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Elmar Stracke: Die kalendarische Altersgrenze im Rentensystem

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 07.09.2023

Cover Elmar Stracke: Die kalendarische Altersgrenze im Rentensystem ISBN 978-3-7639-7343-9

Elmar Stracke: Die kalendarische Altersgrenze im Rentensystem. Willkür oder Gleichheit? : Eine philosophische Untersuchung. wbv (Bielefeld) 2023. 384 Seiten. ISBN 978-3-7639-7343-9. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Reihe: Sozialwissenschaften heute.

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Hinführung

Altersgrenzen beim Rentenzugang scheinen an sich unumstritten. Sie sind aber nicht zuletzt durch steigende kollektive Lebenserwartung und beschränkte Ressourcen ständig im Fluss. Das zeigen die Anhebung des Rentenzugangs in Deutschland 2007 von 65 auf 67 Jahre und die anhaltenden Diskussionen zur Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre in Frankreich in diesen Monaten. So ist der Zugang zur Altersrente kein Naturgesetz, sondern bedarf als gesellschaftliches Konstrukt der Begründung. Grundlage dafür war lange die Lebensalterung mit schwindenden körperlichen und mentalen Kräften für die Erwerbsarbeit im vorgerückten Lebensalter. Diese Reduktion schwindet mit den „fitten“ Alten indes. Leistungsloses Einkommen bedarf so einer gerechtigkeits-philosophischen Begründung. Diese philosophisch-normative Begründung versucht Elmar Stracke in seiner an der Universität Bayreuth entstandenen Dissertationsschrift unter der Fragestellung „Willkür oder Gleichheit?“ mit philosophischen, sozialwissenschaftlichen und gerontologischen Erkenntnissen abzugleichen. Die bei wbv-Media in Bielefeld erschienene Promotions-Arbeit gibt einen Einblick in die Einflüsse überkommener zeithistorischer Praktiken und humaner Wertvorstellungen auf politische Entscheidungen.

Verfasser

Dr. phil. Elmar Stracke arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Bundestag und promovierte an der Universität Bayreuth zum Dr. phil.

Aufbau

Der Eignung von Altersgrenzen im Rentensystem geht der Autor in sechs Kapiteln nach. Eingangs werden Gleichheit und Gerechtigkeit voneinander abgegrenzt. Kapitel 2 beleuchtet den zeitlichen Horizont von Altern. Kapitel 3 untersucht die Lebenslagen im Alter im Kontrast zwischen „drittem“ und „viertem“ Alter. Kapitel 4 gibt einen historischen Überblick über das deutsche Rentensystem. In Kapitel 5 wird die Zulässigkeit von Altersgrenzen beim Rentenzugang unter den Gesichtspunkten Willkür, Plausibilität und Gleichheit behandelt. Kapitel 6 summiert als Ergebnis der fixierten Altersgrenze die Überwindung von Willkür sowie die Herstellung von Gleichheit und Effizienz.

