen wollte, nicht als Mord gewertet wird und entsprechend mit einer nur geringen Freiheitsstrafe belangt werden kann, da die Rechtsprechung offenbar einem Mann keine große Affektkontrolle zutraut und insofern es „menschlich verständlich“ sei, eine Frau, die einen anderen Partner gefunden hat, zu töten.
Diese Ausdeutung des Rechts, die Clemm aus ihrer Berufserfahrung kennt, zeigt an, dass „Frauenhass“ ein systemisches und kein rein privates Problem ist. Clemm demonstriert überzeugend, wie die ‚Stellung der Frau‘ in dieser Gesellschaft trotz formaler Gleichheit nicht gleich ist. Die patriarchale Struktur prägt die bürgerliche Gesellschaft von Anbeginn und ist – worauf Clemm dankenswerterweise hinweist – keineswegs ein Phänomen, welches aus anderen Kulturen ‚importiert‘ wäre. Den Begriff ‚Ehrenmorde‘ kritisiert Clemm mit guten Gründen (S. 58 f.). „Stattdessen sollten wir sie als das bezeichnen, was sie wirklich sind: Femizide. […] Was die sogenannten Ehrenmorde mit allen hier beschriebenen Morden vereint, ist die Manifestation des Herrschaftswillens und die Überzeugung, dass Frauen diszipliniert werden müssen. […] Es sind toxische Vorstellungen von Männlichkeit, Ehre und Stolz, die herkunftsübergreifend der Hauptgrund dafür sind, warum Männer zu Gewalttätern werden“ (ebd.).
Dass solche Vorstellungen von Männlichkeit die Herrschaftsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft begleiten und stützen, zeigt Clemm anhand verschiedener Beispiele. Blickt man zurück auf die Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft und auf einen ihrer größten Aufklärer, nämlich Immanuel Kant, so wird die Verwobenheit von Frauenunterdrückung und bürgerlicher Herrschaft deutlich. In seiner Rechtsphilosophie beschreibt Kant unter der Überschrift „Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht“ das seiner Ansicht nach vernünftig begründete Recht der häuslichen Gesellschaft. Bei dieser merkwürdigen Rechtskonstruktion handelt es sich laut Kant um Folgendes: „Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person.“ [1] Sachen können laut Kant in Privateigentum überführt werden und nach der Willkür des Privateigentümers benutzt werden. Personen hingegen kommt als vernunftbegabten Freiheitswesen Würde zu und sie dürfen niemals als bloßes Mittel benutzt werden. Hier konstruiert Kant nun ein Recht, welches Besitz wie eine Sache markiere und zugleich den Gebrauch auf einen solchen einschränkt, der diesen Besitz als Person behandelt. In dem Eherecht ist laut Kant enthalten – da es ein auch dingliches Recht ist –, dass, „wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.“ [2] Außerdem stellt Kant fest, dass es keinesfalls der Gleichheit der Menschen widerspreche, wenn der Mann in der Ehe über die Frau herrscht: „[W]enn das Gesetz von dem Manne in Verhältnis auf das Weib sagt: er soll dein Herr (er der befehlende, sie der gehorchende Theil) sein, so kann dieses nicht als der natürlichen Gleichheit eines Menschenpaares widerstreitend angesehen werden, wenn dieser Herrschaft nur die natürliche Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche in Bewirkung des gemeinschaftlichen Interesse des Hauswesens und des darauf gegründeten Rechts zum Befehl zum Grunde liegt, welches daher selbst aus der Pflicht der Einheit und Gleichheit in Ansehung des Zwecks abgeleitet werden kann.“ [3] – So tief verwurzelt und unterfüttert ist das Patriarchale selbst im Denken eines bürgerlichen Aufklärers, der das moralische Gesetz als „heilig (unverletzlich)“ bezeichnet und begründet, dass „der Mensch […] Zweck an sich selbst“ ist. [4]
Clemm zeigt, dass die Auffassung einer quasi natürlichen Ungleichheit, welche zugleich mit einer Machtstrukturen rechtfertigenden Wertung verbunden ist, weiterhin omnipräsent in dieser Gesellschaft ist. Sie offenbart sich, wie Clemm an Beispielen darlegt, in (Pop-)Kultur, Ökonomie und Politik – und ganz besonders im ‚verborgenen Privaten‘. Der Aufruf zur feministischen Solidarität, welchen dieses Buch macht – und welcher nicht nur an Frauen gerichtet sein kann –, ist daher höchst aktuell und wichtig. „Frauenhass ist am Ende kein Frauen-, sondern ein Männerthema. Und ein Männerproblem. Warum beschäftigt es die Männer nicht, in einer so gewalttätigen Umgebung zu leben? Warum machen sie es nicht zu ihrem Anliegen, die Gewalt zu beenden? Weil sie von ihr profitieren? Wer schweigt, stimmt zu“ (S. 17).
Fazit
„Gegen Frauenhass“ ist ein leider höchst aktuelles Buch, das einem in dieser Gesellschaft tief verankerten Frauenhass nachgeht, der sich insbesondere in alltäglicher Gewalt von Männern gegen Frauen manifestiert. Clemm spürt feinsinnig und mit fundierten Kenntnissen Mechanismen und Strukturen misogynen Denkens und Handelns auf und stellt diese in aller nötigen Klarheit dar. Das Buch klärt im besten Sinne des Wortes auf und sollte nicht nur betroffene Frauen, sondern vor allem auch Männer erreichen.
[1] Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kants Werke Akademie Textausgabe Band VI, De Gruyter, Berlin 1968, S. 276.
[2] A.a.O., S. 278.
[3] A.a.O., S. 279.
[4] Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke Akademie Textausgabe Band V, De Gruyter, Berlin 1968, S. 87.
Rezension von
Sabine Hollewedde
Mailformular
Es gibt 24 Rezensionen von Sabine Hollewedde.
Zitiervorschlag
Sabine Hollewedde. Rezension vom 21.03.2024 zu:
Christina Clemm: Gegen Frauenhass. Hanser Verlag
(München) 2023.
ISBN 978-3-446-27731-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31222.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.