Inhalt

Zunächst legt sich Autor Elmar Stracke mit einer Abhandlung zu Gleichheit und Gerechtigkeit einen gerechtigkeits-philosophischen Instrumentenkoffer zur Beurteilung des Rentenregimes zurecht. Für ihn geht es nicht um arithmetische Gleichheit aller im Materiellen, sondern um gegenseitige Achtung und Anerkennung der Individuen auch im Alter. Demütigungen sollen ausgeschlossen sein, die Begegnungen alter Menschen untereinander und mit Jüngeren sollen auf Augenhöhe erfolgen können. Er spricht sich auch für einen Verhältnis-Egalitarismus statt für einen reinen Verantwortungs-Egalitarismus aus, weil letzterer nur auf Eigen(vor)leistungen (bzw. Nichtleistungen) abhebt. Was autonom vom Individuum zu verantworten ist, darf bis zu einem gewissen Grad zu einer dann proportionalen Ungleichheit führen. Dazu dürfen jedoch keine Schicksalsschläge führen. Somit darf es für unabsehbare Folgen individuellen Handelns Ausgleiche geben; „gutes Leben“ sollte sogar auch trotz individuell nachteiliger privater Entscheidungen möglich bleiben. Verdienst im Lebensablauf wird zum entscheidenden Kriterium für die individuelle Lebensausstattung auch im Alter über die Renten und damit auch von Ungleichheit (Meritokratie), weil auch Effizienz-Gesichtspunkte hierfür sprechen. Da zu Verdienst und Anstrengung auch Glück, Talent und Zufälle sich zu einer schwer zu durchschauenden Gemengelage individueller Situationen verbinden können, diskutiert der Verfasser verhältnis-egalitaristisch den Prioritarismus, der die Ressourcen mit John Rawls derart umverteilt, dass die Schlechtest-Gestellten am meisten profitieren, und den Suffizientarismus, der zugunsten derjenigen eingreift, die „nicht genug haben“; der Schwellenwert hierfür sei kontrovers zu fixieren. Aus seinem Zweifel an der Einspeisung ausschließlich finanzieller Ressourcen (für Kleidung, Nahrung, Gegenstände) angesichts unterschiedlicher individueller Bedürfnisse zeigt der Verfasser auch seine Sympathie für immaterielle Güter auf (wie Rechte, Beziehungen, Status, Optionen). Alle Menschen, auch die Alten, sollen zu diesen materiellen wie immateriellen Gütern gleichen Zugang haben, um möglichst autonom agieren zu können. Das könnte zur Neidfreiheit führen, an der sich eine egalitäre Gesellschaft erkennen ließe.

In seinem zweiten Kapitel zur Philosophie des Alters wirft der Autor nach einer gerontologischen Abhandlung des kalendarischen, sozialen, biologischen und existentiellen Alters die Frage der Altersdiskriminierung im Vergleich zur sexuellen und zu ethnischen Diskriminierungen auf. Sexismus und Rassismus seien eindeutiger identifizierbar als Ageismus (oder Alterismus), weil sich Altersdiskriminierung auf einer Kontinuums-Stange auch auf Jüngere beziehen könne und andererseits auch positive Reaktionen mit sich bringen könne. Auch seien alte Menschen keine soziale Gruppe, die – wie Frauen oder Farbige – manifest ihre Rechte einklage. Problematisch sieht es der Verfasser, wenn alten Menschen nach einer „fairen Lebenszeit“ weitere medizinische Versorgung mit der Begründung vorenthalten werde, diese müsse bei begrenzten Gesundheitsressourcen Jüngeren zuteilwerden; das könne rational vernünftig sein, müsse aber nicht gerecht sein. Im Ergebnis seines philosophischen Alters-Diskurses plädiert Stracke für die gesamte Lebenszeit für Gleichheit und für das Alter mindestens für Suffizienz (Seite 176).

Der Alterungsprozess hat durch biologische Veränderungen und gesellschaftliche Reaktionen Auswirkungen auf die Lebenslage kalendarisch alter Menschen. Ein Gemisch aus biologischen Veränderungen und sozialen Zuschreibungen hat statt. So könnte sich die „Wohltat“ der beruflichen Ausgliederung aufgrund nachlassender physisch-mentaler Kräfte alternder Berufstätiger in den „wohlverdienten Ruhestand“ umkehren in einen körperlich-geistigen Abbau nach der beruflichen Ausgliederung durch eben diesen Arbeitsverlust, weil Kompetenzen und Fertigkeiten nicht mehr trainiert würden. Stracke wendet sich ausführlich diesem entpflichteten, seinen Trägern in noch voller Leistungsfähigkeit zufallenden „dritten“ Alter zu, das individuell mit Aktivitäten, Sinngebung und Selbstverwirklichung gestaltet werden kann. Im Gegensatz zum meist abseits der Öffentlichkeit im Verborgenen geführten „vierten“ hohen Alter, das ab 80 Jahren mit Krankheit, Kompetenzabbau und Gebrechen einher geht (und an die einst der Fürsorge zufallenden Armuts-Alten des 19. Jahrhunderts erinnert), sind die fitten und unternehmungs-freudigen Jung-Alten direkt und eine Gutzeit nach ihrem Berufsaustritt ein Ergebnis des Rentensystems mit seiner Kaufkraft sichernden Alimentierung der Ruheständler. 

Im vierten Kapitel verfolgt Stracke die Eigenschaften und Geschichte der Rentenversicherung in Deutschland. Die deutsche Rentenversicherung hat sich von Bismarcks Zeit der Notbeseitigung mit einer Grundsicherung (zunächst vor allem bei Invalidität) mit der Dynamisierung der Renten von 1957 an mit Übergang von der Kapitaldeckung zum Umlagesystem zur Sicherung des Lebensstandards mit Schaffung einer eigenständigen, von Erwerbsarbeit entlasteten Altersphase gewandelt. Das brachte den Wechsel vom stark an der Gleichheit auf Minimalniveau aller orientierten, verhältnis-egalitaristischen Ausgleichsprinzip zum verantwortungs-egalitaristischen Äquivalenzprinzip mit aktuellen Teilhabe-Akzenten mit sich. Geschildert werden weitere Fixpunkte der Rentenreformen 1992 mit der Flexibilisierung des Rentenzugangs mit Zu- und Abschlägen, dem Übergang vom Brutto- zum Netto-Lohnbezug, den diesen Nachteil freiwillig abfedernden Ausgleich durch private, kapitalgedeckte Ergänzungen, die Anhebung des normalen Renten-Zugangs 2007 von 65 auf 67 Jahre sowie 2021 die Einführung der die geleisteten Niedrig-Beiträge hochrechnenden zusätzlichen Grundrente für langjährig Versicherte (vgl. hierzu: Rezension vom 8.1.2021 unter https://www.socialnet.de/rezensionen/​27869.php.) Im Anschluss an diesen seinen historischen Gang durch die Wandlungen der deutschen Rentenregime wirft der Autor drei Fragen auf: Ob die kalendarische Altersgrenze Altersarmut vermeidet, inwieweit sie die Familien entlastet und ob sie die Probleme des demografischen Wandels zu lösen vermag. Noch vermeide die Rente derzeit Altersarmut, weil Rentner überwiegend in Wohneigentum lebten und Ressourcen neben ihrer Rente hätten; künftig schwächten sich die Normal-Arbeitsverhältnisse als Renten-Grundlage aber ab. Die Familien der Rentner würden vor allem bei Pflegebedürftigkeit letzterer stark belastet. Die Generationengerechtigkeit käme bei steigender Lebenserwartung und schwindenden jüngeren Erwerbstätigen unter Druck; dies sei nur lösbar mit weiter steigenden Staatszuschüssen in die Rentenversicherung, höheren Rentenbeiträgen und/oder Hinaufsetzen des Renten-Zugangsalters.

Die Zulässigkeit von Altersgrenzen im Rentensystem diskutiert Kapitel fünf unter moralphilosophischen und sozialpolitischen Gesichtspunkten. Die kalendarische Altersgrenze sei zwar pauschal und willkürlich, aber dennoch gerechtigkeits-philosophisch und sozialpolitisch zu rechtfertigen, stellt der Autor fest. Die am Ende ihres Arbeitslebens Stehenden würden problematische Leistungsbeurteilungen zur Entscheidung über Verbleib bei oder Austritt von ihrer Arbeitsstelle weniger akzeptieren als einen für alle gleichen, fixen Alters-Austritt, welchen sie als respektvoll empfinden. Für die Gesellschaft wird die kalendarische Altersgrenze auch dank ihrer Effizienz befürwortet, erbringt sie doch Planbarkeit, vermeidet individuell gefährliche Sorglosigkeiten und ermöglicht das für ältere, langjährig Tätige sie absichernde Senioritätsprinzip. Der Gleichheit genüge die kalendarische Altersgrenze sowohl verhältnis-egalitaristisch, da sie die Lebensleistung anerkenne, als auch verantwortungs-egalitaristisch, da sie materiell suffizient sei. Dieses Zusammenfallen von Verhältnis- und Verantwortungs-Egalitarismus begünstigt ex post jedoch gesunde Gutverdienende. Da sich Beitrags-Differenzierungen ex ante in einer Versicherung verbieten, könnte hier nur eine Flexibilisierung des Rentenzugangs mit freiwilliger Weiterarbeit einen Ausgleich erbringen.

Als Fazit stellt Kapitel sechs die grundsätzliche Bejahung der kalendarischen Altersgrenze fest. Die jedoch flankiert werden könnte von begleitenden Maßnahmen. Denn der mit dieser Altersgrenze verbundene Ausscheide-Zwang verschleudere kollektives Humankapital und individuelle Autonomie. Die Austritts-Grenze sollte daher in ihrer Bedeutung abgeschwächt und flexibilisiert werden und individuell nicht in jedem Fall erzwungen und nicht ausschließlich vollzeitig praktiziert werden (sondern auch teilzeitige Weiterarbeit ermöglichen). So gibt es Gründe gegen die kalendarische Altersgrenze, nur genügen diese nicht dazu, um auf sie zu verzichten. Diese Gründe sind zwar verantwortungs-egalitaristisch problematisch, aber können proportionale Gleichheit und Respekt beinhalten. Zu denken wäre bei stärkerem Gesundheitsschutz im vorgerückten Erwerbsalter an eine höhere Ausscheide-Flexibilität mit Zu- und Abschlägen bei der Rente. Für Leistungsfähige und -willige sollten Arbeitsplatz-Verbleib ausgeweitet, für Überlastete gesenkt werden.

Diskussion

Die Untersuchung der kalendarischen Altersgrenze im deutschen Rentensystem verfolgt anhand der Egalitarismus-Diskussion sehr differenziert die möglichen Positionen zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit. Um bei einem meist lebenslangen Arbeitsverlauf auf eine als ungerecht empfundene arithmetische Gleichheit als Zuteilungs-Maß für die Rente zu verzichten, kommen verhältnis-egalitaristische und verantwortung-egalitaristische Voraussetzungen ins Spiel. Damit gewinnen sowohl die Anerkennung der Lebensleistung der zu Berentenden als auch ihre Vorleistungen an Bedeutung. Da die Argumentation Größen wie Glück, Zufall und individuelle Anstrengung für die Zurechnung ausschließt, kommt als Zurechnungsmaß unter Verhältnis-Egalitarismus zuvörderst die Erwerbsarbeits-Präsenz in Betracht. Die erwerbsbiografische Lebensleistung gebietet also die Rentenleistung. Ihre Höhe darf verantwortungs-egalitaristisch nach Vorleistungen (Äquivalenzprinzip) differieren, wobei nicht nur die mannigfachen Ausgleiche wie Ausfall-, Ersatz-Zeiten und Hochrechnung von Minimallöhnen geschildert werden, sondern auch die Projektionen auf den gegenwärtigen Lebensstandard zurzeit der Rentenzahlung mittels Dynamisierung dargelegt werden. Durch diese Implikationen sieht Elmar Stracke die deutsche Rentenversicherung von einer Versicherung zur Versorgung bzw. Fürsorge mutieren. Die jährlich in sie fließenden Staatszuschüsse geben ihm da recht.

Die Zukunftslasten mit Ausweitung der Rentenbezugs-Zeiten durch steigende Lebenserwartung und abnehmende Zahl der aktiv arbeitenden Rentenversicherten verschärfen diese Finanzierungs-Problematik noch. Hierzu kann sich der Verfasser eine Flexibilisierung der Altersgrenze in ein höheres Zugangsalter vorstellen, wenn die Altersgrenze nicht gesetzlich für alle angehoben werden muss. Für diese Anhebung plädiert er bereits zum jetzigen Zeitpunkt auf freiwilliger Basis, weil er den ihm unsympathischen Ausscheidungszwang kollektiv für eine Verschleuderung des Humankapitals hält und individuell als ein vorzeitiges Erschlaffen der Vitalkräfte der beruflich Entpflichteten ansieht. Diese Konstellation schildert er in seiner Problematisierung der kalendarischen Altersgrenze wesentlich nachhaltiger in seiner Orientierung an den gebildeten und gesunden älteren Arbeitskräften als den umgekehrten Fall der wegen Arbeits-Überlastung vorzeitig über die Erwerbsunfähigkeit oder die Arbeitslosigkeit Ausscheidenden. Diese vorzeitige Überlastung Benachteiligter ist in seinen Darlegungen weit weniger illustriert.

In seiner Abneigung gegen die erzwungene Zur-Ruh-Setzung diskutiert der Verfasser auch die Frage der Altersdiskriminierung durch das kalendarische Alter im Vergleich zu sexueller und zu rassischer Diskriminierung, räumt aber die Unvergleichbarkeit ein, weil Alter ein universell allen naturgegebenes Kontinuum im Lebensablauf sei und nicht so Gesamtbevölkerungs-teilig wirke wie Frau oder Farbigkeit.

Wiewohl Stracke die kalendarische Altersgrenze in ihrer Willkür durch ihre Gleichbehandlung und durch ihren Alters-Respekt und mit ihrer Funktion der Planbarkeit für legitim hält, knüpft er an sie diverse Fragen, die doch abseitig auf Neben-Schauplätze führen: Noch vermeide die gegenwärtige Altersgrenze durch andere Ressourcen neben der Altersrente nennenswert Altersarmut, die Familienangehörigen der Altersrentner sähen sich aber durch Pflegebedürftigkeit der Rentner großen Herausforderungen ausgesetzt und zur künftigen Lösung der demografischen Verwerfungen dürfte das Normal-Arbeitsverhältnis, auf dem die Rentenversicherungs-Pflicht basiere, nicht weiter ausgehöhlt werden.

Die Herleitungen zur Angemessenheit des deutschen Rentensystems und seines Zugangs-Alters mit den Gerechtigkeitsarten Verhältnis-Egalitarismus und Verantwortungs-Egalitarismus sowie mit den Prinzipien wie Prioritarisierung und Suffientarisierung sind natürlich Definitionssache. Damit gerät manche der Kategorisierungen im geschichtlichen Abriss von Teil vier in Abhängigkeit von diesen Vor-Definitionen. Merkwürdigerweise machte Stracke um die für die Begriffe Verantwortungs-Egalitarismus und Äquivalenz-System vielfach übliche synonyme Benennung „Meritokratie“ einen Bogen. Ebenso könnte man die Näherungen des Autors zur Erscheinung des Alters in Teil zwei statt „Philosophie des Alters“ schlicht und ergreifend mit der Überschrift „Gerontologie“ benennen.

Etwas breit und damit ermüdend lesbar machen sich die Kapitel zu den Finanzierungs-Systemen (Eigenbeiträge, Umlage, Steuern, Kapitaldeckung, eigener Nachwuchs, Bedarfs-/​Leistungsprinzip, Dynamisierung, Seiten 212 bis 224) und zu den Ausscheide-Grenzen (mit dem Beispiel der amerikanischen Flugbegleiterinnen, Seiten 224 bis 235) bemerkbar. Ebenso länglich mögen Lesende Strackes Darlegungen zu den denkbaren Leistungs-Tests vor dem Ausscheiden (Seiten 276 bis 281) und des Senioritäts-Prinzips mit Lazear-Verträgen (Seiten 289 bis 298) empfinden.

Bei der Unterscheidung des durch die Renten-Statuierung neu entstandenen dritten (bis zu rund 80 Jahren „jungen“ ) vom vierten (Pflege-)Alter (jenseits der 80 Jahre) hätte Stracke auch auf dessen immer noch mögliche Produktivität nach Andreas Kruse mittels vorbildhafter Verlust-Verarbeitung und Gerotranszendenz dieser Hochaltrigen verweisen können. Hierher hätte dann auch der Hinweis auf das Gebrechlichkeits-/​Krankheits-Paradoxon (Seite 203) gehört.

Auf gefährliches Terrain begibt sich Stracke mit seiner Diskussion der Einschränkung der medizinischen Versorgung nach der Vollendung einer „fairen Lebenszeit“ der alten Menschen zugunsten der Jüngeren (Seiten 162 ff.) sowie der Beschränkung der Ressourcen im Alter auf Suffizienz, um „Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen besser“ zu erfüllen (Seite 176).

Ein Ursache-Wirkungs-Austausch könnte bei der Einführung der Invaliden- und Alterssicherung 1889 durch Bismarck erblickt werden: Nicht nur der gesundheitliche Abbau der deutschen (und vielfach polnischen) Industriearbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert (die der Verfasser merkwürdigerweise nur mit einer Schrift Alfred Webers erst von 1912 belegt) mag Bismarck dazu bewogen haben, sondern die Ermöglichung der geografischen Mobilität (Ost-West-Wanderung der Arbeiter) durch Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie mit ihrer bis dato ausgeübten Sicherungsfunktion und der „Scholle“ mit ermöglichendem Neben-Erwerb neben dem Lohnarbeitsverhältnis. Selbst wenn das Hauptaugenmerk bei Einführung der Rentenversicherung die Invalidität gewesen sein mag, so ermöglichte ihre finanzielle (statt verwandtschaftlich-tätiger) Absicherung den Arbeitenden ihren weiteren Verbleib am neuen Arbeitsort und förderte damit ihre geografische Mobilität.

Der Einschätzung, alte Menschen seien keine in der Gesellschaft wirkmächtige Gruppe (Seite 150), kann so angesichts vieler einflussreicher Seniorengruppen nicht gefolgt werden. Es gibt viele Gruppen und Initiativen, in denen sich alte Menschen gerade auch politisch artikulieren und mitbestimmen (Seniorenbeiräte, Alteninitiativen, Graue Panther, Altenclubs, BAGSO Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, organisierte Partei-Senioren).

Typografisch ist die Gliederung der Abhandlung über die kalendarische Altersgrenze optisch eingängig sichtbar gemacht. Die erfreulich wenigen direkten Textzitate sind leider in zu kleiner Schrift eingebracht. Auch die Skizzen (etwa zum körperlichen und geistigen Abbau im Alter) sind auf relativ engem Raum ebenfalls klein geraten (Seiten 198 bis 204). Das relativ stabile Wohlbefinden im Alter soll wohl eher von Abbildung 6 statt von Abbildung 5 (wie auf Seite 203 unten genannt) abgebildet werden. Schreibfehler waren zu entdecken auf Seiten 278 Zeile 17 (es fehlt nach Insbesondere „sind“), 280 Zeile 27 („Führungseben-e“), 327 unterste Zeile („verpflich-te-ten“), 328 Zeile 19 („diskriminierungsfreie-n“) und Folgezeile (nur einmal „sogar“).

Fazit

Zur kalendarischen Altersgrenze gibt es im deutschen Rentensystem aus Gleichheits- und Gerechtigkeitsgründen keine Alternative. Elmar Stracke legt dafür umfassend gerechtigkeitsphilosophisch und sozialpolitisch ermittelte Begründungen vor. Natürlich mag diese gegenwärtig bei einem Alter von 67 Lebensjahren fixierte Grenze aus Opportunitätsgründen dereinst nach oben gerückt werden. Der Autor plädiert aber jenseits einer Fixierung für alle bereits jetzt für eine sowohl altersmäßige als auch arbeitszeitliche freiwillige Flexibilisierung nach oben. Er sieht darin individuelle wie auch gesamtgesellschaftliche Vorteile.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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ISSN 2190-9245